Quelle: Politische Berichte Nr. 3, März 2017 • Gesamtausgabe: PDF Inhaltsverzeichnis: TXT

s02 „Das wird keine Änderung, sondern die Abschaffung des klassischen Systems einer parlamentarischen Demokratie“

Zur Beurteilung von Verfassungsfragen gehört Kenntnis der politischen Kultur des jeweiligen Landes. In einem Interview in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 13. März betont der Jurist Prof. Dr. Christian Rump aus Stuttgart* die Bedeutung der Parteistrukturen, die seit Beginn des republikanischen Zeitalters in der Türkei streng nach dem Führerprinzip geordnet gewesen seien. Die Parteivorsitzenden bestimmen zum Beispiel, wer Kandidat wird, und damit die Zusammensetzung der Parlamente auf allen Ebenen. Die Identität von Staatsspitze und Parteiführer, die mit der geänderten Verfassung herstellbar sei, berge die eigentliche Gefahr: „Die Führertradition türkischer politischer Parteien, welche die bisherigen Verfassungen seit 1961 gerade nicht wirksam werden lassen wollte, wird voll durchschlagen. Ein Präsident Erdogan, der gleichzeitig bestimmt, wer Abgeordneter werden darf und wer nicht, bekommt damit ein Instrument in die Hand, das ihn letztlich zum Diktator macht.“

Von den in der türkischen Republik zugelassenen Parteien bezeichnet Rump die HDP als die einzige „innerlich demokratische“. Rump geht ferner davon aus, dass das Militär, dessen Rolle als eigentliche Macht im Staat seit Atatürk feststand, auf absehbare Zeit zu einem Putsch nicht mehr in der Lage sei. Abschließend äußert sich Rump unmissverständlich über die Zustände: „Es gibt eine Debatte, sie krankt aber daran, dass wir eine schwache Opposition haben, nachdem die Nationalisten überwiegend zu Erdogan übergelaufen sind. Kritische Presseorgane bleiben in ihrer öffentlichen Präsenz weit hinter den Claqueuren der Massenpresse zurück, die sich auch nicht scheut, journalistische Grundprinzipien zu verraten, zu denen ich den inneren Zusammenhalt des Berufsstandes zähle. Ferner krankt die Debatte daran, dass diejenigen, die wirklich kompetent die Mängel erklären können und dies versucht haben, zu einem großen Teil ihre Stellen und Existenzen verloren haben.“

* Rechtsanwalt Rumpf hat dankenswerterweise auch eine Übersetzung der aktuellen Verfassung sowie der geplanten Änderungen ins Internet gestellt: www.tuerkei-recht.de/downloads/verfassung.pdf. Alfred Küstler