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s06 Türkei im Ausnahmezustand – Kurdistan unter Zwangsverwaltung: Was kommt noch?

Die rechtswidrigen Notstandsverordnungen gehen weiter: Drei neue Regierungsdekrete. Hişyar Özsoy

Martina Michels (MdEP): Pogromstimmung gegen politische und gesellschaftliche Opposition

HDP-Co-Vorsitzender Selahattin Demirtaş an den EUTCC-Kongress

Wirtschaftsausblick Winter 2016/17 – Türkei

Seit dem Putschversuch im Juni 2016 ist über die Türkei der Ausnahmezustand verhängt und wird von Erdogan mit Notstandsdekreten regiert. Die Folgen sind bekannt: Jegliche Opposition wird unterdrückt, soll zum Schweigen gebracht werden. Aber nicht nur Medien, Vereine, Organisationen, Schulen, Universitäten wurden verboten, Staatsbedienstete entlassen sowie mehrere Zehntausend inhaftiert, auch Firmen und Konzerne wurden beschlagnahmt oder stillgelegt. Zig kurdische Bürgermeister sitzen in Haft, die Stadtverwaltungen sind unter Zwangsverwaltung meist der Gouverneure gestellt, elf Parlamentsabgeordnete der HDP sind im Gefängnis, zwei haben sich der drohenden Inhaftierung entzogen und sind in Europa. Die Wirtschaft der Türkei befindet sich in einer tiefen Krise. Der Tourismussektor ist eingebrochen und die türkische Lira hat seit Juni gegenüber dem Dollar um 15 Prozent an Wert verloren. Zudem kosten die Militäreinsätze in Syrien, dem Irak und in den türkischen kurdischen Provinzen Milliarden Lira. Die Zeiten der staatlichen Förderung der Mittelschichten durch die AKP sind vorbei. Die Gülen-Bewegung hatte dieses Konzept mit der AKP erfolgreich umgesetzt und so neue Wählerschichten erschlossen. Auch hier droht Erdogan ein neuer Konflikt.

Außenpolitisch ist die Türkei auf dem Weg in die politische Isolation. Der Krieg des IS im Irak und Syrien hat die gesamte Region endgültig destabilisiert. In Syrien und im Irak schwankt die Türkei im US-amerikanischen und russischen Machtkonflikt hin und her. Der russisch-türkische Versuch einer syrischen Friedenskonferenz ist jetzt schon gescheitert. Die Syrienpolitik Erdogans ist nur noch auf die Verhinderung einer kurdischen Autonomieregion ausgerichtet und der syrische Militäreinsatz höchst verlustreich. Und Erdogan droht mit einem weiteren militärischen Abenteuer im Irak, wo er türkische Truppen gegen das irakische Hauptquartier der PKK an der Grenze zusammenzieht. Dem Militär ist seit dem Putschversuch ein Großteil seines Führungspersonals durch Entlassung und Inhaftierung abhanden gekommen. Zuletzt wurde per Dekret dem Generalstabschef ähnlich wie dem Chef der Jandarma die Führungskompetenz entzogen und auf Erdogan übertragen. Offen wird in der Türkei über die sinkende Moral der Kampfeinheiten gesprochen.

In dieser Gemengelage verhandelt das türkische Parlament seit letzter Woche den Verfassungsentwurf der AKP zur Einführung des Präsidialregimes. Damit soll der Regimewechsel in der Verfassung verankert und das parlamentarische System in der Türkei beerdigt werden. Sicher kann sich Erdogan dabei noch nicht sein. Geschätzte 40 Prozent der AKP-Abgeordneten sollen der Gülen-Bewegung angehören. Auch nicht alle Stimmen der MHP-Abgeordneten sind sicher, deren Vorsitzender Bahceli die Verfassungsänderung mit ausgearbeitet hat. Um die Opposition in den eigenen Reihen zum Schweigen zu bringen, will Erdogan die Verfassungsänderung per Handzeichen offen abstimmen lassen. CHP und HDP sind gegen die Verfassungsänderung. Erhält der Verfassungsentwurf mehr als 367 Stimmen, ist diese angenommen. Stimmen 330 bis 367 Abgeordnete dafür, muss eine Volksabstimmung stattfinden. Auch da kann sich Erdogan nicht sicher sein. Umfragen zufolge sind derzeit auch nur 40 bis 45 Prozent für eine solche Verfassungsänderung.

So wird sich die innenpolitische Situation weiter verschärfen und die islamistisch-nationalistische Stimmungsmache im Land weiter angeheizt werden. Lynchmobs haben die HDP-Büros verwüstet. Sie werden auch vor der CHP keinen Halt machen. Mithat Sancar (HDP), Mitglied der Verfassungskommission des türkischen Parlaments, sagte, dass mit dem Verfassungsentwurf dem parlamentarischen System der Todesstoß versetzt werde. Die Türkei wird eine andere sein, ein Willkürstaat. Rudolf Bürgel, Karlsruhe

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Die rechtswidrigen Notstandsverordnungen gehen weiter: Drei neue Regierungsdekrete. Hişyar Özsoy, Stellvertretender Ko-Vorsitzender und Außenbeauftragter der HDP, 11.1.2017

Am 6. Januar 2017 hat die AKP-Regierung drei neue Verordnungen mit Gesetzeskraft erlassen, die 8.398 weitere Angestellte des öffentlichen Dienstes und 649 Akademiker aus ihren Ämtern verbannt und 83 weitere zivilgesellschaftliche Organisationen verbietet. 30 der entlassenen Akademiker sind Unterzeichner des Friedensaufrufs.

Nach Aussage von Menschenrechtsorganisationen wurden mit den 13 Dekreten, die die Regierung seit dem 23. Juli 2016 erlassen hat, insgesamt 95.744 Angestellte des öffentlichen Dienstes entlassen und 1.487 zivilgesellschaftliche Organisationen ohne Gerichtsbeschluss verboten. Regierungsquellen geben an, dass die Zahl der aus dem Staatsdienst Entlassenen, bis zum 10. Januar 2017, auf 135 000 gestiegen ist.

Die jüngsten Dekrete beinhalten weitere rechtswidrige Maßnahmen in Verbindung mit der Nutzung von sozialen Medien sowie den Entzug der Staatsbürgerschaft. Neue Bestimmungen verpflichten Internetanbieter dazu, persönliche Informationen über ihre Kunden ohne Gerichtsbeschluss an die Polizei weiterzugeben, was eine offenkundige Verletzung der Ausdrucks- und Gedankenfreiheit darstellt. Angesichts Tausender Verhaftungen und Verfahren aufgrund von Beleidigung und Propaganda in sozialen Medien ist dies ein weiterer unmissverständlicher Schritt in Richtung Verfolgung und Erstickung aller oppositionellen und kritischen Stimmen auf dieser Plattform.

Hinsichtlich der Ausbürgerungen sieht der Erlass vor, dass Strafverfolger das zuständige Ministerium informieren, wenn sie in Erfahrung bringen, dass sich Staatsbürger außer Landes befinden, die einer Straftat gegen die verfassungsmäßige Ordnung beschuldigt werden oder gegen die ein entsprechendes Strafverfahren läuft. Das Ministerium wird dann über das Amtsblatt eine Anordnung veröffentlichen, die diese Staatsbürger zur Rückkehr in die Türkei auffordert. Wenn sie dieser Anordnung nicht innerhalb einer Frist von drei Monaten nachkommen, steht es der Regierung frei, ihnen die Staatsbürgerschaft zu entziehen.

Diese Säuberungsaktionen, die den Staatsapparat von „unerwünschten“ Angestellten, die Universitäten von unerwünschten Akademikern, die Zivilgesellschaft von unerwünschten Organisationen, die sozialen Medien von unerwünschten Stimmen und schlussendlich das ganze Land von unerwünschten Staatsbürgern säubern, sind Schritte hin zu der sich abzeichnenden Ein-Mann-Herrschaft in der Türkei und gleichzeitig auch Merkmale dieser.

Daher müssen diese Säuberungsaktionen in Zusammenhang mit der Säuberung kurdischer Stadtverwaltungen und des Parlaments von „Unerwünschten“ betrachtet werden: Zwölf HDP-Abgeordnete, inklusive unserer beiden Ko-Vorsitzenden, 74 Ko-Bürgermeister sowie tausende kommunale Verwaltungsangestellte und Parteimitglieder wurden festgenommen und inhaftiert. Die Abgeordnete von Sirnak, Frau Leyla Birlik wurde kürzlich entlassen; die Zahl der inhaftierten HDP-Abgeordneten liegt somit nun bei elf.

Trotz dieser überaus düsteren Umstände ist die HDP entschlossen, ihren demokratischen Kampf für die Völker der Türkei weiterzuführen.

(Quelle: civakaazad.com)

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Martina Michels (MdEP): Pogromstimmung gegen politische und gesellschaftliche Opposition

19.12.2016. Ein furchtbarer Anschlag auf eine der Elitegruppen der türkischen Armee tötete im anatolischen Kayseri 14 Soldaten und verletzte 50 weitere Soldaten schwer. Es waren jene Truppen, die wesentlich an der Verwüstung und Vertreibung in Cizre, Nusaybin und Sur beteiligt waren, die bis zu den Nachforschungen des UN-Hochkommissars für Menschenrechte, Said Raad al-Hussein, im Fokus der Verletzung rechtsstaatlicher Prinzipen stehen. Die HDP lehnt Gewalt in der politischen Auseinandersetzung ab, verurteilte den gescheiterten Putsch vom 15. Juli dieses Jahrs genauso wie die jüngste Autobombe in Kayseri. Trotzdem wird sie immer massiver zur Zielscheibe eines Rachefeldzuges von AKP-Anhängern, Rechtsextremen und Regierungsgetreuen. Mit den Verhaftungen und der unmenschlichen Unterbringung der Vorsitzenden der HDP in Haftanstalten und vieler weiterer Abgeordneter, Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, hat die Regierung die politische Opposition elementarer Rechte beraubt und weitgehend mundtot gemacht.

Zu den Folgen äußert sich Martina Michels, stellvertretendes Mitglied der parlamentarischen Delegation EU-Türkei:

„Dabei stand die HDP nicht nur für die Lösung des Kurdenkonflikts, sondern für eine multiethnische, demokratische Erneuerung der Türkei, wie der Abgeordnete Ali Atalan in Berlin auf dem EL-Kongress nochmals betonte. Bei diesen Angriffen auf die HDP sollten wir weder übersehen, dass längst auch die CHP zur Zielscheibe der Anhänger Erdoğans wird und der blindwütige Hass der regierenden AKP sich seit Monaten gegen Minderheiten, Medienleute, Frauen und KurdInnen richtet. Unsere Solidarität mit der HDP müssen wir konsequenter mit der Anforderung verbinden, der EU den Spiegel vorzuhalten und besonders dem Europäischen Rat und der EU-Kommission unmissverständlich ihren eigenen Beitrag und das Wegschauen beim Aufstieg des Autokraten Erdoğan anzukreiden. Wer bei Erdoğans verkündeter nationaler Mobilmachung und seinem ‚Kampf gegen den Terror‘ schweigt, ist mitschuldig an Verbrechen gegen Demokratie und Menschenrechte.“

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HDP-Co-Vorsitzender Selahattin Demirtaş an den EUTCC-Kongress

Wir befinden uns in einer historischen Phase, in welcher die Völker des Mittleren Ostens aufgrund von Krieg, Zerstörung und Flucht großes Leid erfahren müssen. Das gesellschaftliche und politische Trauma, das unserer Region mit dem Sykes-Picot Abkommen vor 100 Jahren aufgelastet wurde, erreicht somit einen neuen Höhepunkt. Die Herrscher der Nationalstaaten in unserer Region versetzen mit ihrer polarisierenden und gewaltorientierten Politik den Hoffnungen der Völker auf eine Befreiung aus der gegenwärtigen Sackgasse schwere Schläge. Das offensichtlichste Beispiel hierfür ist die Politik, die das Erdoğan-Regime innerhalb und außerhalb der Türkei führt. Diese aggressive Politik greift in direkter Weise die sozialen und politischen Beziehungen an, die ein friedliches Zusammenleben der Völker ermöglichen.

Ich begrüße Sie mit meinem unerschütterlichen Glauben an Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit. Ich wäre sehr gerne unter Ihnen gewesen, um mit Ihnen, meinen Freundinnen und Freunden, über den Mittleren Osten und unsere Hoffnungen zu sprechen. Ich danke allen, die an der Organisation der Konferenz mitgewirkt haben. Mein Dank geht an das EUTCC, sowie an die Fraktionen der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament (S&D), der Vereinigten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL) und der Fraktion der Grünen / Freie Europäische Allianz. Ein besonderer Dank geht auch an den Präsidenten des Europäischen Parlaments, an Herrn Martin Schulz, für seine Gastfreundschaft.

Die Verhaftungen von Abgeordneten der HDP, von Bürgermeistern und Politikern können nicht unabhängig von der Krise des Mittleren Ostens betrachtet werden. Diese Verhaftungen, die in solcher Form eigentlich nur bei Militärputschen oder in diktatorischen Regimen vorkommen, werden uns nicht davon abhalten, unseren gerechten politischen Kampf fortzuführen. Auch wenn wir uns im Gefängnis befinden, so wird unser Kampf für Freiheit und Demokratie weitergehen.

Aus diesem Grund erachte ich Ihre Konferenz als eine gute Gelegenheit, um die Entwicklungen in der Türkei und im Mittleren Osten richtig zu bewerten, zu verstehen und darauf aufbauend tätig zu werden. Ich begrüße deshalb nochmals alle RednerInnen und TeilnehmerInnen der Konferenz aufs Innigste.

Selahattin Demirtaş, Edirne F-Typ Gefängnis, 2. Dezember 2016

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Wirtschaftsausblick Winter 2016/17 – Türkei

Die Germay Trade&Invest (GTAI) eine vom Bundeswirtschaftsministerium geförderte Einrichtung zur Beurteilung internationaler Wirtschaftsentwicklungen berichtete am 16. Dezember über die Aussichten für die Türkei mit den Schlagzeilen: „Wirtschaftsentwicklung: Zunehmende Verunsicherung wegen politischer Risiken / Investitionen: Deutliche Zurückhaltung bei neuen Projekten / Konsum: Wachstum wird vom privaten Verbrauch getragen / Außenhandel: Exporteinbruch auf regionalen Absatzmärkten / Deutliche Konjunkturabschwächung erwartet“. Im einzelnen heißt es:

„Vor allem die starke Abwertung der Türkischen Lira (TL) dürfte sich negativ auf die Konjunktur auswirken. Eine schwache Landeswährung verteuert die Importe und führt zu Kaufkraftverlusten bei den inländischen Konsumenten. Gleichzeitig erhöht sie die Verbindlichkeiten der einheimischen Firmen, die Kredite in Fremdwährung aufgenommen haben.

Die ausländischen Direktinvestitionen brachen im 1. Halbjahr 2016 um 46% auf 3,8 Mrd. US$ ein. Die Bruttoanlageinvestitionen gingen im gleichen Zeitraum real um 0,3% zurück.

Das türkische Wirtschaftswachstum stützt sich zurzeit ausschließlich auf den Verbrauch. Laut Statistikamt TÜIK erhöhte sich der private Konsum im 1. Halbjahr 2016 gegenüber dem Vorjahreszeitraum real um 6,1%. Der Staatsverbrauch legte sogar um 13,5% zu.

Der türkische Außenhandel ist seit 2015 infolge der Konjunkturschwäche und der Exporteinbrüche auf den nahöstlichen Nachbarmärkten rückläufig. Die Prognosen der Europäischen Kommission, die den Handel mit Waren und Dienstleistungen berücksichtigen, gehen für 2016 von einem Exportrückgang von 1,5% und für 2017 von einem Zuwachs von 3,5% aus. Bei den Importen sagt die Kommission für 2016 und 2017 einen Anstieg von 5,0% beziehungsweise 4,0% voraus.

Der schrumpfende Außenhandel brachte 2016 auch positive Effekte mit sich. Der zu einem erheblichen Teil auf die relativ niedrigen Ölpreise zurückzuführende Importrückgang führte zu einer Verbesserung der Handels- und Leistungsbilanz. Dennoch bleibt der Anteil des Leistungsbilanzdefizits am BIP mit geschätzten 4,3% im Jahr 2016 und prognostizierten 4,2% im Jahr 2017 vergleichsweise hoch.

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