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s18 Der Verlust von Ordnung und die umgreifende Entsicherung aller Lebensbereiche und eine linke Antwort darauf (Thesen)

Vorbemerkung: Zum Jahreswechsel war Harald Pätzolt aufgefordert, für die traditionelle Tagung der sogen. „Elgersburger Runde“, an der die Vorsitzenden der Europa-, Bundestags- und Landtagsfraktionen sowie die Parteivorsitzenden teilnehmen, Thesen zum Problem wachsender Entsicherung der Menschen vorzulegen. Er fasst darin, freilich auf sehr allgemeine Art und Weise, Ergebnisse vieler Studien und Analysen zusammen, die Quellen werden nur gelegentlich benannt, aber nicht nachgewiesen. Auch greift er auf prägnante Formulierungen aus Texten von Heinz Bude, Zygmunt Baumann oder Gerd Irrlitz zurück, ohne diese zu zitieren.

Erlebter Kontrollverlust

1. Die Menschen wollen, das zeigen viele Studien, sogen. Länder-Monitore und auch eigene empirische Untersuchungen, in ihrer großen Mehrzahl eine offene Gesellschaft der Freiheit und Gleichheit (Demokratie, Vielfalt, Menschenrechte usw.) und sie wollen Ordnung (d.h. einen Zustand, in dem die Beziehungen zwischen Ursachen und Wirkungen stabil, also verständlich und vorhersagbar sind, so dass diejenigen, die darin leben, wissen, wie sie sich zu verhalten haben) und Sicherheit.

2. Erlebter Kontrollverlust infolge rasanten Wandels (etwa Digitalisierung), universeller Verknüpfungen („Globalisierung“), des Verlustes des „Wir“ (der gewohnten Gemeinschaftlichkeit, des sozialen Zusammenhalts), des „Kitts der Gesellschaft“ (Institutionenvertrauen, soziale Netzwerke, Identifikation mit dem Gemeinwesen) sowie unkontrollierbarer, medial vermittelter dramatischer Ereignisse: Kriege, Anschläge, Exzesse von Gewalt (verbunden mit dem Erlebnis von Verletzungen, Ängsten, Tod und Zerstörung) führen dazu, dass vielfach die Rede von Freiheit und Gleichheit leiser, die von Ordnung und Sicherheit lauter wird.

3. Ambivalent sind die sozialen Erfahrungen der Menschen; sie fühlen sich hin und her gerissen, suchen nach Halt und Orientierung. Das neoliberale Modell, dass der Einzelne zum Gewinner werden kann, wenn er sich nur recht anstrengt und keine Rücksicht auf die Andern nimmt, verliert an Plausibilität und Akzeptanz. Die Welt besteht nicht nur aus Gewinnern, sondern auch aus vielen Schutzbedürftigen – und auch Gewinner wissen: man kann sehr schnell schutzbedürftig werden.

4. Unsicherheiten der letzten Jahre speisten sich auch aus der Privatisierung von Risiken, aus den falschen Versprechen privater Sicherheiten (Versicherungen, „Vermögens“-Aufbau usw.) und sogen. Sicherheits-Diensten (Wachschutz überall) für Lebensräume.

5. Der Staat selbst hat mit den Einschränkungen von Bürger- und Menschenrechten im Namen von Sicherheit und Ordnung die Menschen tendenziell unsicherer, kontrollierter, diskriminierter gemacht und zum Verdachtsobjekt gestempelt. Auch das wird so empfunden und der Politik zurückgespiegelt.

6. Auf der Suche nach Ordnung greifen Menschen vielfach auf gewohnte, alte, verklärte Ordnungsvorstellungen zurück. Rechte und konservative Akteure bieten ihnen ja auch entsprechende Vorstellungen geschlossener Gesellschaften an. Nach Sicherheit strebend suchen Menschen nach Autorität, nach Stärke und Führung.

7. Entschieden ist die Mehrheit der Menschen in Deutschland dabei nur in einem: es muss ein neues Verhältnis von Freiheit und Schutz her.

Renaissance der Staatsbedürftigkeit

8. Eigene Untersuchungen bestätigen, was allgemein konstatiert wird: es gibt eine „große Renaissance der Staatsbedürftigkeit“. Der Staat, die Politik sollen sich (wieder) kümmern, „in Ordnung bringen“, was falsch läuft; „Normalität“ (Geltung von Normen, Werten, Regeln, von Recht und Gesetz) soll wieder hergestellt werden.

9. Politik, das meinen auch die eher links denkenden Menschen, soll dafür sorgen, dass jeder/r die zum Leben nötigen Ressourcen zur Verfügung hat: Geld, Arbeit, Bildung, Gesundheit, Zeit, Respekt, Sauberkeit, Sicherheit im Alter usw.

10. Die Linke ist herausgefordert, dem Wunsch der Menschen nach einer offenen Gesellschaft ebenso Rechnung zu tragen wie ihnen ein neues, linkes Ordnungsversprechen zu geben. Sicherheit und Ordnung sollten in der Begrifflichkeit der Linken einen Stellenwert bekommen wie Freiheit und Gleichheit.

11. Das bedeutet zweierlei: Erstens, die alte Institutionalität, die Staatlichkeit unserer Gesellschaft, müsste als essentiell für politisches Handeln auf allen Ebenen genommen werden. Das ist kommunalen Amtsträgern selbstverständlich und Regierungsparteien auf Landesebene nah. In Opposition ist der Staat eher Objekt der Kritik als Subjekt der Veränderung. Programmatisch gehen wir alle diesbezüglich auf weichem Grund.

Zuverlässigkeit – Qualität linker Politik

12. Zweitens, ruht der Blick der Menschen auf uns, so wird ein anderer Begriff für unser politisches Verhältnis entscheidend: Zuverlässigkeit. Die implizite und auch ganz offen gestellte Frage ist doch: Seid Ihr, ist Die Linke, sind Sie oder bist Du verlässlich in Sachen Ordnung und Sicherheit, so wie Ihr es bei sozialer Gerechtigkeit seid?

13. Was folgt daraus? Linke Politik muss sich in allen Dimensionen, institutionell, inhaltlich und verfahrensmäßig und auf allen föderalen Ebenen als zuverlässig bewähren. Auf der Metaebene der sozialen Gerechtigkeit und sozialen Sicherheit als Leitmotiv und Ziel ebenso wie auf den einzelnen Politikfeldern. Es gibt, jenseits des Frames „Sicherheit“, notwendig unscharfer Begriff, eine Vielzahl von links zu gestaltender Sicherheiten: Innere und äußere Sicherheit, Sicherheit von Transport, Energieversorgung, Cybersicherheit, Sicherheit des Handels, des Finanzsystems, ökologische Sicherheit und Investitionssicherheit. Die Sicherheit von Leib und Leben, des Eigentums, der Rentenansprüche und der Spareinlagen gehören dazu. Die medizinische Versorgung, die Pflege. Funktionierende Behörden und ÖPNV.

14. Zuverlässigkeit gewinnt Die Linke dadurch, dass sie in ihrem politischen Handeln auf all diesen Politikfeldern jenen Teil, der dem Staat anheimfällt, wenn es um die jeweiligen Schutzbedürfnisse von individuellen und kollektiven Personen geht, genau und von links bestimmt. Nur so kann einem sich ausweitenden populären Etatismus begegnet werden.

Harald Pätzolt, Berlin, 24.11.2016

Abb. (Nur im PDF) : Adenauer/Erhardt

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