Entnommen aus Politische Berichte Nr. 10/2016

 

(pb.red) Von den drei geteilten Gewalten hat die Exekutive breiteste Öffentlichkeit, die Legislative kommt dann und wann vor, die Judikative hingegen bleibt weitgehend Sache der Fachleute. Dieser Zustand ermöglicht es, politische Strategien und Absichten dem Publikum als rechtlich geboten zu präsentieren. Diese Tendenz der Instrumentalisierung der Justiz durch Exekutive und Parteien zwingt die politische Öffentlichkeit, sich mit der Rolle der Justiz im modernen Staatswesen zu beschäftigen und Debattenangebote aus der Justiz an die Öffentlichkeit wahrzunehmen. PB-Leser Joahnnes Kakoures war beim Juristentag, der vom 13. bis 16. September in Essen stattfand, und berichtet.

Guter Anfang: Deutscher Juristentag 2016 kritisiert Entwicklung in der Türkei und warnt vor AfD

Hochgradig politisch wurde der Juristentag 2016 in Essen eröffnet. Schon bei der üblichen Begrüßung der anwesenden oder zumindest in der Anwesenheitsliste stehenden Honoratioren betonte Prof. Dr. Thomas Mayen., Präsident des 71. Deutschen Juristentages, die Notwendigkeit einer unabhängigen Justiz. Er wies darauf hin, dass der Juristentag 2016 in politisch unruhigen bis beunruhigenden Zeiten stattfände und erinnerte daran, wie schnell sich die Eurokrise, die Zunahme der Flüchtlinge, der Brexit und schließlich der Putsch in der Türkei in der medialen Aufmerksamkeit abgelöst hätten. Jede dieser Fragen für sich würde schon eine erhebliche Herausforderung für den Rechtsstaat darstellen. Dies spiegele sich auch im Programm des Juristentages: während es bei der Planung bereits absehbar war, dass es Sinn mache, über die Flüchtlingsfrage zu diskutieren, konnte der Brexit nur durch eine eilig organisierte Sonderveranstaltung thematisiert werden. Hinsichtlich der Türkei schließlich hat das Präsidium des Juristentages eine Stellungnahme verfasst. Man sehe sich hier in der Verantwortung, da die Türkei nicht irgendein Staat sei, sondern über die hier lebenden Türkinnen und Türken, vor allem aber auch durch die Unterzeichnung der EMRK durch die Türkei und ihre Beitrittsverhandlungen mit der EU eine enge Verbindung bestehe. Kritisiert wurden insbesondere die Entlassung von 80000 Menschen aus dem Staatsdienst, die Inhaftierung weiterer zehntausender Personen, ohne dass ein Nachweis der Beteiligung oder sonstige Haftgründe vorlägen. Die Diskussion über die Einführung der Todesstrafe verschärfe die Sorge, dass die legitime Abwehr des Putsches um der Preis der Rechtsstaatlichkeit erfolge.

Heiko Maas: „Debattenhoheit nicht den Innenpolitikern überlassen

Justizminister Heiko Maas bedankte sich ausdrücklich für die Resolution und betonte, dass in den weiteren Beitrittsverhandlungen klar sein müsse, dass der Rechtsstaat keine Verhandlungsmasse darstelle. Er erinnerte sodann daran, dass der Tagungsort Essen auch die Stadt Gustav Heinemanns gewesen sein, der in Zeiten gesellschaftlichen Wandels Bundespräsident war. Just unter diese Präsidentschaft fand 1966, also vor genau 50 Jahren der 46. Juristentag das letzte Mal in Essen statt. Bei aller notwendigen Rationalität, täte ein bisschen Streit gut. Insbesondere dürfe man die Debattenhoheit nicht nur Innenpolitikern, Leitern der Sicherheitsbehörden und schon gar nicht Finanzministern überlassen. Er sei sich sicher, dass auch dieser Juristentag wieder sehr lebendig und politisch werde, wofür schon die hochaktuellen Themen sprechen würden. Maas betonte, dass in den 60er und 70er Jahren bei aller Modernität nicht alle Probleme gelöst worden seien. Derzeit arbeite sein Ministerium an einem Gesetzesentwurf, der die Rehabilitierung aller wegen Homosexualität verurteilen Männer ermöglichen werde. Dabei sei das Argument der Rechtssicherheit keineswegs übersehen worden, sondern man habe intensiv geprüft und diskutiert. Eben deswegen sei es so lange zu keinem Ergebnis gekommen. Nun werde der Entwurf aber im Oktober in den Bundestag eingebracht werden. Eine weiteres Thema, das beim Juristentag von der Strafrechtsabteilung diskutiert wurde, ist die Öffentlichkeit des Verfahrens. Hier erarbeite das Ministerium gerade einen Entwurf, der es den Obersten Bundesgerichten erlauben werde, zur Urteilsbegründung das Fernsehen zuzulassen.

In diesem Zusammenhang würdigte Maas die am Wochenende verstorbene ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts Jutta Limbach (eine von wenigen jemals im Gespräch befindlichen KandidatenInnen, die ich gerne als Bundespräsidentin gehabt hätte), die als erste eine Pressesprecherin für das Gericht angestellt, einen Tag der offenen Tür eingerichtet und das Fernsehen zur Urteilsverkündung zugelassen hatte.

Er wies darauf hin, dass die sog. Rosenberg-Kommission, die die Kontinuität des Bundesjustizministeriums in der Nachkriegszeit erforscht hatte am 10. Oktober ihre Ergebnisse veröffentlichen werde. Allerdings sei es sehr einfach, sich heute darüber zu empören, dass nicht energisch genug durchgegriffen worden sei. Dies gehe an den aktuellen Herausforderung vorbei. Er sehe eine große Gefahr für den Rechtsstaat durch Autokraten, Populisten, aber auch „mutlose Demokraten“. Weltweit seien die Minderheiten wieder ins Visier geraten, wie man an Gestalten wie Trump oder Orban in Ungarn sehe. Aber auch Deutschland sei mit zunehmender Gewalt und Hass konfrontiert. Dagegen brauche es Juristen „mit Ethos“. Juristen seien besonders geeignet, eine Stimme der Vernunft zu sein.

Thomas Kutschaty: Das fragwürdige Programm des AfD

Der Justizminister des Landes Nordrhein-Westfalen Thomas Kutschaty ging in eine ähnliche Richtung. Er erinnerte noch intensiver an den 46. Juristentag in Essen, der als erstes die Rolle der Justiz in den Jahren 1933-45 thematisiert hatte. Er sehe das Risiko einer globalen Erosion des Rechtsstaates, wie nicht nur die Entwicklungen in der Türkei zeigten. Auch in Deutschland sei es keineswegs so, dass der Rechtsstaat uneingeschränkte Akzeptanz genieße. Dies sehe man eben nicht nur an den Wahlerfolgen der AfD, sondern auch daran, dass einige in der öffentlichen Debatte statt der notwendigen „harten Kante“ versuchen würden den „Feinden der Freiheit“ hinterherzurennen, was diese nur aufwerten, nicht jedoch schwächen würde. Er zitierte Punkte aus dem Programm der AfD, das u.a. behaupte, dass der Rechtsstaat in Deutschland gar nicht mehr existiere, weswegen er „wiederhergestellt“ werden müsse. Die „Zuverlässigkeit“ der Justiz sei wieder zu gewährleisten. Ferner solle z.B. bei dringendem Tatverdacht auf ein Verbrechen Untersuchungshaft ohne weitere Haftgründe angeordnet und die Strafmündigkeit auf 12 Jahre herabgesenkt werden. Er richte diese klaren Worte an ein Fachpublikum, weil der Rechtsstaat gerade offen angegriffen werden.

Thomas Kufen: Essens erfolgreiche Wandlungen

Etwas andere Akzente setzte Thomas Kufen, Oberbürgermeister der Stadt Essen, der auf die Geschichte der Stadt als eine der ältesten Siedlungen im Ruhrgebiet, älter auch als Berlin und München, einging. Er schilderte Essen bis zur Industrialisierung als Siedlung, in der man zwar mit der goldenen Madonna die älteste, vollplastische Frauenfigur des Abendlandes gehabt habe, ansonsten jedoch eher beschaulich gelebt habe. Dies habe sich schlagartig verändert. Rasant sei Essen, unter anderem durch die Geschäfte der Familie Krupp, zur größten Montanstadt Europas aufgestiegen, was das Stadtbild bis zum nächsten, tiefgreifenden Strukturwandel wesentlich geprägt hatte. Der Strukturwandel zwang viele dazu, neue Wege zu gehen, und dies sei in Essen auch getan worden und gelungen. Es lohne sich ein Besuch der Zeche Zollverein schon deswegen, da der dortige Doppelbock ein Symbol für den Aufstieg, den Niedergang und den Wiederaufstieg einer Stadt sei. Essen sei nunmehr Strommetropole, vor einigen Jahren Kulturhauptstadt gewesen und werde im kommenden Jahr Europas „grüne“ Hauptstadt. Auch um dies zu sehen, lohne sich der Besuch der Zeche.

Die Podiumsdiskussion: Verantwortung der Juristen für die Herrschaft des Rechts

Die anschließenden Podiumsdiskussion unter dem Titel „Wenn aus Recht Unrecht wird – die Verantwortung der Juristen für die Herrschaft des Rechts“ bildete eine anspruchsvolle Analyse des Versagens der Justiz in der NS-Diktatur, aber auch in der DDR, die jedoch immer den Blick auf die die heutige Situation gerichtet hielt. Prof. Dr. Bernd Rüthers, der bekannt dafür ist, dass er die These, dass es im wesentlichen der sture Rechtspositivismus gewesen sei, der die NS-Justiz ermöglicht hatte, wissenschaftlich widerlegt hat, führte seine zentrale These weiter aus. Nicht die Gesetzesbindung, sondern die Öffnung derselben durch weite Generalklauseln und verfehlte Auslegungsgrundsätze seien das entscheidende Merkmal der NS-Justiz gewesen. Auch heute sei eine Diskussion über die eigenen Methoden notwendig. Prof. Dr. Safferling stellte sehr knapp erste Ergebnisse der Rosenberg-Kommission vor. Prof.Dr.Dr. Schröter ging vor allem auf die Situation in der DDR ein. Besonders deutliche, wenn auch im Hinblick auf eine moralische Verurteilung Einzelner sehr vorsichtige, Worte fand die Präsidentin des Bundesgerichtshofes Bettina Limperg. Hatte Rüthers etwa noch darauf hingewiesen, dass jede „revolutionäre“ Situation die „staatsnahen Berufe in einen rauschhaften Zustand“ versetze, da man ja Posten behalten müsse oder Karriere machen wolle, bestritt Limperg, dass es sich beim Verhalten der Justiz bei der NS-Diktatur nur um einen „Sog des Neuen“ gehandelt habe. Dazu sei die Inhalte viel zu brutal und diese Brutalität auch früh genug bekannt gewesen. Es müsse also mehr dahinter stecken. Sie selbst sei bei ihren Recherchen immer wieder erschrocken gewesen, „wie früh und wie freiwillig“ die Juristen ihre Unterwerfung unter die NS-Ideologie erklärt hätten. Sie könne jedoch nicht sagen, wie sie sich in ähnlichen Situationen verhalten würde. Sie glaube nicht, dass sich Geschichte einfach wiederhole, deswegen sei es schwer vorab zu beurteilen, welche Maßnahmen zur Vorbeugung ergriffen werden müssten, und überhaupt zu erkennen, wo die Gefahren liegen. Sie sehe allerdings in einer „Kombination aus Nationalismus und Angst eine gefährliche Mischung“.

 

„Die Integration unterliegt nicht der Steuerungsfunktion des Rechts, sondern der Gesellschaft“ – Abschlussveranstaltung des Juristentages sieht keinen „Kontrollverlust“

Die Behauptung, dass die sogenannte Flüchtlingskrise eine Krise des Rechtstaates an sich sei, wird nicht nur von der AfD, die den Rechtsstaat als bereits abgeschafft und wiederherstellungsbedürftig begreift, behauptet. Auch die CSU und Politiker aus anderen EU-Staaten, etwa Österreich und Ungarn, haben sich zu der Behauptung verstiegen, die Aufnahme einer Vielzahl von Menschen durch die BRD sei nur durch massenhaften Rechtsbruch möglich gewesen. Mit einem durchaus spannend besetzten Podium versuchte der Deutsche Juristentag in seiner Abschlussveranstaltung zu klären, was an diesem Vorwurf dran ist. Die vielleicht wichtigste Erkenntnis: es ist möglich, das Thema kontrovers und trotzdem sachlich zu debattieren.

Hat das Recht überhaupt eine Steuerungsfunktion?

Moderator Juristentagspräsident Mayen fragte denn auch Innenminister de Maizière direkt, ob das Recht in seiner Steuerungsfunktion bei der Flüchtlingsfrage versagt habe. De Maizière bestritt darauf hin erst einmal, dass das Recht überhaupt eine „Steuerungsfunktion“ habe. Das Recht habe wohl eine Ordnungs-, und Begrenzungsfunktion, gesteuert werde jedoch nach wie vor vom Willen des und der Einzelnen. Er wolle mit dieser These lediglich zur „Demut der Juristen“ beitragen, nicht aber der Frage ausweichen. Dennoch sei eher zu fragen, ob von einem Kontrollverlust oder zumindest Vollzugsdefizit gesprochen werden kann. Ersteres wäre nicht hinnehmbar. Ein Vollzugsdefizit sei hingegen für Juristen keinesfalls etwas Ungewohntes. Jeder wisse, dass innerorts 50 km/h pro Stunde erlaubt seien und jeder wisse auch, wie viele sich daran halten und wie viele erwischt werden. Ähnliches kenne man aus dem Straf- und Steuerrecht. Die Frage sei daher, ob es sich um ein mehr als ein Vollzugsdefizit handeln würde. Auch diese Frage sei aber mit Nein zu beantworten. So wolle er insbesondere der oft gehörten These entgegen treten, „ein Staat müsse wissen, wer über seine Grenze komme“ – oft verknüpft mit der Behauptung, „sonst sei er gar kein Staat mehr“. Eben dies sei unter dem Schengen-System eben nicht Rechtslage. Auch der spanische Staat wisse nicht, welcher Deutscher als Tourist einreise. Die Unkenntnis sei also Alltag. Unabhängig von der Frage der Einreise sei klar, dass jeder Rechtsstaat an seine Grenzen komme, wenn sich in einem bestimmten Bereich auf einmal Zahlen vervielfachen. Angesichts dessen, wie schnell und unerwartet und wie hoch die Zahlen der Schutzsuchenden angestiegen seien, müsse man aber eher davon sprechen, dass man dies gut gemacht habe. Hinsichtlich der Dauer der Asylverfahren habe er vor kurzem mit seinem schwedischem Amtskollegen gesprochen, der mit Verfahrensdauern von im Schnitt ein bis eineinhalb Jahren zu kämpfen habe. Anders als hier gäbe es in Schweden nur geringfügige Debatten darüber. Der schwedische Innenminister habe dies damit erklärt, dass man klar kommuniziert habe, dass man in einer Sondersituation sei, jedoch deswegen keine neuen Verwaltungsstellen schaffen wolle. Dies sei akzeptiert worden. Damit wolle de Maizière nicht die schwedische Verfahrensdauer für gut heißen, sondern lediglich zur „Vorsicht mit bestimmten Vokabeln“ mahnen.

Prof. Dr. Norbert Meyer vom Niedersächsischen Landkreistag bestätigte zwar, dass man eine Tendenz habe, „Krisen groß zu reden“ und von einem Vollzugsdefizit die „Welt nicht untergehe“. Er beurteile die Situation im vergangenen Jahr dennoch kritischer. So sei die Einreisewelle nicht nach Schengen-Kriterien zu beurteilen gewesen, was man auch damals bereits gewusst habe. Es habe Tage gegeben, an denen allein in Niedersachsen im Schnitt bis zu 10000 Menschen angekommen sind und entsprechend zu versorgen waren. Unterkünfte seien teilweise über Nacht herzurichten gewesen und das „Easy“-Verfahren zur Erstverteilung der Flüchtlinge sei erst pünktlich zur Eröffnung des Juristentages am vergangenen Dienstag abgeschlossen worden.

Richter am Bundesverfassungsgericht Ulrich Maidowski betonte, dass er immer misstrauisch werde, wenn mit „Parolen“ gearbeitet werde und beim angeblichen „Verlust der Steuerungsfunktion des Rechts“ handele es sich um nichts anderes als eine Parole. Das Schlagwort werde vor allem von „Vereinfachern“ – auch unter Juristen – verwendet. Aus Sicht eines Richters störe ihn das beständige Denken in Gruppen: „die Syrer, die Flüchtlinge“. Er habe Menschen vor sich und Einzelfälle zu entscheiden. Dafür brauche man vor allem Zeit.

Auch Katharina Lumpp, Vertreterin des UNHCR in Deutschland sieht die gegenwärtige Situation nicht als eine Krise des Rechts sondern der mangelnden Solidarität der Staaten. Sie betonte, dass das Dublin-System ein Selbsteintrittsrechts ausdrücklich festgeschrieben habe, d.h. jeder Staat hat grundsätzlich das Recht jemanden aufzunehmen, wenn er sich aus welchen Gründen auch immer – i.d.R weil der Schutz in anderen Ländern nicht hinreichend gewährleistet ist – zuständig fühlt. Man habe auch eine Krise der Verantwortungsteilung. So hätte in der gesamten Debatte niemand den Schutzbedarf der Ankommenden in Frage gestellt, auch nicht Ungarn oder Österreich. Die Konflikte bestünden ausschließlich bei der Aufnahme. Und hierbei wiederum hätte die EU keinesfalls überfordert sein müssen. Man rede von einer Million Menschen, die einem Gebiet mit 500 Millionen Einwohnern Aufnahme gesucht hätten. Die Zahlenverhältnisse in einem Land wie Jordanien seien ganz andere. Generell müsse man erneut darauf hinweisen, dass Flucht und Vertreibung global beständig zunehmen. Das UNHCR gehe von 65 Millionen Betroffenen aus. Allerdings handelt es sich bei zwei Dritteln davon um Binnenflüchtlinge und auch vom Rest blieben die allermeisten in Ländern in der Region. Eine Krise habe man also vielmehr inhaltlich, indem der Zugang zu Bildung und zum Arbeitsmarkt nicht hinreichend gewährleistet ist. Man müsse auch insofern nicht von einer Krise des Rechts, sondern einer Krise der Verantwortung sprechen.

„Auch bei scheinbaren Musterländern erst einmal zuhören“

Dies veranlasste Mayen zur nächsten Frage, wie denn die Verantwortung von der Lumpp gesprochen hatte, wahrnehmen zu sei. De Maizière wies zunächst darauf hin, dass man derzeit an einer grundlegenden Reform des EU-Asylsystem arbeite. Dies solle als Verordnung, also unmittelbar geltendes und nicht erst umzusetzendes Recht, geregelt werden. Hier seien vor allem Fragen der sogenannten „Sekundärmigration“ zu klären, also was passiert, wenn jemand der Tschechischen Republik zugewiesen wird, aber nach Deutschland kommen will. Es sei bekannt, dass in den verschiedenen Ländern unterschiedliche Unterstützungsniveaus aber auch unterschiedliche Beurteilungsmaßstäbe bei der Anerkennung herrschen. In diesem Zusammenhang konnte er sich einen Seitenhieb auf das BVerfG nicht verkneifen: ihm sei dessen Rechtsprechung zum Existenzminimum von Asylbewerbern wohl bekannt, er sei aber gespannt, wie Karlsruhe entscheiden werde, wenn man ein EU-weit einheitliches – also wohl niedrigeres – Niveau festlege. Für das Versagen des Dublin-Systems machte er im Wesentlichen die Zustände in Griechenland verantwortlich. Es könne nicht sein, dass man „von der Last der Anwendung des EU-Rechts dadurch befreit werde, dass man Flüchtlinge besonders schlecht behandelt“. Er sehe derzeit keine Mehrheit dafür, dass alle Schutzsuchenden verteilt würden, also müsse einer am Ende entscheiden, wohin mit den Menschen. Die Hauptlast werde daher bei den Erstaufnahmeländern bleiben. Die EU-Kommission hat daher ein Verfahren vorgeschlagen, dass eine Verteilquote dann Anwendung finden soll, wenn ein Aufnahmeland erkennbar überfordert sei. Noch besser sei ein System, in dem schon außerhalb der EU – etwa in Zusammenarbeit mit dem UNHCR – entschieden werde, wer komme. Er wisse, dass auch dieses System „seine Härten habe“, es könne aber nicht sein, dass, wie gegenwärtig, kriminelle Schlepperbanden darüber entscheiden, wer es nach Europa schafft.

Maidowski erklärte, dass er wohl misstrauischer sei und nannte als Beispiel die Diskussion über die Türkei als sicheren Herkunftsstaat, eine Frage, die er auch mit verschiedenen Mitgliedern der EU-Kommission diskutiert habe. Die Türkei als sicheres Herkunftsland zu bestimmen sei eine rein politische Festlegung gewesen. Man müsse mit der Situation in diesem Land aber sehr vorsichtig sein. Selbst bei Familien aus scheinbaren Musterländern sei es seine Aufgabe als Richter erst einmal zuzuhören. Er könne als Richter auch nicht eine Familie mit kleinen Kindern im Herbst nach Italien abschieben, wenn er genau wisse, dass das selbst in diesem Land die Abschiebung in die Obdachlosigkeit bedeute. Es handelte sich um einen konkreten Fall, bei dem jedoch keinerlei Chance bestand, den Aufenthaltstitel zu erlangen. Letztlich habe er den Kompromiss gefunden, die Beschwerde der Familie zwar abzuweisen, jedoch die Vollstreckung so lange auszusetzen bis die Behörde den Nachweis einer Wohnung vorliegen habe. Richter bräuchten diesen Spielraum ohne dass es gleich heiße, „wir würden das System kaputt machen“.

Auch Lumpp forderte dringend trotz sicherer Herkunftsstaaten bei Einzelfallentscheidungen zu bleiben. Bei der vermuteten Sicherheit handelt es sich eben nur um eine rechtliche Vermutung, die widerlegbar bleiben müsse. Letztlich gelte weiterhin der Amtsermittlungsgrundsatz.

Obergrenzen? – Bei der Prüfung nicht zuviel Arbeit machen…

Mayen nahm das Stichwort des Einzelfalles auf, um nach dem wahrscheinlichen genauen Gegenteil zu fragen, nämlich dem Schlagwort der Obergrenzen. Maidowski – zu richterlicher Zurückhaltung ermahnt – äußerte sich vorsichtig. Er wisse schon gar nicht, um welche Form von Obergrenzen es überhaupt gehe. So seien grundsätzlich zwei Arten denkbar, namentlich eine Obergrenze für die Zahl an Schutzgewährungen oder aber für die Einreise. Er erinnerte daran, dass gegenwärtig von 40 000 Entscheidungen des BAMF über 60% eine Anerkennung gewähren würden. Unter Berücksichtigung der Ermahnung zur Vorsicht, könne er nur grob skizizeren, was er seinen Mitarbeitern raten würde, wenn der Fall zur Entscheidung ans BverfG käme. Wahrscheinlich wäre es die Aufforderung, sich nicht zuviel Arbeit mit dem Thema zu machen, da beide Formen letztlich durch internationales Recht determiniert seien. Die entsprechenden Vereinbarungen seien von der BRD ohne Vorbehalt angenommen. Es gelte daher „ultra posse nemo obligatur“ – was nicht geht, das geht nicht. Es werde eine vollkommen überflüssige Diskussion für den Stammtisch geführt.

Anders äußerte sich Meyer. Die Kommunen bräuchten dringend Entlastung. Für ihn sei klar, dass wenn die Situation aus dem letzten Winter noch ein bis drei Monate angehalten hätte, man das Thema hier nicht so „entspannt“ diskutieren könne, vielleicht sei sogar die Gruga-Halle gar nicht nutzbar. So wurden etwa in der Messe Hannover Flüchtlinge einquartiert. Das Problem an der Obergrenze sei eher, dass es sich um ein Signal handeln würde und sich diese heutzutage schnell verbreiten. In diesem Fall wäre es das Signal: „jetzt aber schnell!“. Es sei die Außenpolitik gewesen, die das Problem geregelt habe. Bei aller Kritik an der Türkei, etwa durch die Resolution des Präsidiums des Juristentages, dürfe man nicht vergessen, dass diese drei Millionen Flüchtlinge aufgenommen habe.

De Maizière wollte sich aus parteipolitischer Zurückhaltung nicht zu intensiv äußern. Jeder wisse, dass das Thema in der Union höchst umstritten sei, und es sei nicht angebracht, durch eine Äußerung auf dem Juristentag die Diskussion weiter anzuheizen. Er meinte, man hätte die Diskussion gar nicht, wenn man sich mit der SPD auf sogenannte Transitzonen hätte einigen können. Er stimmte Meyer zu, dass die Begrenzung auf eine bestimmte Zahl wohl einen Sogeffekt haben würde. Er sei zwar für eine Begrenzung des Zuzuges. Dies sei jedoch nicht identisch mit Obergrenzen. Hinsichtlich der Situation im Mittelmeer meinte de Maizière, es gäbe zwar einen Anspruch gerettet zu werden, aber nicht zwingend nach Europa.

Lumpp betonte, dass das Völkerrecht Obergrenzen nicht kenne, wohl aber einen Grundsatz des Non-refoulement, wonach niemand in unmittelbare Gefahr zurückgeschickt werden dürfe. Sie plädierte erneut für eine Verantwortungsteilung: trotz des EU-Türkei-Abkommens dürfe nicht der Eindruck entstehen, die EU nähme niemanden mehr auf. Die Flüchtlingszahlen aus Syrien seien derzeit eher am Ansteigen. Sie kritisierte, dass für das Resettlement-Programm des UNHCR, ein Programm, bei dem aus Krisengebieten besonders schutzbedürftige Menschen direkt in sichere Staaten gebracht werden, nur acht bis zehn Prozent der weltweiten Plätze von der EU gestellt werden. Dies sei nicht das, was die EU an Möglichkeit hat. Als de Maizière das Programm lobte und betonte, dass hier die UNHCR-Mitarbeiter schwerste Arbeit leisteten und unter eigener Lebensgefahr unter einer Vielzahl an Schutzbedürftigen die besonders Gefährdeten recherchierten, dankte Lampp höflich und knapp, um sofort zu wiederholen, dass es schön wäre, wenn die Anzahl der Plätze steigen würde.

Abschiebung trotz günstiger Sozialprognose?

Mayen leitete sodann zur Neuregelung des § 60 Aufenthaltsgesetz über, wonach bereits bei einer Verurteilung zu einer Haftstrafe von einem Jahr, statt bislang drei Jahren der Aufenthalt beendet werden könne und sprach von einer „lex Köln“. Hier äußerte sich überraschenderweise de Maizière besonders kritisch. Die Herabsetzung auf ein Jahr bedeute, dass auch Bewährungsstrafen zur Beendigung führen können, eine Haftaussetzung zur Bewährung komme aber nur bei einer günstigen Sozialprognose in Betracht. Dies stehe in einem gewissen Widerspruch. Allerdings sei die Akzeptanz in der Bevölkerung nur zu erreichen, wenn grobes Fehlverhalten auch Konsequenzen habe. Es sei nicht zu viel verlangt, wenn man Schutz suche, keine Straftaten, jedenfalls keine gravierenden, zu begehen.

Wessen Aufgabe ist die Integration?

Auf die kommenden Herausforderungen der Integration angesprochen, lobte Meyer vor allem die beschlossene Wohnsitzauflage, die ein wichtiges Instrument sei, um Kommunen zu entlasten und für einige Regionen auch eine echte Wachstumschance böte. Maidowski berichtete, dass er in den Zeiten der Zuspitzung der Einreise neben vielen Verfassungsbeschwerden, die die Absetzung Merkels und die Zwangsverwaltung des gesamten Staatsapparates beantragt hatten, u.a. auch Zuschriften muslimischer Bürger bekommen habe und hob die einer Frau besonders hervor, die sich besorgt über die Entwicklung ihres Stadtteiles zeigte, da der Zuzug eines islamischen Predigers das ganze Umfeld in eine extremistische Richtung getrieben habe. Nach seiner Beobachtung „klemme es“ vor allem an der Grenze zwischen Jugend und Erwachsenwerden. In diesem Zusammenhang könne er den Begriff der günstigen oder ungünstigen „Bleibeperspektive“ nicht mehr hören. Hier werde wieder Gruppendenken über den Einzelfall gestellt und zwar zu Lasten der Gerechtigkeit.

De Maizière ging abschließend noch auf die mehrfach geäußerte Kritik von Meyer ein. Viele notwendigen Maßnahmen seien Aufgabe der Kommunen. Wie von diesen damals gefordert, wurde mit der Föderalismusreform jedoch die Möglichkeit der Aufgabenzuweisung durch den Bund abgeschafft. Es seien daher nun die Länder gefragt. Maßgeblich sei jedoch festzuhalten, dass unabhängig davon, ob das Recht eine Steuerungsfunktion habe oder nicht, diese jedenfalls bei der Integration nicht einschlägig sei. Die Integration obliege vielmehr der Gesellschaft. Gefragt seien Schulen und Sportvereine. Man solle sich auch der eigenen Stärken wieder mehr besinnen. Es könne jedenfalls nicht sein, dass – wie geschehen – darüber diskutiert wird, Martinsumzüge abzusagen, weil man selber der Auffassung sei, die könne die Gefühle von Muslimen verletzen, obwohl sich kein einziger Moslem beschwert habe.  Johannes Kakoures, München

KASTEN:

*Der Deutsche Juristentag e.V.

Der Deutsche Juristentag e.V. ist ein eingetragener Verein mit rund 7000 Mitgliedern, der Juristinnen und Juristen aus allen Teilen der Bundesrepublik, aus allen Berufsgruppen, aus allen Generationen vereint. Ziel des Vereins ist es, auf wissenschaftlicher Grundlage die Notwendigkeit von Änderungen und Ergänzungen der Rechtsordnung zu untersuchen, der Öffentlichkeit Vorschläge zur Fortentwicklung des Rechts vorzulegen, auf Rechtsmissstände hinzuweisen und einen lebendigen Meinungsaustausch unter den Juristen aller Berufsgruppen und Fachrichtungen herbeizuführen. Da der Verein keine Interessenvertretung bestimmter beruflicher oder gesellschaftlicher Gruppen ist, hat sein Wort in der juristischen Öffentlichkeit und auch für den Gesetzgeber besonderes Gewicht. Zu diesem Zweck veranstaltet der Verein seit 1860 alle zwei Jahre in einer anderen deutschen Stadt den ‚Deutschen Juristentag‘, einen Kongress mit 2.500 bis 3.500 Teilnehmern. www.djt.de/der-verein/

 

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