Nur-Text, aus:  Politische Berichte Nr. 11/2016 – KLICK zur PDF-Ansicht

 

s24 Von wegen sicher – Das Konzept der sicheren Herkunftsstaaten in der Kritik

Neue Online-Broschüre bei der Rosa Luxemburg Stiftung (www.rosalux.de)

Aus der Einleitung:

Der Beschluss der Bundesregierung im Sommer 2015, die Grenze für syrische Flüchtlinge zu öffnen, wurde von vielen als humanitäre Antwort auf den Zustrom von Flüchtlingen über die „Balkanroute“ gewertet. Verglichen mit den Reaktionen vieler anderer Staaten entlang der Route, die zum Beispiel im Schnellverfahren ihre Außengrenzen mit Zäunen befestigten, kann diese Entscheidung tatsächlich als humanitärer Akt betrachtet werden.

Gleichzeitig haben die Bundesregierung und die EU eine Vielzahl neuer, restriktiver Migrations- und Grenzpolitiken eingeführt. Der Bundestag verabschiedete in kurzen Abständen zwei „Asylpakete“, durch die unter anderem die Rückführung abgelehnter Asylsuchender erleichtert und die Regelungen zum Familiennachzug für anerkannte Flüchtlinge aufgehoben wurden. Weiterhin wurden immer mehr Länder als sogenannte „sichere Herkunftsstaaten“ eingestuft, insbesondere die Balkanstaaten Serbien, Kosovo, Albanien, Montenegro, Bosnien und Herzegowina und Mazedonien. Infolgedessen gelten Asylanträge aus diesen Ländern für deutsche Behörden als „offensichtlich unbegründet“ und werden in der Regel abgelehnt. Die Aussichten für Hilfesuchende auf Asyl sind sehr gering, bereits vor dieser Entscheidung lag der Anteil der abgelehnten Asylanträge aus Serbien in Deutschland bei 99 Prozent (bzw. 97 Prozent für Asylsuchende aus dem Kosovo).

Allerdings hat diese Einstufung der Balkanländer als „sicher“ bedeutende und weitreichende Konsequenzen, und zwar nicht nur für derzeitige Asylsuchende, sondern auch für Menschen, die schon seit Jahren, teils sogar seit Jahrzehnten, in Deutschland leben. Die Mehrheit der Asylsuchenden aus Serbien, dem Kosovo und Mazedonien sind Roma, die in ganz Europa Verfolgung, Marginalisierung und sozialen Ausschluss erfahren.

PolitikerInnen und die Asylbehörden führen die Motive der Migration von Roma systematisch auf Armut und wirtschaftliche Gründe zurück und ignorieren dabei völlig den in ganz Europa verbreiteten Antiziganismus und die damit verbundene direkte und strukturelle Diskriminierung von Roma. Die Mehrzahl der zehn bis zwölf Millionen Sinti und Roma in Europa lebt unter erheblich schlechteren Bedingungen als ihre MitbürgerInnen. Die Mehrheit von ihnen ist innerhalb und außerhalb der Europäischen Union von sozialem Ausschluss, Vorurteilen und Benachteiligung konfrontiert. Ihre Geschichte in Europa ist vielfach eine Geschichte von Repression, Verfolgung und Vertreibung – nicht zu vergessen der nationalsozialistische Genozid an den Roma im Zweiten Weltkrieg. Auf dem Papier haben sich die EU und die deutsche Regierung dazu verpflichtet, die Verfolgung und den Ausschluss der Roma zu bekämpfen. In der Praxis jedoch sind die deutschen Behörden nicht einmal bereit, die direkte und strukturelle Diskriminierung, der viele Roma in den Balkanländern ausgesetzt sind, als Asylgrund anzuerkennen. Im Schatten der deutschen „Willkommenskultur“ werden täglich Menschen abgeschoben; die Mehrzahl von ihnen stammt aus dem Balkan.

Mit dieser Broschüre möchten wir diese überwiegend verborgenen Prozesse thematisieren: die Änderungen der Asylgesetze, die den drastischen Anstieg von Abschiebungen zur Folge haben, die Auswirkungen dieser Gesetze auf MigrantInnen aus den Balkanländern und die weitverbreitete Diskriminierung und Lebenssituation der Roma im Balkan, vor allem in Serbien und im Kosovo. Wir wollen zeigen, dass Roma und Sinti nicht nur in ihren Heimatländern, sondern auch durch rassistische und protektionistische Migrationsgesetze und Asylpraktiken diskriminiert werden. Wir beschäftigen uns mit der Frage, warum Integrationsprogramme für Roma, auf die PolitikerInnen immer gern verweisen, bish

er noch keine Verbesserung der Situation der Roma erzielt oder zur Bekämpfung der Migrationsursachen beigetragen haben. Schließlich möchten wir auch Alternativen zur aktuellen unmenschlichen Behandlung von MigrantInnen aus den Balkanländern vorstellen.

Wenke Christoph, Tamara Baković Jadžić & Vladan Jeremić

 

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