Text ausPolitische Berichte Nr. 12/2016 - Link zum PDF

s20 Religionsfrieden: Wir haben es in der Hand !

Nicht viele Themen sind gleichermaßen emotional so aufgeladen wie persönlicher Glaube. In den Politischen Berichten 11/2016 hatten wir berichtet, daß der Landesverband der Linken in NRW erklärtermaßen laizistische Positionen in sein Wahlprogramm zur Landtagswahl 2017 übernommen hat. Es gab darauf eine heftige Reaktion der „Christen in der Linken“. Die PB halten diese Kontroverse für bedeutsam. Ließen wir diese Fragen als beliebig und ungeklärt stehen, würden sie immer wieder an Stellen zerstörerisch aufkochen, wo heute noch niemand damit rechnet. Dann aber werden sie nicht nur zu unerwünschtem Streit führen, sondern, so befürchten wir, werden zu willkommenen ideologischen Knüppeln, um mit ihnen eine demokratische, rechtlich geordnete Gesellschaft auseinanderzureißen. An der öffentlichen Präsenz von Religion scheiden sich in der Praxis oft die Geister: Im Arbeitsrecht, in Schulfragen, bei Regeln des Zusammenlebens im Öffentlichen Raum.

Es ist spannend zu beobachten, wie im Wissenschaftsbereich diese Diskussion verläuft. Während sich in der rechtlichen, philosophischen und theologischen Diskussion der religiöse Friede als politisches Ziel herauskristallisiert — Wir verweisen dazu auf das Buch von Elmar Wolfgang Walter Busse „Das Prinzip staatlicher Neutralität und die Freiheit der Religionsausübung“, Frankfurt 2013 — erstarken in der Politik Strömungen, die Staat und Bekenntnis vermischen. So hat kürzlich die CSU-Mehrheit das bayerische Integrationsgesetz beschlossen. Sie will mit dem staatlichen Gewaltmonopol ihre „Leitkultur“, auch das wiederum nichts anderes als ein Bekenntnis, durchsetzen. Kann linke Politik ihre Ziele formulieren und gleichzeitig in ihren Reihen Unterschiede in Bekenntnis und Religion fruchtbar machen? Die Redaktion der PB möchte dazu in den nächsten Jahren interessante Argumente und praktische Beispiele sichten. Sie hofft, daß sich zu dem Thema ein Arbeitszusammenhang herausbildet. – Die nächste Gelegenheit zur Diskussion von Arbeitsvorhaben besteht bei der Winterschule der ARGE in Erfurt vom 5. bis zum 7. Januar 2017. Schön wäre es, wenn bis zur Mitgliederversammlung unseres „Vereins für politische Bildung, linke Kritik und Kommunikation“ am 8. und 9. April 2017 in Mannheim Umrisse eines Arbeitsprogramms vorgestellt werden könnten.

Für Projektideen und Anregungen hier meine eMail-Adresse: Karl-Helmut.Lechner@wtnet.de

Die Begriffe Laizismus und Laizität verweisen auf die große blutige Geschichte der Säkularisierung in Europa. Gemeint ist damit die Zurückdrängung von Religion, vornehmlich christlicher Religion, aus dem öffentlichen in den privaten Lebensbereich. Säkularisation findet da statt, wo z.B. Wissenschaft ihre Unabhängigkeit gegenüber kirchlicher und theologischer Kontrolle erreicht oder sich bürgerliches Recht in Abgrenzung vom viele Jahrhunderte alten Kirchenrecht der beiden großen Kirchen herausbildet. Man sollte diese Begriffe heute aber behutsam gebrauchen. Denn in ihnen hallen die alten Schlachtrufe wider und lösen sehr gemischte Gefühle aus. Wer heute noch mit Blick auf die religiösen Bewegungen und Kirchen mit Voltaire écraser l’infame! („die Abscheuliche zerschmettern!“) ausruft und meint damit vielleicht, an der Spitze der grundlegenden antiklerikalen Aufklärung zu stehen, möge sich doch einfach mal in Europa umsehen. Und sie oder er wird dabei bemerken, noch nicht einmal auf dem Stand der Weimarer Reichsverfassung (WRV) von 1919 angekommen zu sein. In Artikel 137 (7) WRV, heute inkorporiert im Grundgesetz Artikel 140, wurde bereits damals festgeschrieben: „Den Religionsgesellschaften werden die Vereinigungen gleichgestellt, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Weltanschauung zur Aufgabe machen.“ Die unterschiedlichen Weltanschauungen des Atheismus oder Anti-Klerikalismus werden hier, neben allen anderen Religionen, verfassungsrechtlich eingereiht als eine Stimme unter vielen im gesellschaftlichen Diskurs. Die Begriffe sind als Waffe im Laufe der Zeit stumpf geworden. Und kirchliche Mission zwischen den Konfessionen, um sich gegenseitig die Schäfchen abspenstig zu machen, findet kaum statt. Heute gilt es, eine gesellschaftliche Praxis zu entwickeln und dafür die entsprechende Gesetzesform zu finden, um geordnet und gut miteinander leben zu können.

Trennung von Kirche und Staat

Die Trennung von Kirche und Staat ist zum ersten Mal in der Verfassung der USA von 1787 formuliert. Den Einwanderern aus Europa ging es dabei vor allem darum, den Staat aus allen kirchlichen und religiösen Angelegenheiten ihrer Gemeinden herauszuhalten. Hatten diese Siedler doch ihre Herkunftsländer meist als religiös verfolgte, protestantische Minderheiten verlassen müssen.

Anders in Frankreich. Dort war der Anti-Klerikalismus, der sich vor allem gegen die Katholische Kirche richtete, im Gesetz über die Trennung von Kirche und Staat vom 9. Dezember 1905 bestimmend. Der erste Paragraph dieses Gesetzes bestimmt ausdrücklich, dass die Republik die Gewissensfreiheit wahrt und freie Religionsausübung gewährt, sofern sie nicht die öffentliche Ordnung berührt. Der zweite Paragraph aber fügt hinzu, die „Republik anerkennt, besoldet oder subventioniert keine Religionsausübung.“ Zudem kennt das Gesetz von 1905 für die Kirchen eine einzige Zweckbestimmung: die Ausübung des Kultes. Die diakonische und karitative Tätigkeit wurde bewusst außer acht gelassen. Mit der Vierten Republik 1946 findet das Prinzip der Laizität Eingang in die französische Verfassung (Art. 1) und gehört heute zu den unumstößlichen Grundsätzen der Republik. Durch das Prinzip der Laizität soll die Neutralität des Staates garantiert und die Gleichheit aller Glaubensformen inklusive der Agnostik sichergestellt werden. Religiöse Überzeugungen sind somit reine Privatsache und werden weder mit Steuergeldern unterstützt noch in den republikanischen Institutionen repräsentiert. Heute hat selbst die Katholische Kirche ihren Frieden mit diesem Gesetz gemacht. Die Laïcité sei mit der römisch-katholischen Religion vereinbar, erklärten die französischen Kardinäle und Erzbischöfe bereits 1945. Alle Kirchengebäude, die vor 1905 errichtet wurden, werden vom Staat unterhalten. Die Geistlichen bekommen für diese kulturelle Leistung ein Gehalt. Wenn Kirchen und auch Moscheen staatliche Finanzquellen für Neubauten nutzen wollen, müssen sie als „Centre Culturel“ den Antrag stellen, nicht als religiöse Einrichtung. In den drei östlichen Departements Frankreichs wird die Kirche gemäß dem napoleonischen Konkordat von 1801 insgesamt vom Staat aus dem allgemeinen Steuertopf finanziert.

Religion will nicht verschwinden

Atheismus, mehr noch, Ablehnung jeglicher Art des Religiösen war der Sozialdemokratie des 19. Jahrhunderts in Deutschland selbstverständlich: Religion ist das „Opium des Volkes“ hatte Karl Marx gesagt. Und es macht ja keinen Sinn, den Menschen nur ihr Opium wegzunehmen, aber jene Zustände unverändert zu lassen, die schmerzlindernde Mittel nötig machen. Durch Aufhebung der Arbeitsteilung und des Privateigentums könnten die Zustände beseitigt werden, in denen der Mensch ein geknechtetes und ausgebeutetes Wesen ist. Dann wird dieser Fusel verdunsten, dieses billige Trostmittel Religion absterben und verschwinden, weil überflüssig geworden.

Nicht nur der Marxismus hat das vertreten. Die marxistische Kritik der Religion ist eingebettet in den großen Traditionsstrom der Aufklärung. Philosophen wie Auguste Comte (1798 bis 1857) und danach auch der Soziologe Émile Durkheim (1858 bis 1917) sagten den unausweichlichen Verfall der großen Religionen voraus. Durkheim nahm sogar an, dass in Europa der Katholizismus im Verlauf eines halben Jahrhunderts verschwunden sein werde. Die religionskritischen Schriften der UdSSR und der DDR haben sich an diese Gedanken festgeklammert. Und gibt es nicht unter den Linken im Lande genügend Leute, die meinen, Marx damit einen Gefallen zu tun, wenn sie das nur laut genug wiederholen?

Die Gesellschaft der BRD, in der wir uns bewegen, ist offen und verkappt erfüllt von religiösen Elementen, Organisationen und Strukturen. Zwar kann ein Staat sich von Religionsgemeinschaften, wie zum Beispiel den Kirchen, politisch und juristisch trennen. So steht es im Grundgesetz Art. 137 (1): „Es besteht keine Staatskirche.“ Allerdings, eine Trennung der Gesellschaft von Religion und Weltanschauung ist nicht möglich. Beide wollen nicht verschwinden. Verbieten geht nicht. Beide sind in dieser Gesellschaft als Ausdruck der Lebensform und Denkweise von Menschengruppen und Individuen vorhanden. Und: Sie sind grundsätzlich nicht „Privatsache“. Alle Handlungen, die staatlichen und die privaten, haben Außenwirkung, sind funktional öffentlich und politisch. Dies gilt fürs Rauchen, fürs Essen und Trinken ebenso wie für religiöses Gebaren. Auch die Frommen im Lande wollen nicht nur im stillen Kämmerlein singen und beten, sondern sich in örtlichen Gemeinden und überregional zusammentun. Das ist ihr gutes verfassungsmäßiges Recht.

Das Siegesgeheul derer, die heute von der „Wiederkehr der Religionen“ sprechen und triumphierend behaupten, die Säkularisierung sei nur ein „moderner Mythos“ gewesen, ist nicht zu überhören. Aber auch sie irren: Die alte religiös überwölbte Welt wird nicht wiederkehren. Die Wandlung der religiösen Zusammensetzung unserer Gesellschaft macht sich an nahezu allen Stellen des täglichen Lebens bemerkbar. Die Bundesrepublik Deutschland steht, wie andere Staaten Europas auch, vor der Frage, wie sie mit dieser sich seit einigen Jahrzehnten entwickelnden „religiösen Diversifizierung“ umgehen soll. Wenn es uns aber um eine Gesellschaft geht, in der unterschiedliche Kulturen mit ihren jeweiligen Religionen — keineswegs konfliktfrei — , aber in religiösem und weltanschaulichem Frieden leben können, dann haben alle Beteiligten es in der Hand, selbst einige hergebrachte Auffassungen neu zu durchdenken.

Die mehr und mehr ausdifferenzierte Gesellschaft kennt nicht mehr die eine einzig akzeptierte selbstverständliche Wahrheit. Die Entstehung des modernen Staates wird insofern auch als ein Prozess der Neutralisierung religiöser Wahrheitsansprüche bezeichnet. Der moderne Staat hatte sich in seinem Selbstverständnis von den absoluten religiösen Wahrheiten zu emanzipieren, um den Frieden zwischen gegenläufigen religiösen Parteien gewährleisten zu können. Er ist religiös neutral. Der weltanschaulich-religiöse Pluralismus entzieht der traditionellen Fixierung des Staats-Kirchenrechtes auf die beiden großen Kirchen in der religionspolitischen Diskussion und Praxis allmählich den Boden — zugunsten einer breiteren Perspektive auf Religionen und Weltanschauungen. Damit eröffnen sich neuartige Konstellationen von gesellschaftlichen Konflikten, für die Regeln formuliert werden müssen. Nicht nur Toleranz ist gefragt, wenn religiöse Konflikte drohen, ein friedliches Zusammenleben zu verhindern. Vielmehr ist politisch und gesetzlich positiv zu bestimmen, dass und auf welche Weise jedes Mitglied der Gesellschaft das Recht hat, sich zu den von ihm eingegangen Bindungen zu bekennen.

Religionsfreiheit

Das Bundesverfassungsgericht hat in der „Kopftuchentscheidung“, es ging um eine muslimische Lehramtsanwärterin, formuliert: Das Grundrecht der Glaubensfreiheit „erstreckt sich nicht nur auf die innere Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben, sondern auch auf die äußere Freiheit, den Glauben zu bekunden und zu verbreiten. Dazu gehört auch das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln. Dies betrifft nicht nur imperative Glaubenssätze, sondern auch solche religiösen Überzeugungen, die ein Verhalten als das zur Bewältigung einer Lebenslage richtige bestimmen.“ (BVerfGE 108, 282)

Dem Staat ist dabei der Auftrag zur Neutralität durch das Grundgesetz vorgegeben. „Neutralität“ meint dabei immer die Anerkennung der widerstreitenden religiösen Interessen als grundsätzlich gleichwertig. Der Verfassungsauftrag der Neutralität gegenüber den Religionen und Weltanschauungen und der praktisch und erfolgreich geordnete religiöse Frieden in der Gesellschaft bestehen aber nicht einfach beziehungslos nebeneinander. Sie entfalten Wirkung aufeinander. Denn diese „Neutralität“ ist selbst ein in Geschichte und Gesellschaft eingebetteter Begriff, deren friedensstiftende Praxis wiederum Einfluss auf die Auslegung der staatlichen Neutralitätspflicht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes hat. Auch das Grundgesetz enthält nicht, gleichsam wie eine „Heilige Schrift“, absolut und endgültig alle Antworten auf zentrale politische Fragen. Das käme der Sakralisierung der Verfassung gleich, die so zu einer Art Bibel der Zivilreligion avancierte. Zum Beispiel hängt die konkrete Ausgestaltung staatlicher Neutralität davon ab, welche religiöse und traditionelle Tradition an dem Ort, für den die gesetzgeberischen Entscheidungen zu treffen sind, vorherrscht. In der Praxis kann die notwendige Weite der staatlichen Neutralitätspflicht in einer multikulturell geprägten Schule, etwa in Berlin oder in Bremen, völlig anders beurteilt werden, als etwa in einer Schule, deren Umgebung und religiöse Tradition „unversehrt“ katholisch geprägt ist; beispielsweise in einer kleinen Stadt in Bayern. Man stelle sich umgekehrt den Tumult vor, wenn der Berliner Landesgesetzgeber planen würde, so wie es in Bayern Vorschrift ist, an Berliner Schulen ein Kruzifix in allen Klassenzimmern aufzuhängen.

Neutralität des Staates

Die täglich zu erlebende Realität in den Schulen macht eine staatliche Distanz beim Thema Religion nicht möglich. Der Träger einer Schule kann in der Praxis sich nicht, scheinbar konsequent, darauf zurückziehen, für seine Schule sei die geltende Neutralitätspflicht im Sinne einer „distanzierenden“ möglicherweise „religionsfernen“ Neutralität auszulegen. Und zeitgleich belehrt ihn ein Blick auf seinen Schulhof, wie Protestanten, Katholiken, russisch-orthodoxe Christen, serbisch-orthodoxe Christen, syrisch-orthodoxe Christen, Sunniten, Schiiten, Aleviten, Juden, Buddhisten und Hinduisten aufeinandertreffen und mitunter durchaus über religiöse Themen streiten. Diese jungen Menschen lassen ihren Glauben wie auch ihre religiösen Konflikte nicht morgens daheim in ihren vier Wänden. Religion, die Vielzahl ihrer Erscheinungsformen und auch entsprechende Konflikte, gehören genau so zur Schule, wie die Menschen, die sie besuchen. Die Schule als „religionsfreien“ Raum gibt es nur ohne seine religiösen Schüler. Die Pflicht zur ethisch-religiösen Neutralität umfasst die Verpflichtung des Staates, den religiösen Frieden in der Gesellschaft zu gewährleisten. Er muss gesetzgeberisch und zugleich befriedend handeln. Die gesellschaftlichen Akteure haben es selbst in der Hand, ob sie die religiöse oder anti-klerikale Keule gegeneinander schwingen wollen! Religiösen Frieden in der Gesellschaft zu gewährleisten, ist eine wesentliche Voraussetzung zum Erhalt des säkularisierten Rechtsstaates.

Karl-Helmut Lechner, Norderstedt

Abb, (Nur im PDF): 1415: Jan Hus wird zu Konstanz verbrannt; aus: „Das Merkwürdigste aus der Moral, Natur- und Weltgeschichte“, 1805

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