Text ausPolitische Berichte Nr. 1/2017 - Link zum PDF

s22 KALENDERBLATT – 5. SEPTEMBER 1899 DÄNEMARK

Der September-Vergleich – Das Recht auf kollektive Vereinbarungen wird erstritten

Zitat aus dem September-Vergleich:

Søren Kierkegaard: „Entweder — Oder!“

H.C. Andersens Märchen: Schule des Mitgefühls

Hinweis: Einführung der kollektiven betrieblichen Altersversorgung 1990“

Der „September-Vergleich“ wurde zwischen „De samvirkende Fagforbund“ (DsF, Berufsverband der Arbeitnehmer) und „Dansk Arbejdgiver- og Mesterforening“ (DA, Dänischer Arbeitgeber- und Meister-Verband) nach dreimonatiger Aussperrung am 5. September 1899 geschlossen. Der Vergleich bildete den Abschluss des umfassendsten Arbeitskampfes, den Dänemark je erlebt hat, und er fand in einer turbulenten Phase für die junge dänische Gewerkschaftsbewegung statt. Im Jahr zuvor war der DsF mit dem Ziel gegründet worden, eine Streikkasse zu führen und Streikbewegungen durch die Zuteilung finanzieller Unterstützung seitens der Gemeinschaft zu ermöglichen. Die Zeit war von Unruhen auf dem Arbeitsmarkt mit vielen kleineren Streiks geprägt, und die sozialistischen Ideen des Zusammenschlusses, der Solidarität und einer Umwälzung der Gesellschaftsordnung begannen sich in der dänischen Arbeiterklasse nachhaltig zu verankern. Die Arbeitgeber kämpften gegen die Gewerkschaften, und zwischen Arbeitgebern und Dänischem Arbeitgeber- und Meisterverband krachte es wegen einer aggressiven Einschreibungskampagne gegenüber den Arbeitgebern.

April 1899: Der Auftakt zum großen Konflikt

Die große Aussperrung begann mit einer Reihe kleinerer Streiks der Schreiner in sieben Städten in Jütland, als 400 Gesellen am 1. April 1899 eine bescheidene Lohnforderung aufstellten. Nach mehreren ergebnislosen Verhandlungen sperrte der Dänische Arbeitgeber- und Meister-Verband sämtliche Schreinergesellen am 2. Mai aus.

Bedingung der Arbeitgeber für eine neue Verhandlung waren die sogenannten „Acht Punkte“, die nicht nur die Beziehung zu den Schreinern betrafen. Sie waren auch der erste Vorschlag der Arbeitgeber, wie sie sich die Grundlagen für eine Rahmenvereinbarung vorstellten: Der Arbeitnehmerverband DsF sollte Hauptverantwortlicher dafür sein, dass getroffene Vereinbarungen respektiert und eingehalten werden. Vereinbarungen, die zwischen den Dachorganisationen getroffen wurden, sollten nicht abhängig von Abstimmungen innerhalb örtlicher Gliederungen sein. Zudem forderten die Arbeitgeber das Recht, die Arbeit in den Unternehmen anzuleiten und zu verteilen. Alle bisherigen Vereinbarungen sollten zukünftig mit einer vorhergehenden dreimonatigen Kündigungsfrist gemeinsam zum 1. Januar auslaufen.

Diese Forderungen wurden von der Gewerkschaft DsF mit der Bemerkung rundweg abgelehnt, dass hier ein „Krieg um des Krieges willen“ geführt werde, die Arbeitgeber reagierten mit Ausweitung der Aussperrung in einer großen Zahl weiterer Branchen. 40 000 Arbeitnehmer waren davon betroffen, über die Hälfte aller organisierten Beschäftigten. Und das ganze dauerte 100 Tage, von Mai bis eben September 1899, an.

Der Vergleich im Detail

Der dann geschlossene Vergleich war eine maßgebliche Voraussetzung für die allgemeine Entwicklung des Arbeitsmarkts in Dänemark, da er einige der arbeitsrechtlichen Grundlagen festlegte, die seitdem gelten.

Mit den Aussperrungen hatten die Arbeitgeber folgende Ziele verfolgt:

• Sicherung ihres Rechts, die Arbeit anzuleiten und zu verteilen

• Unterbindung der erfolgreichen Strategie der Gewerkschaft, Verbesserungen durch dezentrale Verhandlungen zu erreichen und das freie Streikrecht bei den einzelnen Unternehmen lokal wahrzunehmen (durch punktuelle, gezielte Streiks)

• Einrichtung eines zentralisierten Absprachesystems mit Friedenspflicht und institutionalisierter Konfliktlösung, um zu verhindern, dass Unternehmen (weiterhin) gegeneinander ausgespielt werden können.

Der Dänische Arbeitgeberverband (DA) erreichte seine Hauptziele: Die Lohnempfänger erkannten das Weisungsrecht der Arbeitgeber an, und sie akzeptierten folgende Bedingungen für Arbeitskämpfe:

• die Friedenspflicht muss aufgekündigt werden,

• Anerkennung durch die beschlussfassenden Versammlungen in den betreffenden Organisationen und

• vorherige Ankündigung.

Führungskräfte bekamen volle Freiheit, nicht Mitglieder der gleichen Organisationen sein zu müssen wie die Arbeiter.

Im Gegenzug erkannten die Arbeitgeber die Gewerkschaften und deren Recht an, die Interessen ihrer Mitglieder kollektiv wahrzunehmen. Es war eine im September-Vergleich integrierte Voraussetzung, dass die Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen durch kollektive Vereinbarungen (Tarifverträge) erfolgen sollte – dies ist seitdem als „das Dänische Modell“ bekannt. Das Ergreifen kollektiver Kampfmaßnahmen wie Streik und Aussperrung wurden geregelt.

Außerdem wurde mit dem Vergleich festgelegt, dass Streitfragen möglichst durch Verhandlung und Schlichtung entschieden werden sollten, bei Nicht-Einigung sollte die Angelegenheit einem Gericht vorgelegt werden können. Damit wurde die Entwicklung des heute für Dänemark geltenden branchenrechtlichen Systems eingeleitet, bei dem es Branchen-Schiedsgericht und Branchen-Arbeitsrecht gibt. Dies war von beiden Parteien gewünscht worden. Außerdem wurde das zentrale Verhandlungssystem etabliert.

Konsequenzen noch immer grundlegend für den dänischen Arbeitsmarkt

Es kann von einer Institutionalisierung des Klassenkampfs gesprochen werden, die Gewerkschaft bekam ihren Platz in den bestehenden gesellschaftlichen und ökonomischen Rahmen. Der Vergleich führte, so wird behauptet, zu geordneten Verhältnissen am Arbeitsmarkt. Er war ausschlaggebend für die Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen auf dem Gesamtarbeitsmarkt. Der September-Vergleich schien zuerst eine direkte Erfüllung der Arbeitgeberziele zu sein, förderte tatsächlich aber die Bildung von Gewerkschaften. Das neu geschaffene und regulierte Verhandlungssystem wurde zum effektiven Mittel der Gewerkschaften zum Erreichen von Verbesserungen bei den Lohn- und Arbeitsbedingungen sowie zur Sicherung ihres politischen Einflusses.

Der September-Vergleich wurde bekannt als das Grundgesetz der Arbeitsbeziehungen und fungierte als solches für über ein halbes Jahrhundert bis zur ersten Revision im Jahre 1960. Aber sowohl die revidierte Rahmenvereinbarung als auch die nachfolgenden Änderungen haben die grundlegenden Prinzipien beibehalten. Pia Bang Jensen, Kopenhagen
Mail pia.bang.jensen@batkartellet.dk

Quellen: Gyldendal: Den store Danske. FAOS: Forskningscenter for Arbejdsmarkeds- og Organisationsstudier – Forschungszentrum für Arbeitsmarkts- und Organisations-Studien. Arbejdermuseet.dk – Arbeitermuseum. Fotos oben: Dänischer Gewerkschaftsbund (LO)

Abb.(pdf) Søgaard Andersen & Holzwerkstatt in Helsingør 18. Juli 1898 mit dem Vorsitzenden der Schreinergewerkschaft.

Abb.(pdf) Arbeiter um 1900, wahrscheinlich von der Schmiede Hammervaerk in Grejsdalen

Abb.(pdf) Nach oben

Zitat aus dem September-Vergleich: „Der Dänische Arbeitgeber- und Meister-Verband und der Berufsverband der Arbeitnehmer erkennen hiermit übereinstimmend das Recht der jeweils anderen Partei an, Arbeitskämpfe anzuordnen oder zu genehmigen; jedoch ist keine Aussperrung und kein Streik von einer der Seiten anzukündigen oder zu billigen, solange dies nicht von einer durch die jeweilige Organisation nach ihren Statuten einberufene und berechtigte Versammlung mit mindestens drei Viertel der abgegebenen Stimmen beschlossen wird.“ (S. 1, l. 4-8)

The Workers’ Museum, Danmark (orignal: Arbejdermuseet, deutsch: Arbeitermuseum) in Kopenhagen

Nach oben

Søren Kierkegaard: „Entweder — Oder!“

In den Texten des dänischen Schriftstellers Søren Aabye Kierkegaard (1813 bis 1855) stoßen die Banalität des Alltäglichen und das unendlich Erhabene, die eigene Armseligkeit und die absolute Forderung von Himmel und Hölle hart aufeinander. Alles „Dazwischen“ ist für ihn als Philosophen nicht bedenkenswert. So schreibt Kierkegaard keine philosophischen Bücher im herkömmlichen Sinne. Es geht bei ihm um die einsame Seele vor ihrem Gott. Er wird damit zum Wegbereiter des modernen christlichen Individualismus. Nicht: Was soll „man…“, sondern: Was soll „ich…“ tun, ist seine Frage. Kierkegaard prägt den Begriff der „existentiellen“ Probleme. Auf ihn wird sich später ab den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Dialektische Theologie, z.B. Karl Barth (1886 bis 1968), aber auch der atheistische Existentialismus à la Jean-Paul Sartre beziehen. Beider Denken wird geistige Grundlage des Widerstandes gegen Faschismus und Okkupation.

Kierkegaard wollte mit einem strengen, an die Erfüllung der Worte Jesu gebundenen Christentum ernst machen. Mit Witz und bitterer Ironie bekämpfte er das dänische nationale Staatskirchentum seiner Zeit als „protestantische Mittelmäßigkeit“ und Verfall: Leiden und Sterben Jesu Christi haben Kirche und Pfaffen zum Vorwand einer einkömmlichen Pastorenexistenz heruntergewirtschaftet.

Dunkel und schwermütig lutherisch geht es bei Kierkegaard zu. So klagt er in seinem bekanntesten Werk „Entweder – Oder“* von 1843: „Was wird kommen? Was wird die Zukunft bringen? Ich weiß es nicht, ich ahne nichts. Wenn eine Spinne von einem festen Punkt in ihre Konsequenzen hinabstürzt, so sieht sie stets einen leeren Raum vor sich, in dem sie nirgends Fuß fassen kann, wie sehr sie auch zappelt. So geht es mir; vor mir stets ein leerer Raum; was mich vorwärtstreibt, ist eine Konsequenz, die hinter mir liegt. Dieses Leben ist verkehrt und grauenhaft, nicht auszuhalten“. „Wenn ich morgens aufstehe, gehe ich gleich wieder ins Bett“. „Komm, letzter Schlaf! Komm Tod, du versprichst nichts, du hältst alles.“ Auch seine weiteren Schriften haben verstörend bestürzende Titel wie: „Furcht und Zittern“ (1843); „Der Begriff der Angst“ (1844); „Die Krankheit zum Tode“** (1849).

Kierkegaard lehnt die Hegelsche Dialektik des „Dreitaktes“ (Thesis, Antithesis, Synthesis) ab. Seine Dialektik ist der „Zweitakt“, der Antilogos, die nur das eine kennt: Das „Ja“ und das „Nein“; das „Entweder“ und das „Oder“, es gibt keine Synthese. Hegels System ist für Kierkegaard „abstrakt“. Denn in Hegels Synthesis erfolgt die Aufhebung der Widersprüche immer nur in der Abstraktion. In des Lebens Wirklichkeit, in der Existenz, bleiben sie dagegen in unverminderter Schärfe bestehen. – Kierkegaard zu lesen fasziniert. Karl-Helmut Lechner, Norderstedt

* https://ia600208.us.archive.org/30/items/entwederodereinl00kier/entwederodereinl00kier.pdf,

**https://books.google.de/books?id=w0MYAAAAYAAJ&pg=PA46&hl=de&source=gbs_toc_r#v=onepage&q&f=false

Nach oben

H.C. Andersens Märchen: Schule des Mitgefühls

Wenn wie zum Beginn des 19ten Jahrhunderts in so vielen Ländern Europas politische und soziale Zwänge Kritik zum Existenzrisiko machen, bietet die von H.C. Andersen in Dänemark so kunstvoll ausgebaute Form des Märchens einen Ausweg: Der Beobachter tritt in den Hintergrund, die Handlung wird in eine ausgedachte Welt verschoben. Alles kann gesagt werden, aber niemand muss sich unmittelbar betroffen fühlen. Klassische Märchen konfrontieren Kinder mit Konventionen, das kritisch gemeinte Kunstmärchen nutzt die Form, um die Einrichtung der Welt in Frage zu stellen: Jedermanns Herzlosigkeit – Warum musste das Mädchen mit den Schwefelhölzchen erfrieren? Macht und Konvention blenden – Nur der unverstellte Blick des Kindes sieht, dass der Kaiser in seinen neuen Kleidern nackt ist. Unerfüllte Liebe sinnlos? – Was wird aus der kleinen Meerjungfrau? Im kunstvoll ausgebauten Märchen kann Alles zur Sprache gebracht werden.

Wenn Kinder Märchen hören, kommen Fragen auf. Andersens Märchen fordern bis in den intimen Raum der Familie Auseinandersetzung mit den Problemen der hereinbrechenden Moderne. Sie nähren eine Normendiskussion, die Mitgefühl kultiviert und somit solidarischen politischen Bewegungen den Boden bereitet.

Die Erzählungen sind auch in deutscher Sprache x-mal aufgelegt, illustriert, verfilmt. Im Projekt Gutenberg im Internet sind die Märchen leicht zugänglich. Martin Fochler, München

Nach oben

Hinweis: Im Kielwasser des September-Vergleichs kam die Diskussion um die Einrichtung von Rentensystemen in der Gewerkschaft auf. Siehe dazu: Pia Bang Jensen. „Einführung der kollektiven betrieblichen Altersversorgung 1990“. www.linkekritik.de/index.php?d=wegemarken, Rubrik Dänemark, Datum: 1899, Zusatzinfos

Politische Berichte Nr. 1/2017 - Nur.TXT-Ausgabe - Link zum Inhaltsverzeichnis