Quelle: Politische Berichte Nr. 3, März 2017 • Gesamtausgabe: PDF Inhaltsverzeichnis: TXT

s20 Spanien: Erinnerungspolitische Bewegung

Die Ergebnisse der Forschung spanischer Historiker seit den Achtzigerjahren fasst der Historiker Francisco Espinosa Maestro so zusammen: Wir zogen aus den Bürgerkrieg zu erforschen und fanden nichts als reine Repression. Denn das, was Bürgerkrieg genannt wurde, spielte sich nur in einer Hälfte des Landes ab. In der anderen gab es einen brutalen Staatsstreich und die Ausführung eines Vernichtungsplans, der zwischen 1936 und 1953 dem Leben von Tausenden Personen ein Ende setzte.

Über 130 000 Menschen wurden im Hinterland – außerhalb der Kriegshandlungen –ums Leben und danach zum Verschwinden gebracht, in irgendwelchen Straßengräben verscharrt.

1939 befanden sich ca. 363 000 Häftlinge in spanischen Kerkern, Konzentrationslagern und Arbeitsbataillonen und 450 000 Antifranquisten im Exil. 300 000 öffentlich Bedienstete wurden entlassen.

Transition / Amnestiegesetz 1977

Der Tod Francos am 20.11.1975 markiert das Ende der knapp 40-jährigen Diktatur und den Beginn der Überführung der klerikalfaschistischen Diktatur in eine parlamentarische Monarchie, die sog. Transition. Am 22.12.78 wurde die Verfassung verabschiedet. Die Wahl des Sozialisten Felipe Gonzalez im Oktober 1982 zum Regierungschef schließt die Transition in etwa ab.

Die Transition war erfolgreich, indem Zug um Zug die faschistischen Machtstrukturen abgelöst, demokratische Institutionen eingeführt und ein wirtschaftlicher Aufschwung erreicht wurde, insbesondere schließlich über die Aufnahme Spaniens in die Europäische Gemeinschaft (1986).

Die Verhandlungen während der Transition waren aber von einer „Asymmetrie der Macht“ gekennzeichnet. Den demokratischen Parteien und Regimegegnern wurden (begleitet von realen und angedrohten Putschversuchen des Militärs) zahlreiche Bedingungen aufgezwungen, um den sozialökonomischen Status quo und die politische Amnestie des Franquismus durchzusetzen.

Am 15. Oktober 1977 wurde das Amnestiegesetz („Pakt des Schweigens“) verabschiedet, das jede Möglichkeit ausschloss, die franquistischen Verbrechen strafrechtlich zu verfolgen. Leiter und Spitzenpersonal der franquistischen Institutionen, Täter und Mitläufer konnten ohne Bedingungen in das neue demokratische System überwechseln und weiterhin unbeschadet Karriere machen.

Die „Dreizehn von Priaranza“

Am 28.10.2000 begann eine kleine Gruppe von Fachleuten mit der ersten wissenschaftlich fundierten Exhumierung, bei der die Reste von 13 Personen (Minenarbeitern) ausgegraben und identifiziert wurden, die 64 Jahre zuvor durch jeweils zwei Genickschüsse hingerichtet worden waren. Mit der Exhumierung der „Dreizehn von Priaranza“ wurde der „Pakt des Schweigens“ gebrochen und der Startschuss gesetzt zur heutigen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.

Direkt im Anschluss, im Dezember 2000, wurde die Vereinigung für die Wiedererlangung des historischen Gedächtnisses (ARMH) gegründet. In den Folgejahren entstanden zahlreiche Organisationen lokaler, regionaler oder auch staatlicher Natur, die im ganzen Land aktiv wurden.

Während die einen in Straßengräben, Wäldern und Friedhöfen nach Verschwundenen suchen, Ausgrabungen durchführen, kämpfen andere um die Entfernung franquistischer Monumente und Symbole oder für die Errichtung von Erinnerungsorten. Heute existiert eine aus der Zivilgesellschaft hervorgegangene heterogene Bewegung aus einer Vielzahl von großen und kleinen Vereinigungen. Daneben forschen zahlreiche Wissenschaftler (Historiker, Soziologen, Politologen, Anthropologen) über die Repression.

Bis Dezember 2012 hatte die Gedächtnisbewegung 330 Massengräber geöffnet und 6.290 Leichen exhumiert.

Die meisten Opfer auf Seiten der Nationalisten wurden von den Gewinnern des Kriegs exhumiert, geehrt und in Würden bestattet, ihre Hinterbliebenen für den Verlust entschädigt.

Gesetz des historischen Gedächtnisses

Nach heftigen Auseinandersetzungen in Gesellschaft und Parlament und gegen die Stimmen der damals oppositionellen Partido Popular wurde im Dezember 2007 das Gesetz des historischen Gedächtnisses (Ley de Memoria Historica) verabschiedet. Inhalte des Gesetzes sind u.a.:

• Nachkommen und Vereine können um Subventionen für Exhumierungen nachsuchen.

• Die zuständigen Behörden sollen Karten von Massengräbern erstellen.

• Die zuständigen Behörden haben alle nötigen Maßnahmen zu ergreifen, um die Symbole der Diktatur zu entfernen.

• Ein Dokumentationszentrum für das historische Gedächtnis soll geschaffen werden.

Die Kritik der Gedächtnisbewegung, von Amnesty International und von linken Parteien hebt hervor, dass den Opfern zwar finanzielle und symbolische Entschädigung zugestanden wird, der Franquismus aber rechtlich und von Staats wegen unangetastet bleibt. Die Täter bleiben weiterhin ungeschoren. Die vom franquistischen Justizapparat verhängten Strafen werden nicht annulliert, sondern nur für ungerecht erklärt, somit gibt es keine Entschädigungen.

Am folgenreichsten ist, dass die Exhumierungen aber weiterhin von den Nachkommen der Verschwundenen und den Organisationen der Gedächtnisbewegung durchgeführt werden sollen. Statt einer öffentlichen Gedächtnispolitik sieht das Gesetz eine subventionierte private Politik vor.

Seit 2008 wurden von der damaligen sozialistischen Regierung aufgrund des Gesetzes des historischen Gedächtnisses insgesamt 25,3 Millionen Euro für „Erinnerungsarbeit“ zur Verfügung gestellt, davon 8,1 Millionen für Exhumierungen. Im März 2012 wurde das dafür bestimmte Jahresbudget von der rechten Partido Popular-Regierung auf 2,5 Millionen Euro gekürzt, 2013 und in den Folgejahren taucht dieser Posten im Budget gar nicht mehr auf. In vielen Städten und Gemeinden, die von der PP regiert werden, werden Exhumierungsarbeiten und das Entfernen franquistischer Symbole be- und verhindert. Das Gesetz wird faktisch außer Kraft gesetzt. In den autonomen Regionen Katalonien, Baskenland, Navarra und neuerdings auch Valencia erhält die erinnerungspolitische Bewegung dagegen Unterstützung durch die politischen Institutionen.

Forderungen der Erinnerungsbewegung – Herstellung von Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung.

Konkret:

• Eine vom Staat getragene Exhumierung und würdevolle Beisetzung möglichst aller schätzungsweise noch 110 000 „Verschwundenen“ oder in Massengräbern Verscharrten.

• Tatsächliche Entschädigung für die Opfer der franquistischen Repression während des Bürgerkriegs und der Diktatur.

• Aufklärung und Verfolgung der franquistischen Verbrechen.

• Freier Zugang zu allen staatlichen und privaten Archiven, verbesserte Möglichkeiten zur Untersuchung der historischen Tatsachen,

• Revidieren des Amnestiegesetzes und der Straflosigkeit der franquistischen Verbrecher, Aufhebung und Nichtigkeitserklärung aller Urteile und Strafen des Franco-Regimes.

• Soziale Gleichstellung der Opfer des Franquismus mit den Opfern der ETA. ETA-Opfer erhalten finanzielle und psychologische Unterstützung, werden sozial betreut und gefördert und verfügen über mächtige Organisationen, die direkte Kontakte zu den Parteien haben.

Empfehlungen der UNO-Arbeitsgruppe für zwangsweises Verschwinden (WGEID)

Im September 2013 besuchte die WGEID Spanien und führte Gespräche mit Opfervereinigungen und Anwälten. 2014 sprach sie der spanischen Regierung in einem Bericht Empfehlungen aus.

Spanien müsse endlich „seiner Verpflichtung nachkommen“ und die Verbrechen der Diktatur von General Francisco Franco aufklären. Es müssten „genügend personelle, technische und finanzielle Mittel“ zur Verfügung gestellt werden, um die Opfer zu suchen.

Gegen die Stellungnahme der spanischen Regierung, die von Verjährung und Amnestie sprach, erklärte die UNO-Arbeitsgruppe das Verschwindenlassen von Menschen sei ein „permanentes Verbrechen“. Die Verjährung werde erst wirksam, „nachdem die Person lebendig wieder auftaucht oder die sterblichen Überreste gefunden und die Identität festgestellt wird“.

Alle Hindernisse für eine unparteiische Untersuchung müsse der Staat beseitigen, „insbesondere das Amnestiegesetz von 1977, nach dem Verbrechen des Franco-Regimes nicht mehr strafrechtlich verfolgt werden. Der Staat müsse die Verschwundenen aktiv suchen lassen.“

Ende 2016 kündigte der UNO-Berichterstatter, Ariel Dulitzky, für 2017 einen Folgebericht an, nachdem die spanische Regierung die Empfehlungen bisher nicht umgesetzt hat. Dulitzky zeigte sich beeindruckt von der Anzahl der Massengräber, die noch bestehen. Dies zu ignorieren, würde nicht weiter helfen, es sei notwendig die Gräber zu öffnen, um die Wunden zu schließen. Es erstaune ihn, dass es die Enkel der Opfer sind, die begannen, die Fragen zu stellen. Es benötigte eine Generation, die vollständig in der Demokratie gelebt habe, damit sich Vereinigungen organisierten. Die politische Klasse Spaniens müsste ein Zeichen der Reife geben. Sie könnte das Amnestiegesetz neu interpretieren.

Claus Seitz, Schweinfurt

Literatur: Georg Pichler, Gegenwart der Vergangenheit. Die Kontroverse um Bürgerkrieg und Diktatur in Spanien. Rotpunktverlag Zürich, 2012. Silke Hünecke, Überwindung des Schweigens, Erinnerungspolitische Bewegung in Spanien. Edition Assemblage, Münster, 2015. Walter H. Bernecker, Sören Brinkmann, Der spanische Bürgerkrieg in Politik und Gesellschaft, 1936 – 2010, Verlag Graswurzelrevolution, 2006.

Abb. Siehe PDF

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