Text ausPolitische Berichte Nr. 1/2017 - Link zum PDF

s18 Information zum 29. Parteitag der CDU

6. bis 7. Dezember 2016, Essen*

1. Der Leitantrag

Der Leitantrag hat die Funktion, Positionen für die Erarbeitung des Bundestagswahlprogramms zu bestimmen; dieses Programm soll ab Januar 2017 erarbeitet und im Sommer beschlossen werden.

Das Grundmotiv wird in der Einleitung unter der Überschrift „Wo wir stehen:“ eingeführt. Erstens: Die vergangenen 11 Jahre der Kanzlerschaft Angela Merkels waren gute Jahre, gemessen an Arbeit, Wirtschaft und Staatsfinanzen. Zweitens: Sorgen machen sich die Menschen „über Krisen und Entwicklungen in unserer europäischen Nachbarschaft und in anderen Regionen weltweit“ und über die Beschleunigung der Globalisierung und das Tempo der digitalen Veränderung. Drittens: Auf immer komplexere Probleme gibt es einfache, populistische Antworten (die keine sind) – und es gibt die der CDU: Orientierung und konkrete Lösungen.

Die Analyse bewegt sich, so wie die Positionsbestimmungen, in diesem engen Rahmen. Kein Wort von den Problemen im Land, von sozialer Spaltung, Armut und Reichtum, abgehängten Regionen, den alltäglichen Sorgen und Nöten von Millionen Menschen. Nichts davon, was als Ursachen und Bedingungen, dann Gründen für Abwendung, Verachtung, schließlich auch Hass auch den Staat und dessen Repräsentanten, gar die Gewalt gegen alles Fremde, Schwächere, Andere anzuführen wäre. Man beschwört die eigenen Werte und schreibt einen ganz gegen all dies stehenden Satz: „Wir stehen für eine freie, offene, solidarische und pluralistische Gesellschaft, in der sich alle entfalten können, aber niemand zurückgelassen wird.“ Dies und die Staatsräson (Die Achtung der Würde jedes einzelnen Menschen und die daraus folgenden Grund- und Menschenrechte, die Bejahung des freiheitlich demokratischen Rechtsstaats, das Bekenntnis zur Sozialen Marktwirtschaft, die Mitgliedschaft in der Europäischen Union, das transatlantische Bündnis und die Mitgliedschaft in der Nato, das Bekenntnis zum Existenzrecht Israels) sind das, was den Orientierungsrahmen abgeben soll.

Im ersten Kapitel, überschrieben mit „Wohlstand. Arbeit und soziale Sicherheit für alle“, legt sich die CDU finanzpolitisch darauf fest, keine neuen Schulden zu machen und die Steuern nicht zu erhöhen. Es soll keine Verschärfung der Erbschaftssteuer und keine Vermögenssteuer geben. Steuermehreinnahmen sollen zu je einem Drittel für Investitionen in Infrastruktur und zur Förderung von Zukunftsfähigkeit in allen Bereichen, zur Steuersenkung vor allem von Familien und Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen sowie zur Finanzierung von notwendigen Ausgabensteigerungen, zum Beispiel zur Erfüllung unserer außen- und sicherheitspolitischen Aufgaben, und zur Schuldentilgung genutzt werden.

Der Fachkräftebedarf soll durch höhere Erwerbsquote von Frauen, längeres Arbeiten Älterer, Förderung von Jugendlichen aus „bildungsfernen Schichten“ sowie gezielte Anwerbung ausländischer Fachkräfte gedeckt werden.

Immer wieder wird die Digitalisierung aller Wirtschafts- und Lebensbereiche thematisiert. Auffällig dabei, dass das Motto der CDU eher „Dabeisein ist alles!“ scheint als dass sie die Herausforderung erkennt, die darin liegt, gesellschaftliche Entscheidungsprozesse darüber zu initiieren, welche technischen Innovationen denn staatlich zu subventionieren und zu fördern seien und welche eher nicht gewollt werden.

Nicht neu ist auch das Bekenntnis, weiterhin die Wirtschaft vor neuen Regulierungen zu schützen, man verkauft es populär als Bürokratieabbau und offeriert zugleich, „…in Deutschland die bürger- und unternehmerfreundlichste öffentliche Verwaltung Europas zu realisieren.“ Ein bundesweites Bürgerportal und ein digitales Bürgerkonto sollen eingerichtet werden.

Das Bekenntnis zu gleichwertigen Lebensverhältnissen bleibt sachlich leer, ebenso der kurze Passus zu Gesundheit, Pflege und Rente. Bemerkenswert ist folgender Passus: „Weniger als vier Prozent sind auf zusätzliche Leistungen der Grundsicherung zur Vermeidung von Altersarmut angewiesen. Wir wollen, dass dies auch künftig so bleibt.“ Es sind dies, grob gerundet, wohl etwa 500 000 ältere Menschen.

Das zweite Kapitel widmet sich dem Thema „Familien und gesellschaftliche Mitte stärken“. Es bleibt erstaunlich blutleer, man will ein Familiensplitting, jungen Familien die Eigentumsbildung, hauptsächlich Wohneigentum, erleichtern und es sollen die Probleme benachteiligter Jugendlicher in den Blick genommen werden. Nach 11 Jahren Regierung ein schöner Vorsatz, der freilich gleich wieder an ein Bekenntnis zu leistungsorientierter Bildung, man sagt vornehm „anspruchsvolle Bildungsangebote“, also zum selektiven Bildungssystem gedämpft wird.

Das dritte Kapitel ist überschrieben mit „Zusammenhalt und Identität stärken“. Leitkultur und Schicksalsgemeinschaft werden beschworen. Man will starke Kommunen, denn: „Unsere Antwort auf Globalisierung ist Heimat“.

Deutschland habe eine christlich-jüdische Geschichte, Muslime dürfen ihren Glauben hier ausüben. Immerhin. Und dann steht da noch der Satz: „Politisch-religiöse Einflussnahmen aus dem Ausland lehnen wir ab und werden wir künftig noch konsequenter unterbinden“. Wie wohl der Papst darüber denkt? Der Rest sind Phrasen zur Schule und ihrem Erziehungsauftrag, Werte wären ZU vermitteln, zum Ehrenamt, das ZU loben sei sowie ZU nationaler Identität, die wieder zunehme, Gott sei Dank!

Die CDU sei die Partei der inneren Sicherheit, so heißt es im vierten Kapitel mit der Überschrift „Sicher und frei leben“. Mehr Befugnisse für Sicherheitsbehörden und Justiz, bessere Ausstattung und mehr Personal soll es geben. Dazu sollen Strafverschärfungen bei Wohnungseinbrüchen geben und Mindeststrafen plus zügige Verfahren für Wiederholungstäter. Natürlich ist auch mehr Videoüberwachung geplant. Das Versprechen einer schnellen und konsequenten Justiz klingt am Stammtisch gut, leider enthält der Leitantrag keinerlei Hinweis auf die tatsächlichen Probleme etwa der Gerichte. Ohne Diagnose aber keine Therapie, sondern nur Scharlatanerie. Den Einsatz der Bundeswehr im Innern ZU ermöglichen bleibt feste Absicht der CDU. Man will die „Europäische Sicherheits- und Verteidigungsunion“ voranbringen, mit konkreten Schritten, versteht sich.

Kapitel fünf, „Flüchtlinge und Integration“, ist das umfangreichste des Leitantrags. Es beschreibt den Stand, Schließung der Balkanroute usw., fordert ein europäisches Einreisesystem und eine europaweite Vereinheitlichung von Asylverfahren und -Entscheidungen – einschließlich einer Harmonisierung der Sozialstandards. Ansonsten geht es die Ausweitung der sogen Migrationspartnerschaften, um Flüchtlinge von Europa fern ZU halten sowie um entschiedene Abschiebe- praxis. Erweiterung des sogen. Haftgrundes, Verlängerung des Ausreisegewahrsams, Wiedereinreisesperre drakonische Maßnahmen bei falschen Angaben sollen rasch greifen. SPD und Grüne sollen endlich im Bundesrat der Einstufung von Algerien, Marokko und Tunesien als sichere Herkunftsstaaten zustimmen. Die übrig gebliebenen „richtigen“ Flüchtlinge sollen dann eine bessere Bleibeperspektive bekommen. Arbeit und Ausbildung sollen einfacher zugänglich werden, wobei der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit nicht gelten soll.

Der Stammtisch bekommt den üblichen Unfug über „Parallelgesellschaften“ ZU lesen, geltendes Recht wird wie eine neue Sache dargestellt, etwa wenn Ehrenmorde ZU verfolgen seien. Natürlich lehnt die CDU die Vollverschleierung ab und will sie „unter Ausschöpfung des rechtlich Möglichen“ verbieten.

„Europa stärken, gemeinsam Globalisierung gestalten“ – das ist die Überschrift des sechsten Kapitels des Leitantrags. Im Kern legt der Leitantrag die Logik offen, nach der die CDU das „Europäische Projekt“ betrachtet. Deutschland sei nicht stark genug, seine Interessen allein in der Welt zu vertreten. Und mit dem Satz, dass deutsche Interessen und europäische Interessen kein Gegensatz seien, leitet man ZU den Passagen über, worin dann die deutschen Interessen als europäische Interessen vorgestellt werden: Es gehe um die Schaffung von Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitsplätzen, um die Vorbereitung auf den technologischen Wandel, um die Gewährleistung der inneren und äußeren Sicherheit und die Lösung der Flüchtlingssituation.

Der Rest bringt nichts Neues, das Bekenntnis ZU CETA und TTIP, ZU umwelt- und klimaverträglichem Wachstum, der marktwirtschaftlichen Ausrichtung des Ausbaus erneuerbarer Energien und, nach dem europäischen Alpha der deutschen Interessen zum Schluss das europäische Omega der transatlantischen Partnerschaft.

ES folgt ein Ausblick von vier Sätzen, von denen der eine immerhin ein akzeptables Bekenntnis ist; „Wir setzen auf Offenheit und die Einhaltung von Regeln und Vereinbarungen und nicht auf Abschottung und Protektionismus.“

2. Die Rede von Angela Merkel

Die Welt ist aus den Fugen geraten, unübersichtlich und die Kraftzentren neu auszubalancieren. Welche Aufgaben ergeben sich nach diesem Befund für die Politik? Erstens der Kampf gegen den islamischen Terror. Zweitens müssen alle Fragen von Krieg, Verfolgung und Flucht behandelt werden. Drittens geht es um eine bessere Regulierung der Finanzmärkte, viertens darum, dass große Konzerne Steuern zahlen. Fünftens muss die Wettbewerbsfähigkeit Europas gestärkt werden und sechstens die europäische Sicherheitsarchitektur. Siebtens muss der Herausforderung durch Migration entschiedener begegnet werden.

Das ist Angela Merkels politische Agenda. In ihrer Rede beschreibt sie sodann die Bedingungen, unter denen diese Agenda zu verfolgen wäre und präzisiert die Ziele. Europa ist nicht stärker, sondern schwächer geworden. Darum kommt es zunächst darauf an, die Lage zu stabilisieren;

„Wir müssen in dieser Lage, in der die Welt aus den Fugen geraten ist, zunächst alles daran setzen, dass Europa nicht noch schwächer aus den Krisen hervorgehen wird, als es in sie hineingegangen ist.“ Und weiter; „Die Lage zwingt uns mehr denn je, erst einmal das zu schützen und zu bewahren, was uns in Deutschland und Europa mit unseren trans-atlantischen Partnern stark gemacht hat und auch weiter stark machen wird.“

Zu diesem konservativen Szenario passt, dass Merkel gewissermaßen „Rote Linien“ für Europa fixiert, hinter die es kein Zurück geben kann, es sind die vier europäischen Grundfreiheiten.

Man darf sich allerdings dieses konservative Szenario nicht platt vorstellen;

„Es gibt kein Zurück in die Welt vor der Globalisierung.“ Heißt, Nur wer sich dem globalen Wettbewerb stellt, kann bewahren, „was und lieb und teuer ist“. Und in diesem Wettbewerb sieht Merkel drei Konstanten des eigenen politischen Handelns; Erstens die Gestaltung der Sozialen Markwirtschaft, zweitens die Offene Gesellschaft („Wir setzen alles daran, dass unser Land auch in Zukunft ein Land ist, das für Freiheit in Verantwortung, für Toleranz und Weltoffenheit, für Fairness und Zusammenhalt steht.“) und drittens der Rechtsstaat, der für „…Sicherheit und Ordnung, Recht und Gesetz.“ sorgt. Das alles dann wird im Leitantrag konkret vorgestellt.

Eine Zuspitzung ist von besonderer Wichtigkeit, das ist die Frage der der europäischen Außengrenzen;

„Was sind die zentralen Aufgaben der Europäischen Union? Ich glaube, es ist richtig zu sagen: Lassen wir uns konzentrieren auf die innere und äußere Sicherheit. Man kann einen gemeinsamen Binnenmarkt nur dann haben, wenn man auch einen Raum der Sicherheit hat. Dazu gehört der Schutz der Außengrenzen. Hier haben wir lernen müssen.“

Die Rede Angela Merkels kann als eine klare Antwort auf den Rechtspopulismus der AfD verstanden werden. Sie ist gewiss nicht in die Richtung der SPD gehalten worden, diese Partei kommt ebenso wenig wie die Grünen tatsächlich in der Rede vor. Warum auch.

Anzumerken ist, dass Merkel eine für den Wahlkampf zum Bundestag 2017 relevante Unterscheidung macht. Politik machen will sie für diejenigen Menschen, „… die hart arbeiten … (und) Steuern zahlen.“. Für den Rest, immerhin die Hälfte der Haushalte, wird in ihrem Szenario gesorgt. In dieser Logik macht es Sinn, wenn die Parteivorsitzende und Kanzlerin behauptet, das Angebot der CDU richte sich an alle Menschen in Deutschland.

3. Die Wahl der CDU-Führung

Die Führung der CDU wurde beinahe komplett bestätigt. Dabei spielen die Ergebnisse nicht wirklich eine Rolle, dass der unter großer Spannung stehende CDU-Parteitag mit dem Beschluss gegen den Doppelpass nicht nur eine politische Sollbruchstelle nutzte, sondern auch die Wahlen, um Druck abzulassen, ist angesichts der Kontinuität des Spitzenpersonals fast belanglos zu nennen.

Es wurden also die Vorsitzende und ihre fünf Stellvertreter*innen wiedergewählt. Aus dem Präsidium schieden Emine Demirbüken-Wegner und Stanislaw Tillich aus, letzterer bekam allerdings eine beratende Stimme fürs Präsidium. Neu dabei sind Monika Grütters und Thomas de Maiziere, zwei Kabinettsmitglieder; die Länder sehen sich im Präsidium geschwächt.

Harald Pätzolt, Berlin

* D.A.: Eine Dokumentation aller Beschlüsse lag zum Zeitpunkt des Abschlusses der Information noch nicht vor.

**Red.: Die Politischen Berichte danken für die Genehmigung zum Nachdruck.

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