Quelle: Politische Berichte Nr. 3, März 2017 • Gesamtausgabe: PDF Inhaltsverzeichnis: TXT

s18 Zur Einführung in den Film „Der junge Karl Marx“

https://www.rosalux.de/news/43031/der-junge-karl-marx-2.html: „Der Film von Raoul Peck startet bundesweit am 2. März 2017. – Pünktlich zum Filmstart präsentieren unsere Landesstiftungen und RLS-Regionalbüros den Film in Gespräche eingebettet.“ – Hier ein Einleitungsbeitrag von Christoph Cornides zur gut besuchten Vorführung im Mannheimer „Atlantis“ am 26.1.17. Siehe auch. http://kommunalinfo-mannheim.com/ von Raoul Peck

Liebe Gäste, liebe Freundinnen und Freunde, liebe an Marx und der Kritik der herrschenden Verhältnisse Interessierte, liebe Filmbegeisterte.

Wellenförmig wie die Wirtschaftskrisen selbst, ist auch das immer wieder neu aufflammende Interesse an Karl Marx.

Das war z.B. Ende der 1960er und in den 1970er Jahren der alten Bundesrepublik so: Damals in Zeiten vom „Ende des Wirtschaftswunders“, der Notstandsgesetze, des Vietnamkrieges und des „Kalten Krieges“ mit der Sowjetunion.

Das ist heute so in Zeiten von internationalen Finanz-, Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise, in Zeiten rechter Sammlungsbewegungen, die entweder schon an Schaltstellen staatlicher Macht angekommen sind (USA) oder dahin wollen (Le Pen, Wilders, AfD).

Wer in den letzten Wochen an Zeitungskiosken vorbeilief, konnte das Portrait von Karl Marx groß auf der Titelseite der „Zeit“ finden (Ausgabe vom 9.2.2017), versehen mit dem etwas reißerischen Titel: „Er ist wieder da.“ Der Tenor der Artikelsammlung war: Marx sei durchaus hochaktuell, und Wirtschaftsliberale geben Marxkenntnisse zum Besten.

Und in der Tat, was wir sehen, ist die Ausdehnung dessen, was sich heute „Globalisierung“ nennt, die Zerstörung überkommener Wirtschaftsstrukturen, die wachsende Ungleichheit, Ungleichzeitigkeit und Ungerechtigkeit der wirtschaftlichen Entwicklung weltweit, die beherrschende Rolle der großen Konzerne. Da fällt es auch nicht schwer, heute in voller Weiterentwicklung zu finden, was Marx in seinen Anfängen beschreibt: die Entwicklung des Kapitalismus als weltbeherrschendes System.

Tja, so schnell werden dann öffentliche Diskussionen wieder auf den Boden der Tatsachen geholt – könnte man auch sagen.

Aber: einen Film, gar eine französisch-belgisch-deutsche Koproduktion über Karl Marx, die es auch noch auf die Berlinale geschafft hat – das hat es bisher noch nicht gegeben.

Der Regisseur Raoul Peck hat sieben Jahre an dem Film gearbeitet hat – jetzt kommt er zur richtigen Zeit.

Wahrscheinlich muss wirklich ein Filmemacher mit einer ganz anderen Lebenserfahrung und Sichtweise kommen, um einen angemessenen Film über den Deutschen und Europäer Karl Marx zu machen, der den größeren Teil seines Lebens nicht in Deutschland, sondern im Exil, in Frankreich und in England gelebt, gearbeitet und von dort aus gewirkt hat.

„Raoul Peck ist Regisseur, Drehbuchautor und Produzent. Geboren wurde er in Haiti, aufgewachsen ist er in Zaire, USA und Frankreich. An der TU Berlin studierte er Wirtschaftsingenieurwesen und an der DFFB in Berlin Filmwissenschaft. 1996 und 1997 war er Kulturminister in Haiti und seit 2004 ist er amtierender Präsident der französischen Nationalen Filmhochschule La Fémis.“ 1994 erhielt er den Néstor Almendros Preis und den Irene Diamond Preis für sein Lebenswerk von Human Rights Watch. (Aus der Website des Films).

Auch für Raoul Peck erlebt Marx gerade eine Renaissance. Ihn interessiert besonders, wie eine Idee der Veränderung entsteht. In einem Artikel im „Neuen Deutschland“ schreibt Peck: „Revolution heißt ja nicht, sich über Missstände zu ärgern und zweimal zu twittern. Veränderung ist Arbeit, Nachdenken …“ – und – „… Treffen mit Leuten, die nicht deiner Meinung sind.“ (Website)

Über seine Beschäftigung mit Marx schreibt der Regisseur: „Karl Marx hat für mich bereits früh eine Rolle gespielt – in der Arbeit, in meinem Engagement und generell in meinem Leben. Ich war schon immer misstrauisch gegenüber allem Dogma gewesen, damit auch gegenüber dem Wesen des Marxismus als solches. Aber ich hatte das Glück, seinem Werk zuerst in akademischen Zusammenhängen zu begegnen – und das in einer Zeit, die weniger von Polemik geprägt war als heute.“ (Website)

In der Tat, wir hatten auch schon mal – vorübergehend – Zeiten, da konnte man sich mit dem wissenschaftlichen Werk von Karl Marx nicht nur in politischen Lesezirkeln, sondern auch an der Universität einigermaßen vernünftig und in Ruhe beschäftigen.

Da hatte die Studentenbewegung Studienpläne durchgesetzt, nach denen man z.B. in Volkswirtschaft mit Themen über „Das Kapital“ von Karl Marx die Diplomarbeit zum Examen anfertigen konnte.

Derzeit aber müssen sich StudentInnen und einige ProfessorInnen in Vereinigungen wie z.B. der für „Plurale Ökonomik“ mühsam dafür einsetzen, dass nicht nur die öde Angebots- und Austeritätstheorie eines Herrn Schäuble mit öffentlichen Mitteln den StudentInnen bis zum Erbrechen eingetrichtert werden. Sie fordern, dass die Möglichkeit geboten werden muss, sich mit anderen, alternativen, kritischen, nicht allein dem Systemerhalt- sondern der Änderung verpflichteten Methoden und Ansätzen zu befassen. – So eben auch denen von Karl Marx.

Es ist ja nicht nur so, dass die Analyse von Karl Marx und die wortmächtigen Deklamationen des Kommunistischen Manifests – von denen wir hören werden – Vieles beschreiben, was heute erst oder immer noch in voller Entwicklung zur Kenntnis genommen werden muss: die Ausdehnung der Industrialisierung über die Industrieländer hinaus, die globale Arbeitsteilung, die Globalisierung des „Arbeitsmarkts“, die erst am Anfang steht.

Dienstleistungen der Erziehung, des Gesundheitswesens und der Pflege kommen in den Sog gewinnorientierter Kapitalanlage und Organisation. Mit den neuen Kommunikationsmedien werden neuerlich Produktionsprozesse, Arbeits- und Lebensbedingungen umgewälzt. Und die ökologischen und menschlichen Kollateralschäden wachsen immer noch und zeigen ihre zerstörerischen Kräfte.

Ebenso zeigt aber genaueres Hinsehen: Auch einzelne Fragen, an denen sich heute die Schul-Wirtschaftstheorie nach wie vor die Zähne ausbeißt, wurden bereits von Marx analysiert und könnten – verfolgt man sie weiter – alternative Lösungen befördern.

Um nur zwei Fragen zu nennen: „Tendenzieller Fall der Profitrate und entgegenwirkende Ursachen“, wie es bei Marx heißt. Sind also staatliche Investitionsprogramme – welche und wann – eine Lösung? Und zwar weil – so Marx – so viel privates Kapital aufgehäuft ist, dass es sich für Renditeproduktion nicht mehr zu investieren lohnt.

Oder: Steigende Wohnungs- und Mietpreise derzeit vor allem in den Städten und Marx’s Analyse der Grundrente: Die vollständige Privatisierung von Naturgütern und von Grund und Boden, dort, wo die Allgemeinheit ihn braucht, das ist das Problem, würde Marx sagen.

Nun schön und gut, wenn aber so vieles aktuell ist am Werk von Karl Marx und möglicherweise auch zur Lösung aktueller Fragen beitragen könnte – warum ist dann aber eben doch so vieles ganz anders gekommen, als viele es nach Marx erwartet haben?

Eigentlich gibt Karl Marx selbst bereits eine deutliche Antwort auf unangemessene Schlussfolgerungen:

„Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“ (K. Marx, aus Vorwort zu „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“)

Das aber heißt doch: Es gibt keinen mechanischen Zwangsverlauf der Geschichte, den man nur erkennen muss, um ihn dann wie eine Maschine zu bedienen. Es kommt auf uns an, es kommt auf die Gesellschaft an, was sie aus den vorgefundenen Umständen macht.

Und wie macht man nun zu einem Lebenswerk wie dem von Karl Marx einen Film? Daran hat der Regisseur in verschiedenen Varianten und Versionen gearbeitet.

Der Film heißt „Der junge Karl Marx“. Dazu muss man berücksichtigen, dass die Chiffre vom „jungen Marx“ (im Gegensatz zum älteren oder „alten“) in der Anti-Marx-Publizistik und -Politik der alten Bundesrepublik eine besondere Rolle gespielt hat.

Der „junge Marx“, das war der humanistische Philosoph, gut abzulegen unter besondere Abteilung Lebensphilosophie. Der Alte, das war der Revolutionär und Umstürzler, also Verfassungsfeind gewissermaßen. Nicht gut, nichts für Schule und Lehre und für die Politik schon gar nicht.

Raoul Peck macht dieses Spielchen nicht mit. Er zeigt einen – und zwar einen ganz entscheidenden – Ausschnitt aus dem Leben und Wirken von Karl Marx, den zwischen Anfang der 1840er Jahre in Paris und dem Kommunistischen Manifest (1848). Am 11. oder 12. Oktober 1843 trafen Marx und seine Frau in Paris ein und blieben dort bis zur Ausweisung im Februar 1845. Dort begann Marx zusammen mit Arnold Ruge, die Zeitschrift „Deutsch-Französische Jahrbücher“ herauszugeben.

Davor liegt die Schul- und Studienzeit in Trier, Berlin und Bonn und die Arbeit bei der liberalen „Rheinischen Zeitung“, deren Herausgeber schließlich vor der preußischen Zensur kapitulieren.

Danach kommt die Arbeit an den wissenschaftlichen Grundlagen, das Wirken in den Vereinigungen der Arbeiterbewegung und das Exil in London, wo Marx 1883 stirbt.

Peck verwendet den Titel „Der junge Marx“ ohne Hintergedanken, also im positiven Sinne von: damals, „als alles anfing“, als die politische Entwicklung sich formte, und die Richtung sich entschied; als Marx vom linken Hegelianer zum Revolutionär und Mitorganisator der Arbeiterbewegung wird.

Und 1845 schreibt Marx dann in der 11. These über Feuerbach: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“ Punkt. Das ist jetzt Lebens- und Arbeitsprogramm.

Aber diese Zeit, in der sich alles Entscheidende entwickelt, ist nicht vorstellbar ohne zwei weitere Menschen: Jenny von Westphalen, die vier Jahre ältere Frau von Karl Marx, und Friedrich Engels.

Jenny Marx hat nicht nur die handschriftlichen Arbeiten von Marx zu (lesbaren) Veröffentlichungen transformiert, sie hat selbst Zeitungsartikel zur Literatur- und Theaterkritik veröffentlicht. Sie hat sieben Kinder geboren, von denen nur drei das Kindesalter überlebt haben, sie hat die politischen Ziele von Marx geteilt und unterstützt, und sie hat gegen alle Anfeindungen in schwierigen eigenen wirtschaftlichen Verhältnissen zu Marx gestanden.

Friedrich Engels, Sohn eines deutschen Fabrikanten aus England, wurde nicht nur zum engen Freund, finanziellen Unterstützer und politischen Wegbegleiter, er war durch seine eigenen Studien für Marx ein wichtiges Bindeglied für Kenntnisse über das Funktionieren des Fabrikkapitalismus und über die Arbeits- und Existenzbedingungen der Arbeiter in den Fabriken.

Raoul Peck schreibt über die drei: „Der Film begleitet Marx und Engels in ihrer Jugend, er zeichnet ihre unerschütterliche Freundschaft nach und zeigt, wie ein einzigartiges Trio durch die Entbehrungen entsteht, die sie in ihrer turbulenten Jugend erlebt haben. Es ist ein Film, der die Atmosphäre der fiebrigen Zeit der Industrialisierung als Realität entstehen lässt und dabei den Betrachter in das Europa der 1840er Jahre zu tauchen vermag: Fabriken der Schwerindustrie in England, das extreme Elend und der Schmutz der Straßen von Manchester und im Kontrast die goldene Wärme der Pariser Paläste, die Energie einer Jugend, die die Welt verändern will und dabei die törichten Schwellen der Ungleichheiten wiederherstellen wird.“ (Website)

1847/48 schließlich wird dann von Karl Marx und Friedrich Engels um die Jahreswende im Auftrag des Bundes der Kommunisten das Kommunistische Manifest verfasst. Es erscheint am 21. Februar 1848 in London, kurz vor der Februarrevolution in Frankreich und vor der Märzrevolution im Deutschen Bund. Das Manifest der Kommunistischen Partei wurde in mehr als 100 Sprachen übersetzt. Im Juni 2013 wurde es in das Unesco-Dokumentenerbe aufgenommen

Der Film „Der junge Karl Marx“ zeigt Marx und seine MitkämpferInnen in ihren zwanziger Lebensjahren. Er zeigt, wo und wie Marx sich seine Standpunkte immer in ständiger Auseinandersetzung mit den politischen, philosophischen und wissenschaftlichen Vertretern seiner Zeit und in aktiver Teilnahme am Leben der Arbeiterbewegung erarbeitet.

Der Film zeigt das in einer Weise, die uns den humanistischen Ansatz von Karl Marx verständlich machen kann, den er selbst in dem Aufruf zusammengefasst hat: „…alle Verhältnisse umzustürzen, in denen der Mensch ein geknechtetes, beleidigtes und erniedrigtes Wesen ist.“ (aus K. Marx, „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“).

Dieser auch emotionale Erkenntnis- und Handlungsschwung ist es wert, immer wieder aufgenommen und konkret auf die Verhältnisse praktisch angewendet zu werden. Und das muss jede Zeit und jede Generation neu und ständig und selbst tun.

Dabei hilft Anregung. Lassen wir uns vom „jungen Karl Marx“ anregen.

Christoph Cornides, Mannheim

Abb: Raoul Peck(2017)Foto: Maximilian Bühn, (Wiklipedia CC), Siehe PDF

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