Quelle: Politische Berichte Nr. 3, März 2017 • Gesamtausgabe: PDF Inhaltsverzeichnis: TXT

S22 Kalenderblatt - 29. Dezember 1978 - Spanien.

01 29. Dezember 1978 Spanien – Die spanische Verfassung verankert das Recht auf Bildung

02 Abb: Si sabrà mas el discipulo? [Ob der Schüler mehr weiß ?]

o3 Die „Pädagogischen Missionen“: Erziehung und freie Zeit in der Zweiten Spanischen Republik

04 Bildung: Anarchistische Reformanstöße

01 – 29. Dezember 1978 Spanien – Die spanische Verfassung verankert das Recht auf Bildung

Mit der Verabschiedung der spanischen Verfassung von 1978 wird das persönliche Recht auf Bildung in der spanischen Gesellschaft verankert. Dieser Verankerung sind lange Phasen von Kämpfen im Feld Erziehung/Bildung vorausgegangen.

Das erste spanische Schulgesetz datiert von 1857 und setzt die Schulpflicht von 6 bis 9 Jahre fest. Waren in der ersten Hälfte des 19. Jh. starke Säkularisationstendenzen wirksam, gewann die katholische Kirche, die traditionell die Hegemonie im Feld der Bildung hatte, in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts Terrain zurück. Mit dem Ende des Spanischen Krieges gegen die USA verlor Spanien 1898 die letzten Kolonien in Übersee. Das Zerplatzen imperialer Träume setzte aber auch eine politische und intellektuelle Bewegung in Gang, in der emanzipatorische politische Orientierungen die Bühne betreten.

1900 wurde das Ministerium für öffentliche Unterweisung und schöne Künste gebildet. Neben der Frage des Zugangs zu Schulen spielen die bessere Bezahlung der Lehrer, Hinwendung zu den modernen Wissenschaften oder die Unterstützung von Studierenden bei Auslandsaufenthalten eine Rolle. 1907 wurde ein Rat für Weiterbildung und wissenschaftliche Forschung gebildet. In diesem politischen Klima waren in den ersten 30 Jahren des 20. Jh. diverse Strukturreformen möglich. 1909 Verlängerung der Schulpflicht bis 12 Jahre; ab 1910 dürfen Frauen sich selbständig in der Uni einschreiben; die Lehrerausbildung wird verbessert; Aufbau von Schulen im ländlichen Raum. Selbst in der Zeit während der Diktatur unter Primo de Rivera (1923 bis 1930) wurde der Ausbau der Schulinfrastruktur weiter betrieben. Reformpädagogische Ansätze werden von politischen Strömungen aufgenommen und ausgedeutet, kommen aber auch in der katholischen Kirche an.

Während der Zeit der zweiten Spanischen Republik (1931-36) werden dann große Reformvorhaben in Angriff genommen. 5000 Schulen sollen jährlich gebaut werden, es werden Abendklassen für Erwachsene eingerichtet, pädagogische Missionen in die abgeschnittenen ländlichen Gebiete durchgeführt. Vor allem geht es darum den Menschen unabhängig von Einkommen oder Bildungsgrad Zugang zu kulturellen Gütern zu verschaffen. Die Ausbildung der Lehrer wurde verbessert, ihr Gehalt erhöht. Die Verfassung (1931, Art. 38) legte fest, dass der Unterricht nichtkonfessionell (keine christlichen Symbole in Schulräumen) und koedukativ ist, kirchliche Institutionen unterstanden der staatlichen Aufsicht. Erziehung war als Angelegenheit des Staates definiert, ein individuelles Recht fand in der Verfassung keine Erwähnung. Die Kirche akzeptierte die neuen Verfassungsgrundsätze nicht, viele Orden widersetzten sich praktisch. Jesuitenschulen im ganzen Land wurden daraufhin in staatliche Schulen umgewandelt. Gleichzeitig wurden Schulen für Arabistik eingerichtet, das pädagogische Studium an verschiedenen Universitäten etabliert, internationale Sommerakademien zum interkulturellen und Wissensaustausch durchgeführt …

Allerdings wurden viele Initiativen und Änderungen schon 1933 von der neugewählten (konservativen) Regierung wieder rückgängig gemacht oder infrage gestellt. Die Franco-Diktatur setzt dann eine Zäsur. Die katholische Kirche gewinnt gewissermaßen die Herrschaft über die ethisch-moralische Ausbildung der spanischen Gesellschaft zurück. Der Religionsunterricht wird nicht nur verpflichtend und kirchliche Schuleinrichtungen gefördert, die Kirchen sind auch die schulischen Inspektionseinrichtungen und entscheiden über die Auswahl der Schulbücher. Die Trennung von Kirche und Staat wird rückgängig gemacht. Allerdings finden auch während der Zeit des Francismus Auseinandersetzungen statt. Die katholische Kirche tritt teils in Oppostion zu der Politik Francos, liberale Minister wollen eine Modernsierung des Landes und ein Ausbildungssystem, dass eine stärkere Industrialisierung möglich machen soll. Ein Gesetz zur Reform der Schulstrukturen von 1970 bleibt bis 1990 gültig.

Die Verfassung von 1978 proklamiert dann das individuelle Recht auf Bildung. Eine weitere grundlegende Veränderung war die Zuständigkeitsteilung zwischen Zentralstaat und autonomen Regionen, die weitreichenden Einfluss auf Verwaltung und Curricularentwicklung erhielten. Mit dem Schulgesetz von 1990 wird auch ein anderer institutioneller Rahmen für die Curricular-Entwicklung geschaffen. Die allgemeinen Rahmenpläne sollen den örtlichen Gegebenheiten angepaßt und die Lehrer/Lehrerkollektive in diese Arbeit einbezogen werden. Mit der Einrichtung von Schulräten (Lehrer, Verwaltung, Eltern, Schüler) im Schulgesetz von 1985 wird eine zweite Institution etabliert, die das Schulwesen insgesamt einer demokratischen Ausgestaltung zugänglich macht.

Rolf Gehring, Brüssel

Quelle: Consuelo Flecha: Education in Spain: Close-up of its History in the 20th Century https://www.researchgate.net/publication/272976713_Education_in_Spain_Close-up_of_Its_History_in_the_20th_Century

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02 Abb: Si sabrà mas el discipulo? [Ob der Schüler mehr weiß ?]

„Für Goya und den Kreis der Aufklärer waren Erziehung und Schulbildung ein besonderes Anliegen, herrschten doch in Spanien katastrophale Zustände. Die heftig kritisierten Erziehungsmethoden werden mit einer Beschäftigung für Esel verglichen. Entsprechend heißt es im Kommentar der Biblioteca Nacional: „Ein Esel als Lehrer kann nur Eselsgeschrei lehren.“

Der Maler Goya: Francisco José de Goya y Lucientes , geb. 1746 in Spanien, wird vom Barockmaler im höfischen Umfeld zum Beobachter der sozialen und politischen Umstände, insbesondere während der napoleonischen Herrschaft. Ab 1824 Exil in Frankreich. Gestorben 1828 in Bordeaux.

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03 Die „Pädagogischen Missionen“: Erziehung und freie Zeit in der Zweiten Spanischen Republik

1931 wurde das „Patronat der pädagogischen Missionen“ gegründet, um die verschiedenen Regionen des Landes zu erreichen und um sie mit öffentlichen Mitteln zu finanzieren. Präsident dieses Patronats war Bartolomé Cossío.

Ziel der „Pädagogischen Missionen“ war zum einen die Alphabetisierung. Außerdem sollte das Bildungs- und das kulturelle Niveau der am meisten Benachteiligten der spanischen Bevölkerung angehoben werden, das waren hauptsächlich die Bauern, Arbeiter, Kinder und alle, die an schwer zugänglichen Orten wohnten. (…)

An diesen „Missionen“ arbeiteten in altruistischer Weise herausragende Intellektuelle, Dichter und Künstler mit, u.a. Federico García Lorca, Miguel Hernández, Rafael Alberti oder Luis Cernuda. Auch Studenten und viele aus Berufen wie Lehrer, Bibliothekare, Ärzte, Rechtsanwälte, Menschen mit irgendeiner Arbeit oder auch ohne, lauter begeisterte Mitarbeiter übernahmen Aufgaben der „Missionen“, um die Kultur unter das Volk zu bringen.

In diesem Zuge wurden Bibliotheken und Filmdienste aufs Land gebracht – meistens musste ein improvisierter Projektionsraum herhalten, weil geeignetere Orte nicht zur Verfügung standen. Ebenso wurde Theater und Museum auf die Dörfer gebracht. In improvisierten Räumen wurden eine Woche lang von den „Missionaren“ Kunstwerke in Schulklassenzimmern oder an irgendeinem anderen Ort ausgestellt, den die Stadt ermöglicht hat.

(…) Die besuchten Dörfer erhielten eine Bibliothek mit ungefähr hundert ausgewählten Büchern sowie ein Grammophon mit einer Schallplattenauswahl. Das Leuchtturmprojekt dieser „Missionen“ war die Gründung von Bibliotheken. Es wurden aber auch Ausstellungen, Lesungen, Theateraufführungen und ganz allgemein kulturelle Aktivitäten aller Art zum Vergnügen, vor allem aber zur Unterrichtung der Menschen organisiert.

Die drei Jahre des Bürgerkriegs (1936 bis 1939) und die darauf folgende Franco-Diktatur beendeten diese einzigartige Erfahrung in der spanischen Geschichte.

Maria Angeles Romero Cambra, Madrid, Übersetzung a.d. Englischen Eva Detscher

Abb.: Der Poet Luis Cernuda bringt auf einem der Maultiere der „Mission“ Bücher nach Burgohondo (Ávila). Siehe PDF

http://elpais.com/diario/2006/04/08/babelia/1144453151_740215.html

El País vom 8. April 2006

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04 Bildung: Anarchistische Reformanstöße

Um dem grassierenden Analphabetismus (1877 = 72 Prozent; 1910 = 59 Prozent) und staatlich/kirchlicher Indoktrination eine aufgeklärtere Bildungsvorstellung entgegenzusetzen, engagierten sich Anarchisten im späten 19. u. frühen 20. Jahrhundert auf unterschiedliche Weise, beispielsweise indem sie Leseräume in Kulturzentren für die Arbeiterbildung bereit stellten oder auch in anarchsitischen Journalen und Zeitungen, die Laien dazu aufforderten Artikel zu schreiben und diese zu veröffentlichen. Dem lag auch eine Ablehnung der hirarchisch geprägten Gesellschaft und einer vermeintlichen intellektuellen Überlegenheit der Eliten zu Grunde.

Neue Themenfelder des sozialen Lebens wurden erschlossen, anarchistische Publikationen beispielsweise setzten sich mit progressiven Ideen wie Vegetarismus, Nudismus und der Beziehung zwischen den Geschlechtern auseinander.

Mit der 1901 gegründeten Escuela Moderna formulierte der vom Anarchismus beeinflusste bürgerliche Reformer Francisco Ferrer y Guardia eine Alternative zu den antiquierten Curricula von Staat und Kirche, die uns aus heutiger Sicht selbstverständlich erscheinen mögen, ihrer Zeit jedoch weit vorraus war. Auf Grundlage von Rationalismus und anarchistischem Gedankengut gründete Ferrer ein alternatives Schulmodell, dessen Aufgabe er darin verstand, selbständiges und vorurteilsfreies Denken zu fördern und Schülern egalitäre Werte zu vermitteln, die im Gegensatz zur hierarchisch geprägten Gesellschaft standen. Naturwissenschaften sowie technische und praktische Anwendungen, die die Schüler auf die Anforderungen der modernen Industriegesellschaft vorbereiten sollten, waren zentral. Ebenfalls ihrer Zeit voraus waren die pädagogischen Methoden, die beispielsweise auf Bestrafung und Prüfungen verzichteten. Jungen und Mädchen sowie Kinder unterschiedlicher sozialer Herkunft wurden gemeinsam unterrichtet was seinerzeit in Spanien unüblich oder ortsweise sogar verboten war.1

Innerhalb weniger Jahre gab es bereits Dutzende derartiger Schulen, die sich auch ins Ausland verbreiteten. Zwar waren die Ferrer Schulen während der Franco-Diktatur in Spanien verboten bestehen aber mancherorts bis zum heutigen Tage weiter.

Stephen Schindler, Brüssel

1 http://flag.blackened.net/revolt/spain/ferrer.html

Abb. im PDF

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