Quelle: Politische Berichte Nr. 3, März 2017 • Gesamtausgabe: PDF Inhaltsverzeichnis: TXT

S. 15 Thema Soziale Rechte Europa. Die einzelnen Beiträge:

Auf dem Weg zu einem sozialen Europa?

EGB-Position zur sozialen Säule

01 Auf dem Weg zu einem sozialen Europa?

Eine Bewertung zum Vorschlag einer „Europäischen Säule sozialer Rechte“

Was bedeutet die Initiative der EU-Kommission für die Zukunft der Sozialsysteme? Wir dokumentieren aus der aktuellen Stellungnahme der „Deutschen Sozialversicherung Europavertretung“ (Träger dieser Lobby sind die gesetzlichen Kranken-, Renten- und Unfallversicherungen), aus Platzgründen stark gekürzt. Die vollständige Version findet sich unter:

http://dsv-europa.de/de/news.html

Im Frühjahr 2016 hat die EU-Kommission ihre ersten Überlegungen zu einer Säule sozialer Rechte vorgelegt. Dieses mit großen öffentlichem Interesse verfolgte Konzept sollte der breiten Skepsis in Europa begegnen, ob die europäischen Institutionen in der Lage sind, für soziale Gerechtigkeit, allgemeinen Wohlstand und faire Bedingungen für die Bürgerinnen und Bürger in der EU zu sorgen. Seitdem sind einige Eckpfeiler deutlicher geworden und es scheint inzwischen unbestritten, dass die Säule nicht das ist, wonach sie zunächst klingt, nämlich ein Paket einklagbarer individueller Rechte. Vielmehr formuliert sie eine Reihe von Kriterien zur Bewertung der mitgliedstaatlichen Beschäftigungs- und Sozialpolitiken. Der Grad ihrer Verbindlichkeit kann je nach Sektor sehr unterschiedlich ausfallen. …

Ein erster Schritt zur Säule: die europäische Arbeitslosenversicherung?

Nach dem Wunsch der EU-Kommission soll die soziale Säule zunächst lediglich die Mitgliedstaaten der Eurozone einschließen, aber grundsätzlich auch den anderen EU-Ländern offenstehen. Diese Ausrichtung der sozialen Säule auf die Euro-Zone erschließt sich in ihrer ganzen Dimension erst dann, wenn man sie in einen größeren Zusammenhang stellt. Denn dann stellt man schnell ihre Nähe zu den in Brüssel parallel betriebenen Arbeiten am Projekt einer europäischen Arbeitslosenversicherung fest. Auch diese ist für die Euro-Zone konzipiert. Sie soll dazu beitragen, makroökonomische Schocks abzufangen, und zugleich das Prinzip „europäischer Solidarität“ vertiefen. Sie ist deswegen nichts anderes als ein Sonderfall der Säule sozialer Rechte. In ihrem bereits fortgeschrittenen Diskussionsstadium kann man sie geradezu als Modell für die Entwicklung auch anderer Elemente der Säule ansehen – selbst wenn sie nicht einmal das erste in diesem Zusammenhang realisierbare Projekt sein sollte. Dieselben Gründe, die für eine europäische (Basis-) Arbeitslosenversicherung herangezogen werden, rechtfertigten auch die Vergemeinschaftlichung weiterer Bereiche der sozialen Sicherheit. Alle diese Systeme haben eine makroökonomische Stabilisierungsfunktion – auch wenn sie hierfür ursprünglich nicht gedacht waren. Glaubt man also, mithilfe der Arbeitslosenversicherung den Euro zu retten – oder die Euro- Zone –, so macht es keinen Sinn, bei der Europäisierung der Arbeitslosenversicherung stehen zu bleiben.

Die Säule sozialer Rechte: ein Instrument zur Rettung der Euro-Zone?

Beide Projekte werden aber erst durch ein drittes zu einer Einheit verschmolzen: den Plan einer „zweiten Phase“ der Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion. Ihre Ankündigung ist eine der wichtigsten Botschaften des sogenannten „Fünf-Präsidenten-Berichts“ vom Juni 2015. Diese Stufe soll endlich den bisher sich eher im Krebsgang bewegenden „Konvergenzprozess“ nach vorne bringen, das heißt „verbindlicher gestalten“. Es geht um nichts weniger als die Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse in der Europäischen Union. Hierzu sollen, so der Bericht, ein „möglicherweise in Rechtsform gegossener Katalog an Konvergenz-Referenzwerten“ sowie „gemeinsame Standards mit Rechtscharakter“ vereinbart werden. Beides werde nicht funktionieren, wenn man sich nicht zugleich auch auf eine „Teilung von Souveränitätsrechten in der Euro-Zone verständige. Dies ist eine freundliche Umschreibung einer weiteren Verlagerung nationaler Kompetenzen auf die (Euro-)Gemeinschaftsebene und damit eine Abkehr vom Subsidiaritätsprinzip.

Schon an dieser Stelle – und nicht erst mit der Vorstellung der sozialen Säule – werden die zu schaffenden gemeinsamen Standards explizit auf die Arbeitsmärkte, auf Steuern und schließlich auch auf die Modernisierung der Systeme der sozialen Sicherheit konzentriert. Flankierend weist dann der „Fünf-Präsidenten-Bericht“ – und zwar um einiges deutlicher als die Mitteilung zur sozialen Säule – den Weg zu einer gemeinschaftlichen Finanzierung der vereinbarten Sozialstandards …

Die Europäische Säule sozialer Rechte – viele Fragezeichen aus Sicht der Deutschen Sozialversicherung

… Die Spitzenorganisationen der Deutschen Sozialversicherung wenden sich daher in ihrer gemeinsamen Antwort gegen Ansätze einer Kompetenzerweiterung der europäischen Ebene. Gleichzeitig werden einzelne Positionen des von der EU-Kommission vorgeschlagenen Katalogs der sogenannten „Prinzipien“ kritisch kommentiert.

Aus Sicht der Deutschen Sozialversicherung bietet die Initiative der EU-Kommission Chancen, die soziale Komponente Europas und seiner Mitgliedstaaten gegenüber rein fiskalischen und effizienzbetonten Prioritäten zu stärken. Gleichzeitig werden jedoch verbindliche europäische Mindeststandards und Benchmarks aus mehreren Gründen abgelehnt. Europa würde sich Kompetenzen anmaßen, die es nicht hat und auch nicht haben sollte. Die Ausgestaltung von Sozialpolitik und Sozialversicherung ist aus guten Gründen in erster Linie eine Angelegenheit der Mitgliedstaaten. Die gesellschaftliche und wirtschaftliche Ausgangslage, das Selbstverständnis und die historische Prägung sowie die politischen Präferenzen sind in den einzelnen Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich. Das Gleiche gilt für die finanzielle Leistungsfähigkeit. Deshalb wäre es falsch, quantitativ messbare Standards und Benchmarks unterschiedslos auf alle Mitgliedstaaten anzuwenden. Und schließlich sind potenzielle europäische Vorgaben nicht nur Wohltaten für die Bürger, sondern ambivalent. Die von der EU-Kommission formulierten Prinzipien, die Ziele und politischen Prioritäten werden auch an Bedingungen geknüpft und können damit ohne Weiteres hinter den bereits erreichten Fortschritten der Mitgliedstaaten zurückbleiben …

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02 EGB-Position zur sozialen Säule

In seinem Positionspapier (Working for a better deal for all workers) zur sozialen Säule listet der EGB umlaufende Forderungen zu diversen Gegenständen, mischt aber auch munter erwünschte Zustände wie auf Fairness basierte soziale Beziehungen und ureigene gewerkschaftliche Aufgaben mit politisch entscheidbaren Aspekten. Ein angestrengtes Nachdenken über europaweit geltende Ansprüche z. B. in den Zweigen der sozialen Sicherheit und ihre derzeitigen Grenzen steht noch aus. Rolf Gehring, Brüssel

Aus der Erklärung:

Dieses Papier führt die Einwände und Vorschläge des EGB zur Säule der sozialen Rechte auf halbem Wege des Konsultationsprozesses aus und faßt die Forderungen des EGB in sieben prioritären Bereichen zusammen.

1. Eine faire Wirtschaft und die Schaffung qualitativ hochwertiger Arbeitsplätze

2. Einkommenserhöhungen, Fairness am Arbeitsplatz und wirtschaftliche Gerechtigkeit

3. Verbesserte Durchsetzung bestehender Rechte und die Etablierung von neuen Rechten

4. Faire Mobilität

5. Absicherung von Arbeitsmarktübergängen

6. Soziale Sicherheit und starke öffentliche Dienstleistungen

7. Institutionelle Änderungen um eine gleiche Unterstützung eines sozialen Europa zu gewährleisten (…)

Zusammengefaßt muss die Europäische Säule sozialer Rechte:

– Soziale Rechte an erste Stelle stellen

– Eine Angleichung nach oben und Verbesserungen für alle Arbeitnehmer garantieren

– Gute Beschäftigung und nicht nur Minimumstandards fördern

– Sicherstellen, dass die Rechtsauslegung zum Wohl der Beschäftigten geschieht und garantieren, dass es keine Regression gibt

– Über die Eurozone hinaus ausgedehnt werden

– Auf beidem basieren, Rechten und Orientierungswerten

– Den sozialen Dialog einbeziehen, Tarifvertragsstrukturen fördern und Tarifverträge schützen (…)

Die erste und wichtigste Priorität ist in dem Aktionsplan des EGB Kongresses in Paris ausgeführt: namentlich, dass fundamentale soziale Rechte Vorrang vor ökonomischen Freiheiten haben müssen. Dies verlangt die Anerkennung, dass der aktuelle Zustand nicht akzeptabel ist. Soziale Rechte müssen mit der gleichen institutionellen Dringlichkeit gefördert und verteidigt werden wie wirtschaftliche und finanzpolitische Regeln.

(eigene Übersetzung)

https://www.etuc.org/documents/etuc-position-european-pillar-social-rights-working-better-deal-all-workers#.WMJRO3kzUdU

Abb: Siehe PDF

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