Nur-Text, aus:  Politische Berichte Nr. 11/2016 – KLICK zur PDF-Ansicht

 

S04 Die Türkei auf dem Weg in die Erdogan-Diktatur – Wer stellt sich dagegen?

 

M01 Ko-Vorsitzender der HDP Selahattin Demirtaş aus dem Gefängnis

M02 Nach Festnahme der Abgeordneten – Die HDP, die ­Türkei und die EU

M03 Gemeinsame Verteidigungsrede der HDP-Abgeordneten

M04 Hamburg: Erklärung der Bürgerschaftsabgeordneten

M05 SSW erklärt sich solidarisch mit prokurdischer HDP

M06 Linke-Vorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger

 

Nach dem gescheiterten Putsch treiben Erdogan und die AKP-Regierung die Abschaffung der Demokratie im Eiltempo voran. Mit der Inhaftierung der Co-BürgermeisterInnen von Diyarbakir, Gültan Kisanak und Anli Firat, und der beiden Vorsitzenden der kurdischen Partei HDP, Figen Yüksedag und Selahattin Dermitas, sowie weiterer sieben HDP-Abgeordneten haben die massiven Zwangsmaßnahmen gegen die Opposition einen neuen Höhepunkt erreicht. Ebenfalls wurden gegen die Abgeordneten der sozialdemokratischen CHP Verfahren eröffnet.

Seit dem Putsch herrscht in der Türkei der Ausnahmezustand und regiert Präsident Erdogan mit Notstandsdekreten. Die Europäische Menschenrechtscharta wurde außer Kraft gesetzt. Verhaftete können bis zu 10 Tagen ohne Anwalt und bis zu 60 Tagen ohne Vorführung vor einen Untersuchungsrichter in Gefängnissen verschwinden und sind der Willkür von Polizei und Militär ausgeliefert. Erdogan hat angekündigt, dass das Parlament die Wiedereinführung der Todesstrafe zustimmen werde.

Seither wurden etwa 150000 Staatsbedienstete entlassen, von den zwischen 40 bis 50000 in Gefängnissen einsitzen. Über 30000 LehrerInnen wurden aus dem Schuldienst entlassen, darunter ca. 20000 Mitglieder der Bildungsgewerkschaft Egitim Sen in den kurdischen Provinzen. Ein großer Teil des Schulunterrichts fällt daher dort aus. Über tausend Hochschulprofessoren, Wissenschaftler und Akademiker, die einen Aufruf für Frieden in der Türkei unterzeichnet hatten, sind aus den wissenschaftlichen Einrichtungen entfernt worden. Allen entlassenen Staatsbediensteten wurden die Pensionsansprüche gestrichen, vielen die Konten gesperrt, ihr Eigentum beschlagnahmt.

Die Reporter ohne Grenzen führen die Türkei wie in den neunziger Jahren als eines der gefährlichsten Länder für Journalisten auf. Mehr als hundert sitzen im Gefängnis. Es gibt fast keine oppositionellen oder unabhängigen Zeitungen, TV-Anstalten, Radiostationen oder Nachrichtenagenturen mehr.

Bisher wurden in den kurdischen Provinzen 44 BürgermeisterInnen der DBP ihres Amtes enthoben, die Mehrzahl von ihnen sitzt in Haft. Die Städte wurden unter Treuhänderschaft des Innenministeriums gestellt, das kommunale Eigentum beschlagnahmt. Nach den Wahlen im November wurden Städte bzw. Stadtteile völlig zerstört: Dargecit (Provinz Mardin), Derik (Mardin), Silvan (Diyarbakir), Sur (Diyarbakir), Bismil (Diyarbakir), Dicle (Diyarbakir), Lice (Diyarbakir), Yüksekova (Hakkari), Semdinli (Hakkari), Sirnak, Cizre (Sirnak), Silopi (Sirnak), Beytüssebap (Sirnak), Idil (Sirnak), Varto (Mus). Nach Aufstellung der GABB (Union der Gemeinden der Region Südostanatolien) befinden sich wieder 400000 Menschen in den kurdischen Gebieten auf der Flucht. Sie haben ihre Städte verlassen müssen, ihre Wohnungen sind zerstört.

Was soll noch alles passieren, damit die Bundesregierung und die EU statt nur mit Worten endlich handeln, ihre bisherige stillschweigende Komplizenschaft mit dem diktatorischen Regime Erdogan aufgeben?

Die Abschaffung der kommunalen Selbstverwaltung verstößt gegen die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung des Europarats von 1985, die in der Türkei seit 1993 per Gesetz in Kraft ist. Im Kongress der Gemeinden und Regionen des Europarats hat die Türkei 18 Mitglieder, darunter sind die beiden DBP-Mitglieder Serra Bucak (Stadt- und Provinzabgeordnete in Diyarbakir) sowie Aygül Bidav (gewählte Bürgermeisterin von Ipekyolu bei Van). Biday ist am 17.10.2015 amtsenthoben worden. Die Aussetzung der Europäischen Menschenrechtscharta auf unbestimmte Zeit verstößt gegen Europäisches Recht – betrifft das nicht alles Europarat, EU-Kommission, Europaparlament? Wiegen die Interessen in Syrien, Irak, Iran und gegenüber Russland sowie der Flüchtlingsdeal mit der Türkei schwerer als Demokratie und Menschenrechte? Aber bisher wurden die Verhandlungen über einen EU-Beitritt der Türkei noch nicht unterbrochen. Auch bezieht die Türkei während dieser Verhandlungen zur Umsetzung der Verhandlungsergebnisse reichliche Millionen Euro.

In der deutschen Politik hat leider schon immer der Geschäftssinn Vorrang gehabt vor Demokratie und Menschenrechten. Neben den strategischen Interessen bestimmen Handel und Investitionen die deutsch-türkischen Beziehungen: Die Türkei lag in der deutschen Außenhandelsstatistik auf Platz 14 nach vielen europäischen Staaten, den USA und China. Für 22,4 Mrd. Euro führten deutsche Firmen hauptsächlich Maschinen, Kfz und Rüstungsgüter in die Türkei aus. Damit ist Deutschland nach China der zweitgrößte Handelspartner der Türkei. Waren im Wert von 14,4 Mrd. kamen aus der Türkei nach Deutschland, im Wesentlichen Haushaltsgeräte, Obst und Gemüse.

Wird weiter nur mit halbherzigen Statements protestiert, können Erdogan und die AKP weiterhin uneingeschränkt agieren. Sollte das der Preis sein für die Stärkung der Rolle der Türkei im Mittleren Osten und gegen die Einflussnahme Russlands in diesem Raum?

Keine Waffenlieferungen an die Türkei, sofortiger Rückzug aller deutschen Soldaten aus der Türkei, Aufkündigung des Flüchtlingsdeals … Möglichkeiten Druck auf den Nato-Partner Türkei auszuüben gäbe es reichlich. Mit Diktaturen gibt es keine Geschäftsgrundlage.

Die Bundestagsabgeordneten der Linken haben Patenschaften für die HDP-Abgeordneten übernommen. Als erste Reaktion auf die Inhaftierung von Figen Yügsedag und Selahattin Dermitas fuhren die Bundestagsageordneten Martina Renner und Jan van Aken sowie die Hamburger Bürgerschaftsabgeordnete Cansu Özdemir nach Diyarbakir. Von der Linken Baden-Württemberg geht die Initiative aus, Patenschaften von hiesigen Kommunalpolitikern mit den amtsenthobenen und inhaftierten Bürgermeistern der HDP/DBP zu übernehmen. Erste Gespräche gibt es auch in DGB-Kreisen, dies für die inhaftierten Gewerkschafter zu tun.

Rudolf Bürgel

M01

Ko-Vorsitzender der HDP Selahattin Demirtaş aus dem Gefängnis

BESETZTES NORDKURDISTAN – Selahattin Demirtaş, der Ko-Vorsitzende der HDP hat eine weitere Botschaft über seine Anwälte veröffentlicht.

„Die Tatsache, dass wir und unsere Parteimitglieder des Parlaments, als Gefangene und Geisel genommen wurden, ist ein Resultat des zivilen Putsches und nicht bloß ein Angriff auf uns als Individuen. Dies ist ein neuer Schritt derer, die Stück für Stück Angriffe gestartet haben, um letztlich eine Ein-Mann-Diktatur in der Türkei zu etablieren.

Es darf keinesfalls außer Acht gelassen werden, dass diese Angriffe auf uns als Verteidiger*innen der Geschwisterlichkeit, Gleichheit, eines freien und friedlichen Lebens in unserem Land gleichzeitig ein Angriff auf alle demokratischen Kräfte ist.

Es besteht kein Zweifel, dass der einzige Ausweg der gemeinsame ist. Schulter an Schulter, was auch immer gegen solch ein Regime notwendig ist. Und somit den Kampf gegen den Faschismus auszubreiten. Wir erwarten und wünschen, dass die europäische Öffentlichkeit und die demokratischen Institutionen in Europa eine wirksame und effektive Position gegen diese Unterdrückung einnehmen.

Dieses Reich der Angst wird ohne Zweifel bald zerfallen. Wir werden unseren Kampf unter allen Umständen und unseren Glauben an eine demokratische Politik nicht verlieren. Auch wenn wir nun in Zellen sitzen, wir werden weiter Teil des Kampfes sein und aus der Freude des unendlichen Halay (Kreistanz; Anm.d.Ü.) der Freiheit Kraft schöpfen – nie vergessend, dass wir alle unter dem gleichen Himmel leben.

Ich sende liebste Grüße an alle Genoss*innen, an unsere Jugend und an unsere Frauen“.

ANF, 9. November 2016, ISKU

M02

Nach Festnahme der Abgeordneten – Die HDP, die ­Türkei und die EU

Civka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit, 6.11.2016

Die Möglichkeit, über die demokratisch Politik für die Interessen der Völker einzutreten, besteht in der Türkei nicht mehr. Das dürfte die wichtigste Erkenntnis sein, die aus den Festnahmen der neun HDP-Abgeordneten am 4. November gewonnen werden kann. Und so erklärt der HDP Sprecher Ayhan Bilgen zwei Tage später in Amed (Diyarbakir), dass seine Partei bis auf Weiteres ihre Tätigkeit im türkischen Parlament einstellen wird. „Von nun an werden wir jeden Tag an der Seite unserer Bevölkerung sein“, so Bilgen. Die Frage, ob man sich auch vollständig aus Parlament zurückzieht, werde gemeinsam mit den Wählerinnen und Wählern getroffen.

Alle zwölf HDP-Abgeordneten, die in der Nacht auf den Freitag in Gewahrsam genommen wurden, machten vor dem Haftrichter deutlich, dass sie die Legitimität dieses Gerichtes nicht anerkennen. „[…] ich akzeptiere es nicht, eine Figur in einem Justiz-Theaterstück zu werden, das auf Befehl Erdoğans errichtet wurde“, und „Allein das Volk, das mich gewählt hat, hat ein Recht mich aufgrund meiner politischen Haltung und Handlung zur Rechenschaft zu ziehen“, heißt es in der gemeinsamen Verteidigungsrede der HDP-Abgeordneten. Die Haftrichter entließen nur drei der zwölf Abgeordneten. Der HDP Kovorsitzende Selahattin Demirtas wurde mit einem Militärhubschrauber in das F-Typ Gefängnis im westtürkischen Edirne gebracht. Die zweite Kovorsitzende Figen Yüksekdağ hingegen wird im F-Typ Gefängnis von Kocaeli inhaftiert.

Internationales Aufsehen und „Bestürztheit“

Der internationale Aufschrei nach den Festnahmen am Freitag war groß. Weltweit meldeten sich Politiker und Staatsvertreter zu Wort und kritisierten zum Teil in scharfen Worten die türkische Regierung. Doch die Frage ist, was auf diese Worte folgen wird? Insbesondere in Europa ist man schon seit längerer Zeit „bestürzt“ über die Entwicklungen in der Türkei. Politiker erklären immer wieder, dass sie das Vorgehen der AKP und Erdogans „mit Sorge beobachten“. Das Mitgefühl für die Opfer der AKP-Diktatur mag ja ganz nett sein. Aber was folgt auf diese Sorgenbekundungen? Wie will die EU und insbesondere die deutsche Bundespolitik Druck auf eine Türkei ausüben, die sich ganz offenkundig lustig über die Erklärungen aus der EU macht? Die türkische Regierung scheint sich gewiss zu sein, dass sie derzeit die EU aufgrund des Flüchtlingsdeals in der Hand hat. Und so wundert es nicht, dass die türkische Regierung sich nicht nur die Kritik aus Europa verbittet, sondern zusätzlich nochmal klarstellt, dass sie die Visafreiheit für ihre Bürger in kürzester Zeit verwirklicht sehen will. Andernfalls werde man den Flüchtlingsdeal mit der EU aufkündigen.

Vermutlich wird die Türkei diese Drohung nicht verwirklichen. Denn solange der Deal am Leben ist, hat die EU scheinbar gegenüber der türkischen Regierung das Nachsehen. Der aktuelle EU-Fortschrittsbericht zur Kandidatur der Türkei interessiert deshalb die türkische Öffentlichkeit schon gar nicht mehr. Aktuell ist es die Türkei, die gegenüber der EU die Forderungen stellt. Und aufgrund dessen droht die Europäische Union derzeit zu einer Farce ihrer selbst zu werden. Die Haltung der europäischen Politik zu den Festnahmen der HDP-Abgeordneten in der Türkei wirkt deshalb wie ein Lackmustest. Folgen auf die Erklärungen, dass man hinsichtlich der Türkei „äußerst besorgt“ sei, keine praktischen Folgen, hat die EU zumindest aus Sicht der Kurdinnen und Kurden ihre Glaubwürdigkeit verloren.

www.civaka-azad.org

M03

Gemeinsame Verteidigungsrede der HDP-Abgeordneten

Aufgrund der aktuellen Festnahmen der HDP-Abgeordneten möchten wir nochmals auf die gemeinsame Verteidigungsschrift der Abgeordneten der Demokratischen Partei der Völker aufmerksam machen. Diese Verteidigungsrede haben alle festgenommenen Abgeordneten vor dem Haftrichter vorgetragen. Veröffentlicht wurde die gemeinsame Verteidigung am 22. Juni 2016, also bereits kurz nach der Immunitätsaufhebung der HDP-Abgeordneten im türkischen Parlament:

„Meine Partei – die Demokratische Partei der Völker (HDP) – hat am 7. Juni 2015 bei den Parlamentswahlen mit mehr als sechs Millionen Wählerstimmen die Zehn-Prozent-Hürde genommen und achtzig Abgeordnete in das türkische Parlament entsendet. Dadurch ist es ihr mittels demokratischer Politik und dem Willen der Wählerinnen und Wähler gelungen, die Alleinherrschaft der AKP, und die Möglichkeit, dass diese alleine die Verfassung im Lande verändern kann, zu unterbinden. Doch Recep Tayyip Erdoğan, welcher ein „Ein-Mann-Regime“ in der Türkei errichten möchte und hierfür vor keinem Rechtsbruch zurückschreckt, hat diese Wahlergebnisse nicht akzeptiert, die Bildung von Koalitionsregierungen unterbunden und so das Land in die Neuwahlen geführt. Parallel dazu hat er den seit knapp drei Jahren anhaltenden Lösungsprozess beendet, weil dieser seinen Stimmanteil nicht gesteigert und deshalb von ihm nicht mehr als nützlich erachtet wurde. Dadurch hat er das Land praktisch ins Feuer der bewaffneten Auseinandersetzungen geführt.

In der Atmosphäre dieser Auseinandersetzungen, in welcher die Bürgerinnen und Bürger aus nachvollziehbaren Gründen in Angst um Leib und Seele versetzt waren, hat die AKP bei ungleichen und unfairen Wahlen von Neuem die Alleinherrschaft erlangt.

Recep Tayyip Erdoğan hatte nach den Wahlen vom 7. Juni auf eine panische und eilige Weise das Parlament und die Regierung für nichtig erklärt, die Justiz in großen Teilen unter seine Kontrolle gebracht, die Medien vollständig an sich gebunden, und somit einen Putsch im Lande vollzogen. In seiner völligen Hemmungslosigkeit hat er höchstpersönlich zum Ausdruck gebracht, dass er die Verfassung nicht akzeptiert, das Regime de facto verändert hat, und deshalb auch die Entscheidungen des Verfassungsgerichts nicht respektieren wird. Somit brachte er unverfroren zum Ausdruck, dass er den Staat persönlich beschlagnahmt hat.

Gegen seine Person gibt es in seiner Amtszeit als Ministerpräsident verschiedenste ernstzunehmende Beschuldigungen wie Korruption, Diebstahl, Schwarzgeldtransfer, die Durchbrechung der internationalen Sanktionen gegen den Iran durch illegale Vergehen wie Goldhandel oder illegale Waffenlieferungen an terroristische Gruppierungen in Syrien. Untersuchungen zu all diesen Vorwürfen konnten allerdings durch seinen Druck und seine Kontrolle über die Justiz im Lande derzeit verdunkelt werden.

Doch Erdoğan ist sich bewusst, dass für ihn eine endgültige Befreiung von den Untersuchungen aufgrund dieser Vorwürfe nur möglich ist, wenn er alle Kompetenzen im Land auf seine Person vereint. Und dass er hierfür zu allem bereit scheint, ist mittlerweile unbezweifelbar. Ihm ist es gelungen, jeden Tag durch die Entsendung von Leichnamen in alle vier Himmelsrichtungen der Türkei die chauvinistischen und nationalistischen Gefühle der Menschen zu stärken, rassistische Hassreden zu verbreiten, und unter der Lüge, „das Land sei mit der Gefahr des Separatismus konfrontiert“, Menschenmassen für seine eigenen politischen Zwecke um sich zu scharren. Auf diesem Wege schreitet er Schritt für Schritt auf sein Ziel zu.

Das einzige Hindernis auf dem Weg zu diesem Ziel, also die Errichtung eines diktatorialen Regimes, das als Präsidialsystem deklariert wird, ist die Demokratische Partei der Völker. Dass es unserer Partei bei den Wahlen vom 1. November erneut gelungen ist, die Wahlhürde zu nehmen und 59 Abgeordnete ins Parlament zu entsenden, hat abermals eine verfassungsändernde Mehrheit für die AKP im Parlament verhindert. Aus diesem Grund arbeitet Erdoğan für den Fall von möglichen vorgezogenen Neu- oder Zwischenwahlen auf eine AKP-Fraktion hin, die aus 367 ihm getreuen Abgeordneten besteht.

Unsere Partei die HDP macht sich eine Politik zu eigen, welche die multikulturelle, multilinguale und multireligiöse Realität der Türkei widerspiegelt und setzt sich dementsprechend aus Vertreterinnen und Vertretern mit verschiedenster Identität und religiöser Herkunft zusammen. Wir sind Türken, Kurden, Araber, Armenier, Turkmenen, Suryoye, Eziden, Mhallami und Vertreter von vielen weiteren ethnischen Gruppen, die an die Demokratie und das gemeinsame Leben glauben und die davon überzeugt sind, dass ein gerechtes und gleichberechtigtes Leben möglich ist, das auf einer pluralistischen, kommunalen und auf Autonomien basierenden Demokratie beruht.

Unsere Partei HDP verteidigt den Kampf der Frauen um Freiheit und Befreiung. Durch den Schutz der gleichberechtigten politischen Teilhabe der Frau ist es unserer Partei gelungen, den Anteil der Frauen unter den Abgeordneten in der Türkei auf ein Rekordhoch zu tragen. Die Aufhebung der Immunitäten unserer weiblichen Abgeordneten wäre somit auch eine Bedrohung für die Frauen in der Türkei und ein schwerer Schlag gegen ihren Kampf um Gleichberechtigung.

Wir sind gegen jegliche Form von Gewalt und glauben fest daran, dass jeder Konflikt durch Dialog und Verhandlungen überwunden werden kann. Folglich ist die HDP für Erdoğan, der die Vorherrschaft eines auf einem Mann, einer Sprache und einem Glauben beruhenden Faschismus zu etablieren sucht, auch aus ideologischer Sicht eine Gefahr.

Aus diesem Grund war unsere Partei seit Beginn ihres politischen Lebens ein Angriffsziel Erdoğans. Doch bislang ist es ihm weder mit Täuschungsversuchen noch mit Ungerechtigkeiten, weder mit persönlichen Angriffen noch mit Bombenanschlägen gelungen, unserer Partei Herr zu werden. Nun setzt er, als eine Person, die eigentlich durch das von ihm bekleidete Amt unabhängig und unparteiisch sein sollte, mit der Aufhebung der Immunitäten und dem Versuch, uns durch die Justiz verurteilen zu lassen, zu einem neuen Angriff an.

Wir sind gewählte Vertreter des Volkes. Wir repräsentieren daher nicht unsere eigene Person, sondern das Volk, das uns gewählt hat. Derzeit stehe ich als ein Vertreter der Legislative, ein Mitglied des Parlaments, das die Immunität genießt, vor Ihnen. Dass ich gegenüber dieser Verantwortung, die ich trage, sowie gegenüber dem Willen des Volkes eine Respektlosigkeit begehe, ist unmöglich von mir zu erwarten.

Ich scheue nicht davor zurück, vor einer gerechten und unabhängigen Justiz Rechenschaft abzuliefern. Es gibt keine Rechenschaft, die ich nicht zu ablegen bereit wäre. Doch während die Justiz in unserem Lande am Boden liegt, werde ich es nicht akzeptieren, zum Subjekt eines solchen politischen Verfahrens gemacht zu werden. Es geht mir hierbei nicht um eine Respektlosigkeit gegenüber Ihrer Person oder Ihrer Persönlichkeit. Doch ich akzeptiere es nicht, eine Figur in einem Justiz-Theaterstück zu werden, das auf Befehl Erdoğans errichtet wurde.

Ich werde auf keine Frage antworten, welche Sie mir stellen werden. Ich glaube nicht an ein gerechtes Urteil durch Ihr Gericht. Selbst dass ich hierhergebracht wurde, stellt einen Rechtsbruch dar. In der politischen Arena sollte der Gegenüber eines Politikers auch ein Politiker sein, nicht ein Justizbeamter. So gesehen müssten Sie sich, als Mitglied einer Justiz, das sich aufgrund internationaler Vereinbarungen verfassungsgemäß den universellen und demokratischen Rechtsprinzipien verpflichtet fühlen müsste, diesem politischen Spiel ebenfalls verweigern.

Wir werden unseren politischen Kampf solange fortführen, bis in unserem Land Frieden herrscht und ein pluralistisch-demokratisches System aufgebaut worden ist. Gegen die Polarisierung der Gesellschaft setzen wir auf ein gleichberechtigtes gemeinsames Leben. Gegen die Gewalt setzen wir auf einen demokratisch-politischen Wettkampf. Gegen den Monismus setzen wir auf Pluralismus, gegen den Faschismus auf Demokratie und gegen eine religiös-rassistische Politik auf die Religions- und Gewissensfreiheit. Natürlich setzen wir uns gegen Diskriminierung und Hassreden und für die Rechte des kurdischen Volkes ein, die ihnen allein aufgrund der Tatsache, dass sie ein eigenständiges Volk sind, zustehen. Und natürlich setzen wir uns auch für die gleichberechtigte Bürgerschaft der alevitischen Gesellschaft ebenso ein, wie für die Glaubensfreiheit weiterer religiöser Minderheiten. Wir setzen uns für die gleichberechtigte Teilhabe der Frauen am politischen, sozialen, gesellschaftlichen und ökonomischen Leben ein. Wir setzen uns für den Schutz der Umwelt und Ökologie gegen die Zerstörung durch den Kapitalismus ein. Wir stellen uns gegen die Profitgier des Marktes und setzen uns für die Rechte der Arbeiter ein. Egal ob wir uns weiterhin im Parlament oder in den Gefängnissen befinden werden, ihr werdet uns nicht daran hindern können, diese Gedanken weiter zu vertreten und für diese Gedanken uns einzusetzen.

Wir haben keine Zweifel daran, dass wir uns von der Diktatur, die unserem Land und unserem Volk unter dem Deckmantel des „Präsidialsystems“ aufgezwungen wird, befreien werden. Früher oder später wird der Kampf um Demokratie siegen. Dieses Regime, das durch die Person Erdoğans vollständig abgenutzt wurde, wird ohne Zweifel abgelöst werden müssen.

Ich habe weder eine Forderung noch eine Erwartung an Sie. Allein das Volk, das mich gewählt hat, hat ein Recht mich aufgrund meiner politischen Haltung und Handlung zur Rechenschaft zu ziehen.“ www.civaka-azad.org

M04

Hamburg: Erklärung der Bürgerschaftsabgeordneten

Für die Aktuelle Stunde der Bürgerschaftssitzung am 9. November hatte die Fraktion Die Linke die „Solidarität mit den verhafteten Abgeordneten und DemokratInnen in der Türkei auch in Hamburg“ zum Thema gemacht. Wenige Tage zuvor war ein Brief von Asli Erdogan öffentlich geworden, in der die seit zwei Monaten inhaftierte Schriftstellerin und Publizistin Auswirkungen eines totalitären Regimes in der Türkei auf ganz Europa warnt und ihre Sorge zum Ausdruck bringt, dass Europa die „Gefahren des totalen Verlusts der Demokratie in der Türkei“ unterschätzt.

Die wirtschaftlichen, kulturellen, wissenschaftlichen, politischen Verflechtungen zwischen der Türkei und Europa sind vielfältig. Deshalb und nicht zuletzt infolge jahrzehntelanger Migration haben die gefährliche Entwicklung der Türkei großen Einfluss auf Europa und direkt auch auf eine Stadt wie Hamburg. Fast 100000 Hamburgerinnen und Hamburger haben ihre Wurzeln in der Türkei und unterhalten in ihrem Alltag zumeist viele soziale, kulturelle und oft auch politische Beziehungen in die Türkei. Unter diesen 100000 Menschen sind viele Kurden, Aleviten oder andere Angehörige von in der Türkei diskriminierten Minderheiten. Aber eben auch viele Erdogan-Anhänger. Deshalb ist es sehr erfreulich, dass sich vor allem die Redner und Rednerinnen der Linken, der SPD und der Grünen in ihren Reden sehr deutlich positionierten. Die Linke schlug konkrete Projekte solidarischer Unterstützung vor, so etwa eine Patenschaft des Hamburger Bürgermeisters mit der abgesetzten und verhafteten Bürgermeisterin von Diyarbakir. Dazu haben wir für die nächste Bürgerschaftssitzung einen Antrag ausgearbeitet.

Zur Bürgerschaftssitzung am 9.11. war, maßgeblich durch die Initiative eines SPD-Abgeordneten, die im Folgenden dokumentierte Solidaritätserklärung zustande gekommen. 92 von 121 Abgeordneten unterschrieben – soweit anwesend alle SPD-, Grünen- und Linken- sowie eine Reihe von CDU-Abgeordneten.

 Christiane Schneider

„Die türkische Regierung geht nach dem gescheiterten Putschversuch von Teilen des türkischen Militärs verstärkt gegen Journalistinnen und Journalisten, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, zehntausende Beamtinnen und Beamte, generell gegen Andersdenkende und zuletzt auch gegen gewählte Abgeordnete der oppositionellen HDP vor. Sie werden ohne rechtsstaatliches Verfahren vom türkischen Staat entlassen, verfolgt, drangsaliert, inhaftiert. Es gibt Berichte über die Wiederkehr der Folter in türkischen Gefängnissen. Es herrschen Willkür und Rechtlosigkeit unter dem Deckmantel des Ausnahmezustands.

Der türkische Präsident spricht davon, die Todesstrafe wieder einzuführen. Mit der Verhaftung von gewählten Abgeordneten greift er massiv in das freie Mandat ein. Der langjährige Demokratisierungsprozess der Türkei muss im schlimmsten Fall als gescheitert angesehen werden, wodurch auch die Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union aufs höchste gefährdet sind.

Die Abgeordneten der Hamburgischen Bürgerschaft erklären sich solidarisch mit den Abgeordneten, den Bürgermeistern, den Journalistinnen und Journalisten und all denjenigen, die sich für die Verteidigung der Demokratie in der Türkei einsetzen. Wir rufen die türkische Regierung dazu auf, umgehend alle Inhaftierten zu entlassen, den Ausnahmezustand aufzuheben, die Menschenrechte und vor allem die Meinungsfreiheit zu beachten und zu respektieren.

Wir appellieren an die deutsche Bundesregierung, das Europäische Parlament und die Europäische Kommission, in diesem Sinne auf die türkische Regierung einzuwirken.“

BILD: Am 8.11. nahm die Co-Vorsitzende der Hamburger Linksfraktion zusammen mit den Linken-Bundestagsabgeordneten Jan van Aken und Martina Renner in Diyarbakir am Prozess gegen den ehemaligen FC St.Pauli-Fußballprofi Deniz Naki teil, der heute beim kurdischen Drittligisten Amed SK spielt. Der in Düren geborene Naki war wegen kritischer Äußerungen der Propaganda für die PKK angeklagt, ihm drohten fünf Jahre Haft. Insbesondere in Hamburg gab es viel Solidarität rund um den Verein FC St. Pauli. Diese Solidarität trug dazu bei, dass Naki freigesprochen wurde.

M05

SSW erklärt sich solidarisch mit prokurdischer HDP

Die SSW (Südschleswigscher Wählerverband, Vertretung der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein, Teil der Landesregierung in der Koalition SPD-Grüne-SSW) zum Vorgehen der Türkei gegen Vorsitzende, Funktionäre und Politiker der prokurdischen Oppositionspartei HDP:

Die Festnahmen mehrerer führender Mitglieder der Oppositionspartei HDP, die bei der letzten Parlamentswahl in der Türkei über 10 Prozent der Stimmen bekommen hat und damit Millionen von Wählerinnen und Wähler repräsentiert, ist demokratisch und rechtsstaatlich inakzeptabel. Insbesondere die HDP hat sich immer um eine friedliche Lösung mit der türkischen Führung bemüht. Der europäische Parteienzusammenschluss European Free Alliance, dem auch der SSW angehört, und der zur HDP einen engen Kontakt hat, ist sehr besorgt über die Entwicklung in der Türkei, die in einem Bürgerkrieg enden kann.

Ohne die HDP, die breite Unterstützung im kurdischen Bevölkerungsteil sowie in linksliberalen türkischen Kreisen genießt, wird der demokratische Prozess in der Türkei und der Friedensprozess mit den Kurden endgültig ausgehebelt. Die Eskalation zeigt, dass das Regime von Erdogan nicht nur die türkische Opposition und unabhängige Presse unterdrückt, sondern auch die Rechte von Minderheiten mit Füßen tritt.

Die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei müssen sofort abgebrochen werden und dürfen erst wieder aufgenommen werden, wenn die türkische Demokratie wiederhergestellt ist.

M06

Linke-Vorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger

Die massiven Zwangsmaßnahmen gegen die demokratisch legitimierte Opposition und die Pressefreiheit sowie die massenhaften Säuberungsmaßnahmen in öffentlichen Einrichtungen dürfen nicht weiter hingenommen werden.

Was muss Erdogan eigentlich noch tun, damit die Bundesregierung und die Europäische Union erkennen, dass es für Demokratien mit dem Erdogan-Regime keine Geschäftsgrundlage gibt?

Es ist höchste Zeit, dass die Bundeskanzlerin ihre stillschweigende Komplizenschaft mit der türkischen Regierung beendet und endlich handelt: Die Linke fordert den sofortigen Abzug der Bundeswehr und ein Stopp aller Waffenlieferungen an die Türkei. Die EU muss die Beitrittsverhandlungen umgehend beenden und den EU-Türkei-Flüchtlingsdeal aufkündigen.

 

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