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s22 Kalenderblatt: 12. Juni 1989 – Europäische Union

01 Kampf um Anerkennung – Das europäische Arbeitsschutzgesetz

02 Das Institutionelle Geflecht des europäischen Arbeitsschutzes

03 Eine Geschichte der Arbeitsschutzplakate

04 „… durch Zwangsgesetz von Staats wegen … Gesundheitsvorrichtungen aufherrschen“

05 Germinal

01 Kampf um Anerkennung – Das europäische Arbeitsschutzgesetz

Verschleißende Fabrikarbeit war keine singuläre Erscheinung der frühen Industrialisierung. Entnervende und kurzgetaktete Arbeit am Fließband, Hitze und betäubender Lärm, Zwangshaltungen und das permanente Arbeiten mit schweren Lasten, kennzeichnen die Arbeitswirklichkeit in den 1960er und 70er Jahren in allen Industrieländern. Die Technikeuphorie der 50er und 60er Jahren, die von einer quasi automatischen Verbesserung der Arbeitsbedingungen durch technischen Fortschritt ausging, erwies sich als Fehleinschätzung.

Die 68er-Bewegung war nicht zuletzt auch eine Auseinandersetzung mit der „entfremdenden“ Fabrikarbeit. Die Kritik an den Ausbeutungsverhältnissen fokussierte auf die intensiven Formen der Schweißauspressung an den Bändern, ihren kurzen Taktzyklen und vielen Erscheinungen der durch die Fabrikdisziplin und tayloristische Arbeitsorganisation fundierten Arbeitsumgebung. Die Kritik ging quer durch Europa, einschließlich der strukturellen Kritik an der Trennung von Hand- und Kopfarbeit in der industriellen Fabrikorganisation. Diese allgemeine Kritik an den Produktionsverhältnissen war durch die Aktionen in den Betrieben bestätigt, wurde durch sie gespeist. Aber es ging damals ebenso um die soziale Anerkennung des Arbeitnehmers, es ging um Bürgerrechte im Betrieb und die Beteiligung an der Gestaltung der Arbeitsbedingungen.

Dies bildete den Hintergrund einer Debatte, die in der Verabschiedung der Europäische Rahmenrichtlinie für den betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutz am 12. Juni 1989 mündete. Zwar waren schon in früheren Dokumenten der Europäischen Gemeinschaften die Hebung der Arbeitsbedingungen und der Lebensstandards als Ziele formuliert worden, wie etwa die Empfehlungen für betriebliche Gesundheitsdienste von 1962, zwar gab es schon seit 1974 Aktionsprogramme für den Arbeits- und Gesundheitsschutz, zwar wurde eine sichere Arbeitsumgebung als Grundrecht ebenfalls im Jahre 1989 in der Europäischen Sozialrechtecharta verankert, dennoch setzte die Rahmenrichtlinie neue Standards.

Sie etablierte das Konzept der Arbeitsumwelt, das vorher in elf von zwölf Mitgliedsstaaten nicht bekannt war. Mit der Verpflichtung des Arbeitgebers, eine Risikobewertung aller möglichen negativen Einflussfaktoren am Arbeitsplatz durchzuführen, wurde ebenso ein Standard gesetzt wie mit der Hierarchie von Präventionsmaßnahmen, die bei der grundsätzlichen Beseitigung der Gefährdung anfängt und erst am Ende der Maßnahmenkette den Einsatz von persönlicher Schutzausrüstung vorsieht. Neu waren auch Standards bezüglich der Unterweisung der Beschäftigten und ihrer aktiven Teilnahme am betrieblichen Arbeitsschutz. Wurde mit der Rahmenrichtlinie vor allem die betriebliche Arbeitsschutzorganisation ausgestaltet, werden einzelnen Gefährdungen durch sogenannte Einzelrichtlinien bearbeitet. Heute besteht ein relativ umfassendes europäisches Arbeitsschutzrecht mit der Rahmenrichtlinie und 29 weiteren Einzelrichtlinien.1

Zu einem Perspektivwandel beigetragen haben allerdings auch Veränderungen in den institutionellen Arrangements des Feldes. Auf der einen Seite zeigt sich dies an der Vielzahl heute möglicher Beratung und den verzweigten Spezialgebieten des Arbeitsschutzes. Die Kritik an der Trennung von Planung und Ausführung ist heute tendenziell dem Bemühen gewichen, Fortschritte durch das Zusammenbringen von möglichst vielen Akteuren zu erzielen. Zwar wird weiter um die Anerkennung eines Skandals oder Problems und um angemessene Lösungen gerungen, aber die Verfahren haben sich verändert.

Auf der anderen Seite tragen zum Perspektivwechsel die institutionellen Veränderungen im politischen Raum bei. Der soziale Dialog zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften ist institutionalisiert und kann zu vertraglichen Abkommen führen, die dann auf Antrag zu europäischen Gesetzen werden. Daneben setzt heute das Instrument der Stellungnahmen zu Kommissionsentwürfen und eigene Initiativen, die vom Parlament, dem Rat, dem Wirtschafts- und Sozialausschuss, den Sozialpartnern und in vielen Fragen auch von anderen Einrichtungen oder dem einzelnen Bürger kommen können, einen Aushandlungsprozess in Gang, der prinzipiell ergebnisoffen ist. Die weiter unten kurz portraitierten Einrichtungen kooperieren in diesen Fragen.

Rolf Gehring, Brüssel

Quelle: Laurent Vogel: The machinery of occupational safety and health policy in the European Union – History, institutions, actors; Brüssel 2015

1 Die Einzelrichtlinien behandeln jeweils spezifische Gefährdungsbereiche, besonders schutzbedürftige Personengruppe oder spezielle Tätigkeiten.

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02 Das Institutionelle Geflecht des europäischen Arbeitsschutzes

Die hier kurz porträtierten Institutionen bilden heute einen Teil des Feldes, in dem der betriebliche Arbeits- und Gesundheitsschutz thematisiert, vorangetrieben, teils auch ausgehandelt wird. Sie versammeln Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, Wissenschaftler, Arbeitsinspektoren und Vertreter der Mitgliedsstaaten.

Die Stiftung von Dublin. Die erste Einrichtung diesses institutionellen Geflechts, die das Tageslicht erblickt, ist die Europäische Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen in Dublin. Sie wird 1975 eingerichtet. (1365/75/EWG)* Aus den Erwägungsgründen: „Die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der modernen Gesellschaft stellt immer zahlreichere und komplexere Probleme. Es ist wichtig, daß sich die auf diesem Gebiet in der Gemeinschaft erforderlichen Aktionen auf interdisziplinäre wissenschaftliche Grundlagen stützen können.“

* http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:01975R1365-20050804&from=DE
http://www.eurofound.europa.eu/

Ausschuss Hoher Arbeitsaufsichtsbeamter. Bereits im Jahr 1982 begann sich ein Ausschuss Hoher Arbeitsaufsichtsbeamter informell zu treffen, um der Kommission bei der Durchsetzung der EU-Gesetzgebung zu helfen und den gegenseitigen Erfahrungsaustausch zu pflegen. Mit einem Beschluss von 1995 (95/319/EC)* erhält der Ausschuss einen formalen Status.

*http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:31995D0319&from=EN

Der wissenschaftliche Ausschuss für Arbeitsplatzgrenzwerte. Dieser Ausschuss wird 1995 (95/320/EG)* eingesetzt. Er versammelt Wissenschaftler aus den Mitgliedsstaaten, die Stellungnahmen zu gesundheitsschädlichen Arbeitsstoffen abgeben und Vorschlägen für Grenzwerte machen.

http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:31995D0320&from=DE

Der Beratende Ausschuss. Aus dem Beschluss zur Einrichtung des Beratenden Ausschusses für Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz vom 22. Juli 2003 (2003/C218/01):* „Es empfiehlt sich, ein ständiges Gremium vorzusehen, um die Kommission bei der Vorbereitung und Durchführung der Tätigkeiten auf den Gebieten der Sicherheit und der Gesundheit am Arbeitsplatz zu unterstützen und die Zusammenarbeit zwischen den einzelstaatlichen Behörden, den Arbeitnehmer- und den Arbeitgeberorganisationen zu erleichtern.“ Beteiligt: Gewerkschaften, Arbeitgeber und Vertreter der Mitgliedsstaaten.

http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32003D0913(01)&from=DE

Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz. Die Agentur wurde am 18. Juli 1994 (2026/94/EG)* gegründet, ist in Bilbao ansässig und hat heute „Focal Points“ in allen Mitgliedsstaaten. Ihr Fokus: die Umsetzung des bestehenden Arbeitsschutzrechtes und eine aktive Unterstützung der Arbeitsschutzakteure.

https://osha.europa.eu/de, http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:31994R2062&from=DE

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03 Eine Geschichte der Arbeitsschutzplakate

Die Broschüre „Die Kunst des Arbeits- und Gesundheitsschutzes in Europa“ versammelt Poster zum betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutz, die eine Zeitspanne von fast hundert Jahren abdecken. Sie führt durch die verschiedenen Perspektivwechsel und Schwerpunktsetzungen, die der Arbeitsschutz genommen hat. Dabei behandelt er auch die Funktion von Plakaten und ihren Einsatz als pädagogisches Mittel, das auch ohne Kenntnis der Landessprache verstanden werden kann.

Stand im ausgehenden 19. Jahrhundert lediglich die Anerkennung von Arbeitsunfällen und ihre Kompensation im Fokus, entwickelte sich in der Folge ein Regelwerk von Normen und Vorschriften, die den betrieblichen Arbeitsschutz weiterentwickelten. Erst Ende der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts veränderte sich der instruktive Charakter der Plakate grundsätzlich. War nach dem zweiten Weltkrieg hier und da als neues Element Humor anzutreffen, wurde das Plakat mit der einsetzenden Kritik an den verschleißenden und monotonen Arbeitsbedingungen in den großen Fabriken auch ein Moment der Anklage. Vor allem: die Arbeiter traten als Aktive auf den Plan – die Beschäftigten beginnen Einfluss auf die Arbeitsgestaltung zu nehmen. Stellvertretend sei hier auf einen „Risikoplan“ für die Lackiererei hingewiesen, den Arbeiter eines Fiat-Werkes 1969 erstellten (Seite 35 der Broschüre) – der Anfang einer Bewegung, die heute mit dem Satz, „die Beschäftigten sind Experten in eigener Sache“, allgemeine Anerkennung gefunden hat.

Rolf Gehring, Brüssel

Kostenloser Download: www.etui.org/Publications2/Books/The-art-of-preventive-health-and-safety-in-Europe

Abb. (Nur im PDF): Die Broschüre ist vom Institut des Europäischen Gewerkschaftsbundes herausgegeben und liegt in mehreren Sprachen vor.

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04 „… durch Zwangsgesetz von Staats wegen … Gesundheitsvorrichtungen aufherrschen“

Marx’ Kapital bietet, namentlich im BandI, Mittel und Wege, Erfahrungen des Arbeitslebens politisch zu klassifizieren. Wird z.B. die „Vorstellung des Arbeiters*“ dem Arbeitsakt zugeordnet, ist Kritik von Abhängigkeit und Despotie ein Menschenrecht und die Emanzipation der arbeitenden Klassen ein kollektives Ziel. Heißt es, dass sich innerhalb des kapitalistischen Systems alle Methoden zur Steigerung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit auf Kosten des individuellen Arbeiters* vollziehen, wird politisches Engagement der Lohnabhängigen motiviert: „Und was könnte die kapitalistische Produktionsweise besser charakterisieren als die Notwendigkeit, ihr durch Zwangsgesetz von Staats wegen die einfachsten Reinlichkeits- und Gesundheitsvorrichtungen aufzuherrschen*?“ – Im langen Lauf der Zeit hat sich jedoch herausgestellt, dass für Produktivitätssteigerung vielseitig gebildete Arbeitskräfte immer interessanter wurden. Aus jedem Unternehmen kennt man immer noch die Neigung, auftretende Probleme auf Kosten der Abhängigen zu lösen, aber gesellschaftlich kommt auch das Interesse der Wirtschaft an gut ausgebildeten Kräften zum Tragen; das Ideal stumpfsinnigen Gehorsams („treu, dumm und stark“) gilt nicht mehr. Wenn Arbeit auch von gewinnorientierten Unternehmen nicht zur Qual gemacht werden muss, geschieht das tagtäglich doch und könnte ohne Politik, Demokratie, Mehrheiten und integrierende Ziele dominant werden. Angesichts der vielfältig und stark differenzierten Lebenslage kann sich ein politischer Gegenpol um spezifisch formulierte Interessenpunkte nicht gruppieren. Einen übergreifenden Bezugspunkt liefert die sozial ausbuchstabierte Idee der Menschenrechte.

Martin Fochler, München

Anmerkung. Die vor dem *stehenden Worte führen über google, Suchbedingung „site:“, zu den Textstellen. Beispiel: Vorstellung des Arbeiters site:http://www.mlwerke.de/me/me23/

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05 Germinal

Familien, ganze Generationen – Männer, Frauen, Kinder – haben die Bergwerke eingesogen, verschluckt. Ganze Regionen dem Leben mit und von der Kohle unterworfen. Immer war das Steigen in die Gruben auch ein ständiger Kampf um Erhalt von Gliedmaßen und Gesundheit, um Leben und das Überleben. Langer und schwerer Auseinandersetzungen hat es bedurft, das Risiko der Grubenarbeit zu senken und hartnäckiger Kämpfe, die Folgen der Grubenarbeit mit einer Rente zu mildern. Viele erinnern sich sicherlich noch wie lange es brauchte, bis die Bergarbeiter die Anerkennung der „Staublunge“ als Berufskrankheit endlich als gesetzliche Norm erreichen konnten.

Emile Zola veröffentlicht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts seinen Roman-Zyklus „Die Rougon-Macquart“, die Geschichte einer Familie im Zweiten Kaiserreich. „Germinal“ ist Teil dieses Zyklus und beschreibt Leben und Arbeiten in den nordfranzösischen Kohlengruben. Matthias Paykowski, Karlsruhe

Emile Zolas Werke sind weitgehend ins Deutsche übersetzt. Eine große Auswahl ist als eBook bei http://gutenberg.spiegel.de/autor/emile-zola-663 kostenlos zugänglich.

Abb.: (PDF): Werbung für Germinal in der Zeitschrift Gil Blas vom 25. November 1884, Wikipedia

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