Text ausPolitische Berichte Nr. 12/2016 - Link zum PDF

s04 Der Verschrotter verschrottet – ein politisches Referendum über eine technische Frage

So, jetzt ist Schluss. Das Referendum vom 4. Dezember 2016 hat eine lange Wahlkampagne beendet, die aufgrund des fehlenden Inhaltes und der kaum stattgefundenen Debatten einfach endlos schien. Eine Wahlkampagne, bei der die inhaltliche Frage sich in eine Abstimmung für oder gegen die Regierung von Matteo Renzi, Partito Democratico (Mittelinkspartei), verwandelt hat. Und bei der das Land in zwei geteilt wurde. Für das Ja ein Teil der Demokratischen Partei und der anderen Regierungsparteien, für das Nein eine bunt zusammengewürfelte Allianz aus der Partei von Berlusconi, der Lega Nord (der extremrechten und antieuropäischen Partei), der Linken und der Fünf-Sterne-Bewegung (Partei, die vom Komiker Beppe Grillo als Gegenbewegung zur politischen Klasse und ihren Auswüchsen gegründet wurde und die sich auch antieuropäisch aufstellt).

Dem jungen und respektlosen Matteo Renzi, dem ehemaligen Bürgermeister von Florenz, der von Journalisten und der Presse wegen seiner Bereitschaft, die alte politische Klasse zu verschrotten – deswegen auch der Beiname „der Verschrotter (Rottamatore)“ – hochgejubelt wurde, war es im Dezember 2013 gelungen, die innerparteilichen Wahlen für sich zu entscheiden und sich zwei Monate später vom Parlament zum Regierungschef ernennen zu lassen. Der damalige Staatschef und Präsident hatte ihm bei seiner Ernennung ausdrücklich nahegelegt, Reformen zur „Modernisierung des Landes“ einzuleiten. Zwei Monate später, im April 2014, hat die Regierung die Reform dem Parlament vorgelegt, das sie zwei Jahre später verabschiedete. Die bestätigende Volksbefragung wurde anschließend von der Demokratischen Partei selbst und den Mitgliedern der Opposition gefordert.

Im Wesentlichen sah die Reform den Abbau des Zweikammersystems, eine Senkung der Funktionskosten der Organe des Staates sowie die Neubewertung der Zuständigkeitsaufteilung zwischen Staat und Regionen vor. Mit der Abschaffung des perfekten Zweikammersystems (beide Kammern des Parlamentes verfügen über gleichwertige Zuständigkeiten) sollte eine Diskussion beendet werden, die beinahe so alt war wie die Verfassung selbst. Viele Verfassungsrechtler sind sich einig, dass dieses System redundant ist und die Verabschiedung von Gesetzen nur unnötig hinauszögert. Im Laufe der Jahre sind bereits zahlreiche Abänderungsvorschläge gemacht worden. Das neue Gesetz schlug die Aufrechterhaltung der beiden Kammern vor, der Senat aber sollte nicht mehr direkt gewählt werden, sondern aus Senatoren der Regionalräte und Bürgermeister bestehen. Die statt der heutigen 320 nur 100 Senatoren sollten über Verfassungsgesetze und Gesetze zur Beteiligung Italiens an der Bildung und Umsetzung europäischer Politiken abstimmen. Für alle anderen Gesetze wäre die legislative Funktion der Abgeordnetenkammer vorbehalten gewesen, aber der Senat hätte über einige Tage verfügt, um Abänderungen vorzuschlagen. Auch das Vertrauensvotum der Regierung wäre allein Befugnis der Abgeordneten gewesen. Dieses neue System führte laut Reformgegner eine Reihe von undeutlichen und verwirrenden Möglichkeiten, Gesetze zu verabschieden, und eine kaum klare Funktion des Senats ein, während die Reform laut ihrer Verfechter klare, in der Verfassung festgehaltene Fristen für die Verabschiedung von Gesetzen vorgesehen hätte.

Der zweite Punkt, die Senkung der Kosten der Politik, wäre laut Verfechter der Reform mit der geringeren Anzahl der Senatoren und der Abschaffung ihrer Diäten, der Abschaffung der Provinzen und der Abschaffung des CNEL – Consiglio Nazionale dell’Economia e del Lavoro, dem Nationalrat für Wirtschaft und Arbeit – einhergegangen. Als Staatsorgan mit der Möglichkeit, Gesetzesinitiativen zu ergreifen und Stellungnahmen über die Wirtschaft und Beschäftigung abzugeben, hat der CNEL in einem halben Jahrhundert 14 Gesetzesentwürfe, 96 Stellungnahmen und 970 Berichte und Studien vorgelegt. Alles für die bescheidene Summe von 20 Millionen Euro pro Jahr!! Die Befürworter des Neins, auch die Vertreter der Fünf-Sterne-Bewegung, deren Steckenpferd die Senkung der Kosten der Politik ist, argumentierten, dass die eingesparten Kosten nur minimal und nicht realistisch seien.

Die Neubewertung der Aufteilung von Befugnissen zwischen Staat und Region sah vor allem die Abschaffung der sogenannten gleichzeitigen Kompetenz und die Einführung einer „Vorherrschaftsklausel“ des Staates über die Regionen vor. Wichtige Zuständigkeiten wie im Gesundheitswesen wären wieder an den Staat gegangen. Die Befürworter wollten damit u.a. eine kohärente Politik beispielsweise im Bereich der Impfungen und Gesundheitsbehandlungen.

Die Verfassungsrevision war mit der Reform des Wahlgesetzes verbunden (da das aktuelle Gesetz vom Verfassungsgerichtshof für verfassungswidrig erklärt wurde), das sogenannte Italicum. Diese Reform zur Revision der Verfassung, das nur von der Abgeordnetenkammer angenommen wurde, erfordert eine große Mehrheit. Es wurde anhand von Vertrauensfragen angenommen und wurde so scharf kritisiert, dass es sogar zu einem Bruch in der Demokratischen Partei geführt hat und die Diskussion über die Verfassungsreform nur verschärft hat. Die Verfechter der Reform hielten fest, dass dem Land hiermit eine Stabilität ermöglicht würde, das in 70 Jahren 63 Regierungen hatte, während die Gegner mit der Gefahr einer zu starken und autoritären Regierung argumentierten. Auch diese Reform wird gegenwärtig vom Verfassungsgerichtshof untersucht, der im Januar 2017 entscheiden soll.

Dieser explosive Cocktail, zusammen mit der Tatsache, dass Renzi seine Zukunft in der Regierung an das Ergebnis des Referendums gebunden hat, hatte zur Folge, dass die Kräfte der Opposition sich vereint haben, um „ihn nach Hause zu schicken“ und eine Abstimmung und eine Diskussion, die eigentlich sehr technisch ausfallen musste, in eine Abstimmung über Renzi selbst zu verwandeln.

Die Möglichkeiten, die sich Italien im Moment öffnen, sind unsicher: Renzi ist zurückgetreten, vorzeitige Wahlen sind ohne ein gültiges Wahlgesetz kaum möglich, und es ist unklar, wer eine eventuelle Regierung mit „Technikern“ bis zu den nächsten Wahlen unterstützen würde, da die Kräfte der Opposition, aber auch die Regierung selbst, sehr geteilt sind. Und diese Situation hat auch Auswirkungen auf Europa. Bei vorgezogen Wahlen ist es wahrscheinlich, dass die sehr populistische Fünf-Sterne-Bewegung, die sich aus einfachen Bürgern mit wenig politischer Erfahrung zusammensetzt, die Wahlen gewinnen kann. Das wäre kein Übel, wenn es nicht so starke Zweifel an ihrem europafeindlichen Programm und ihrer effektiven Fähigkeit und Kompetenz, ein Land wie Italien in so schwierigen Zeiten der nationalen Teilung zu leiten, gäbe. Renzi hat seine Wette verloren, der populistischen Bewegung den Boden unter den Füßen wegzuziehen, indem er selbst Slogans und Reformen anbietet, die ihnen am Herzen liegen. Es kann viele Gründe hierfür geben: Unerfahrenheit, Arroganz, fehlender Kontakt mit der Realität, fehlenden wirkliche „linke“ Politiken und fehlende Unterstützung der jungen Bevölkerung (die mehrheitlich für Nein gestimmt hat) … Nichtsdestotrotz ist das Machtvakuum, das entstanden ist, auch im Hinblick auf die geopolitische Sackgasse, in die wir uns bewegen, nichts, das gewollt war und sehr besorgniserregend bleibt.

Chiara Lorenzini, Brüssel

Politische Berichte Nr. 12/2016 - Nur.TXT-Ausgabe - Link zum Inhaltsverzeichnis