Quelle: Politische Berichte Nr. 3, April 2017 • Gesamtausgabe: PDF Inhaltsverzeichnis: TXT

Kalenderblatt – 28. März 1882 – Frankreich

01-Loi Ferry: Das Gesetz über allgemeine Schulpflicht und Laizität

02-Gesetz von 1882 über das primäre obligatorische Bildungswesen (Auszüge)

03-Die Enzyklopädisten

04-Rousseaus Emile: Natur, Dinge, Menschen

01-Loi Ferry: Das Gesetz über allgemeine Schulpflicht und Laizität

E nde März 1882 wird per Gesetz (Loi Ferry) in ganz Frankreich die allgemeine Schulpflicht (obligation scolaire) für Kinder von sechs bis 13 Jahren eingeführt. Der Staat verpflichtet sich zu religiöser Neutralität, zur Trennung von öffentlicher Sphäre und privater, in der das religiöse Leben stattfinden soll. Der Religionsunterricht in den Primar- (Grund)schulen wird abgeschafft, konfessionelles Lehrpersonal durch „Laien“ ersetzt. Der Besuch der Grundschule ist kostenlos. Es bleibt den Eltern aber freigestellt, die Kinder in Privatschulen oder in der Familie zu erziehen.

Fast hundert Jahre hatte es gebraucht, von der Formulierung der Ansprüche durch die Verfassungsgebende Versammlung der französischen Revolution bis hin zur tatsächlichen allgemeinen Einführung der Schulpflicht. Die Konstituante hatte das Prinzip „eines für alle Citoyens gemeinsamen öffentlichen Unterrichts, der hinsichtlich der für alle Menschen unerlässlichen Bildungsinhalte kostenlos erteilt wird“, formuliert. Allerdings blieb es bei der Deklamation. Es wurde lediglich der Fortgang der alten bestehenden, vom Klerus beherrschten Bildungseinrichtungen sichergestellt. Die darauf folgende Gesetzgebende Versammlung setzte immerhin einen Ausschuss für das öffentliche Unterrichtswesen ein und Condorcet konnte 1792 seinen Entwurf über die „allgemeine Organisation des öffentlichen Unterrichts“ der Versammlung vortragen. Der montagnardische Konvent formulierte 1793 Unterricht als Menschenrecht, als das Bedürfnis aller Menschen: „Die Gesellschaft muss mit aller Kraft den Fortschritt der allgemeinen Vernunft vorantreiben und die Bildung allen Citoyens zugänglich machen.“ Robespierre ließ mit dem Nationalerziehungsplan, den Lepelier de Saint-Fargeau erstellt hatte, das Monopol des Staates setzen. Es folgten bis 1795 eine Vielzahl von Dekreten zum Bildungs- und Erziehungssystem: Einführung der Anfangsschule; die Eröffnung der École Normale – der Lehrerbildungsanstalt; die Primar- (Grund)schule, dann die Zentralschule, die Polytechnische und die Medizinschule. Das Gesetz vom 3. Brumaire IV fasste die geschaffenen Institutionen des Bildungs- und Erziehungssystems zusammen. Aber die allgemeine Schulpflicht und die Schulgeldfreiheit wurden noch nicht durchgesetzt: Der Staat stellte den Lehrern lediglich die Wohnung, das Einkommen hatten die Schüler aufzubringen.

Albert Soboul hat in seiner umfangreichen Schrift über die französische Revolution die Zeit folgendermaßen zusammengefasst: „Das Unterrichtswerk der Revolution erscheint am Ausgang dieser Periode bedeutend und blieb doch unvollkommen. Das kirchliche Monopol war abgeschafft. Das Bildungswesen war verweltlicht und modernisiert: gesellschaftlich gesehen blieb es das Privileg einer Minderheit.“

Das 1. Kaiserreich unter Napoleon führt die Universitäten ein, belässt aber die Primarschulen weiter in den Händen des Klerus. 1833 unter Louis-Philippe legt der Minister Guizot dann ein Gesetz zu den Primarschulen vor: Es sieht die Verpflichtung vor zur Einrichtung der Primarschule für Gemeinden mit mehr als 500 Einwohnern und je Departement die verpflichtende Einrichtung einer Lehrerbildungsanstalt. Allerdings wird auf den obligatorischen Schulbesuch verzichtet, um elterliche Rechte nicht einzuschränken. Auch die Wahl zwischen religiöser und laizistischer Erziehung bleibt freigestellt. Die Rolle der Kirche in der Primarschule ist weiterhin maßgeblich und wird 1850 nochmals gestärkt. (Loi Falloux)

1879 stellt der Senat fest, dass die Ausbildung der Lehrer unzureichend ist. Vor 1850 bestanden zur Ausbildung von Lehrern 70 Anstalten und 6 für Lehrerinnen, 1879 waren es 79 und 19: „Es bleibt noch viel zu tun, vor allem was die Ausbildung von Lehrerinnen betrifft“. Während in acht Departements noch Lehrerbildungsanstalten für Jungen fehlen, sind es 68 Departements für die angehenden Lehrerinnen. Ca. 600 000 Kinder können noch keine Grundschule besuchen.

Es werden Maßnahmen beschlossen, die die materiellen Voraussetzungen für eine allgemeine obligatorische Schulpflicht sicherstellen sollen. 1881 wird die Kostenfreiheit für die öffentlichen Schulen beschlossen.

28. März 1882: Die Primarschulen werden obligatorisch, und sie werden laizistisch. Der Anspruch, den die Aufklärung an und für das Individuum formuliert hatte, wird in Lehrpläne für naturwissenschaftlich-mathematische und technische Bildung gegossen. Damit gelingt es auch, die noch mehrheitlich ländlich bäuerliche Gesellschaft für die Anforderungen modernen kapitalistischen Wirtschaftens und Arbeitens einzustellen.

Schließlich: Das Religiöse, das ins Private überführt wird, gleicht der französische Staat durch staatsbürgerliche und moralische Ansprüche aus: der Lehrplan ersetzt den Bezug auf Gott durch den auf die Grande Nation und die Tricolore – die Fahne.

Es bleibt aber Raum für das religiöse Leben: der Donnerstag – später wird es der Mittwoch – ist neben dem Sonntag schulfrei. Und Ferienregeln kommen auch den Erfordernissen des bäuerlichen Leben entgegen: die Sommerferien dauern von Anfang Juli bis in den September und fallen damit in die Erntezeiten. Matthias Paykowski, Karlsruhe

Quellen: 1. Das Internet-Archiv des französischen Senats bietet einen Einblick in markante Punkte der französischen Geschichte: www.senat.fr. 2. Wikipedia (französisch) über Jules Ferry: https://fr.wikipedia.org/wiki/Jules_Ferry. 3. Albert Soboul, Die grosse französische Revolution – Abriss einer Geschichte (1789-1799) Taschenbuch – 1. Januar 1976.

NUR IM PDF: Abb. links: Zeitgenössische Karikatur: „Unwissenheit das ist die Sklaverei, Bildung das ist Freiheit“, https://i.skyrock.net/5726/56945726/pics/3172037611_2_3_3Jpt4Ke8.jpg. Abb. rechts: Lehrer Schüler im Schulraum: http://www.senat.fr/histoire/images/ecole_ferry.jpg

02-Gesetz von 1882 über das primäre obligatorische Bildungswesen (Auszüge)

Art. 1: Das primäre Schulwesen beinhaltet: Die moralische und staatsbürgerrechtliche Unterweisung; die Sprache und die Elemente der französischen Literatur; die Geografie, insbesondere die Frankreichs; die Geschichte, insbesondere die Geschichte Frankreichs bis heute; einige gebräuchliche Grundkenntnisse des Rechts und der politischen Ökonomie; die Elemente der Naturwissenschaften – Physik und Mathematik; ihre Anwendungen in der Landwirtschaft, der Hygiene, den industriellen Fertigkeiten, den manuellen Arbeiten und der Gebrauch der Werkzeuge der wichtigsten Berufe; die Elemente des Zeichnens, der Formgestaltung und der Musik; der Sport; für die Jungen die militärischen Übungen; für die Mädchen die Näharbeiten …

Art. 2: Die Primarschulen pausieren einen Tag in der Woche, zusätzlich zum Sonntag, um den Eltern, wenn sie es wünschen, zu erlauben ihren Kindern religiöse Unterweisungen zu geben, außerhalb der schulischen Einrichtungen. Die religiöse Erziehung ist freiwillig in den privaten Schulen …

Art. 4: Die primäre Erziehung ist obligatorisch für Kinder beiderlei Geschlechts von sechs bis 13 Jahren; sie kann in den Einrichtungen der Primar- und Sekundarschulen erfolgen, seien es öffentliche oder private, sei es in den Familien durch den Vater der Familie selber oder durch wen auch immer er dazu auswählt …

Art. 5: Eine kommunale Kommission wird in jeder Gemeinde eingerichtet, um die Frequentierung des Schulbesuchs zu überwachen und zu ermutigen …

Das Gesetz besteht insgesamt aus 18 Artikeln, nachzulesen im Archiv des französischen Senats: http://www.senat.fr/evenement/archives/D42/mars1882.pdf

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03-Die Enzyklopädisten

1623 veröffentlicht Francis Bacon die erste Universalenzyklopädie* der Neuzeit, bereits 1620 die Methodenlehre der Wissenschaften. Der englische Naturwissenschaftler, Philosoph und Politiker begründet das wissenschaftlich-methodische Arbeiten. Er steht am Anfang eines Zeitalters der Euphorie gegenüber dem naturwissenschaftlich-technischem Wissen. Auch durch Bacons Projekt inspiriert, entsteht um den Schriftsteller und Aufklärer Denis Diderot und den Verleger und Autoren Jean-Baptiste D’Alembert ein Kreis, der eine umfassende Enzyklopädie erstellen will, die alle bisher erworbenen Erkenntnisse aus allen Wissensbereichen enthalten soll.

Der Kreis verfolgt mit der Encyclopédie das Ziel, ein verständliches Wissenskompendium für eine breite Öffentlichkeit zu erstellen. Seit Beginn der Arbeiten im Jahr 1748 bis zur Aberkennung des königlichen Druckprivilegs 1759 wurde den Enzyklopädisten vorgeworfen, sie wollten Kirche und Staat untergraben. Dazu mussten die Leser jedoch zwischen den Zeilen lesen, denn offene Kritik an den zeitgenössischen Verhältnissen und Institutionen war selten zu finden. Umso deutlicher diente die Encyclopédie als Propagandamittel für Kirchenkritik. Radikalster Gegner des Klerus war Voltaire, der vor allem der Institution Kirche den Anspruch absprach, mehr als eine moralische Autorität zu sein.

Insgesamt sind 139 (unterschiedliche Angaben) Autoren namentlich bekannt. Lediglich eine Frau soll sich darunter befunden haben. 17 Textbände entstehen und werden in der Zeit von 1751 bis 1765 in Paris herausgegeben. Sie umfassen rund 18000 Seiten und 71818 Artikel. Weiterhin werden elf Bildtafelbände publiziert, die auf rund 7000 Seiten 2885 Kupferstiche und 2575 Erläuterungen enthalten. Rolf Gehring, Brüssel

* Siehe auch: https://static.uni-graz.at/fileadmin/Wissenschaftsgeschichte/ENZ_DOK_FASSUNG.pdf. Abb: Titelblatt der „Instauratio magna“ von Francis Bacon, London 1620 (Wikipedia, CC)

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04-Rousseaus Emile: Natur, Dinge, Menschen

Vorsicht ist geboten. Wer sich auf Rousseaus Emile (erschienen 1762) einlässt, lässt sich auf ein zweifaches Unterfangen ein. Das Werk ist mit 959 Seiten* sehr umfangreich und damit echte Arbeit. Und es steht am Anfang der neuzeitlichen Pädagogik in den europäischen bürgerlichen Gesellschaften. Vieles liest sich heute mit Befremden, viele seiner Vorstellungen sind obsolet geworden.

Seine Lektüre lohnt dennoch. Rousseaus Sicht auf das Kind als eigenständiges Wesen bleibt die Basis aller neueren Pädagogik. Er beschreibt mehrere Entwicklungsstufen, die alle ihren eigenen Entwicklungsprozess haben. Seine jeweiligen Erziehungsmethoden für die einzelnen Entwicklungsstufen sollen eine umfassende Bildung vermitteln, sie brechen damit radikal mit den damals üblichen Erziehungspraktiken hin auf eine je spezielle Rolle in der gesellschaftlichen Hierarchien und Arbeitsteilung. Sie öffnen Entwicklungswege.

Für Rousseau gibt es drei Lehrer, Natur, Dinge und Menschen, die in den einzelnen Entwicklungsstufen je unterschiedlich im Vordergrund stehen.

Die fünf Bücher des Emile blättern das Alltagsleben, die soziale und emotionalen Beziehungen in der Zeit Frankreichs vor der Revolution von 1789 auf. Gerade der dritte Band entwirft ein Panorama der Alltagsumstände, des naturwissenschaftlichen Wissens der Zeit und der handwerklichen Praktiken. Im Handwerk sieht Rousseau auch die beste Möglichkeit für ein unabhängiges Leben. Es erlaubt dem Handwerker, anders als dem an die Scholle gebundenen Bauern, Lebewohl zu sagen, wenn die Schinderei zu viel wird. Rolf Gehring, Brüssel

NUR IM PDF: Abb.: * Ein wirkungsmächtiges Werk: Gleich nach dem Erscheinen übersetzt (Faksimile siehe en.wikipedia.org/wiki/Emile,_or_On_Education) und i mmer wieder neu aufgelegt. Anaconda Verlag, 9,95 Euro

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