Quelle: Politische Berichte Nr. 8, 2017 • Gesamtausgabe: PDF Inhaltsverzeichnis: TXT ⯈ H O M E

Türkei - deutsche Politik - HDP

01 Die deutsche Türkeipolitik in der Krise

02 Mahnwache des Widerstands und Neun-Punkte-Deklaration der HDP: Civaka Azad, 26.7.

03 Dok: Deklaration für eine demokratische Lösung

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01 Die deutsche Türkeipolitik in der Krise

Die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei sind an einem vorläufigen Tiefpunkt angekommen. Erst verweigerte die türkische Regierung deutschen Parlamentsdelegationen den Zugang zu den Militärstützpunkten Incirlik und Konya wegen der Teilnahme von Abgeordneten der Linksfraktion. Das führte bekanntlich zu dem Beschluss, die Kampfflugzeuge von Incirlik nach Jordanien zu verlegen. Dann befinden sich 22 deutsche Staatsbürger in der Türkei in Haft, die bekanntesten darunter die Journalisten Deniz Yücel und Mesale Tolu sowie zuletzt der Menschenrechtler Peter Steudtner. Eine konsularische Betreuung der Inhaftierten wird seitens der türkischen Behörden auf ein Minimum reduziert. Weiter kommen immer mehr türkische geheimdienstliche Aktivitäten in Deutschland gegen türkische und kurdische Oppositionelle aber auch deutsche Politiker ans Licht. Als Letztes schickt die türkische Regierung über ihren Geheimdienst eine Liste von fast 700 deutschen Firmen und bezichtigt diese als Unterstützer terroristischer Organisationen, gemeint sind Gülen-Bewegung und PKK. Unter den Firmen befinden sich neben Dönerläden auch BASF und Daimler. Mit solchen Vorwürfen werden in der Türkei seit dem Putschversuch vor einem Jahr Unternehmen enteignet und in Staatsbesitz überführt. In der Türkei sind 6000 deutsche Firmen aktiv. Das war dann wohl der letzte Grund, dass die Bundesregierung von ihrer bisher Türkeipolitik abrückte, die Reisewarnungen aussprach, die mögliche Einstellung der Hermes-Bürgschaften verkündete und die Überprüfung der Rüstungsgeschäfte ankündigte. Das hat aber lange gedauert!

Die deutsche Beschwichtigungspolitik und Unterstützung des Erdoganregimes hat sicherlich großen Anteil an der Entwicklung in der Türkei. Die politische Opposition hat dafür einen großen Preis gezahlt und der Friedensprozess zwischen türkischem Staat und PKK blieb auf der Strecke. Wie war das im Juni 2015 – die HDP war mit 13 Prozent der Stimmen ins Parlament eingezogen, die absolute Mehrheit der AKP war gebrochen. Es keimte eine Hoffnung auf bessere Zeiten, auf Frieden und Demokratie auf. Erdogan akzeptierte das Ergebnis nicht und begann erneut mit dem Krieg in der kurdischen Region. Und Bundeskanzlerin Merkel hatte nichts Besseres zu tun, im Zuge des Flüchtlingsdeals mit der Türkei einen Wahlkampfauftritt mit Erdogan direkt vor den Neuwahlen im November 2015 abzuhalten. Das Ergebnis ist bekannt. Seither sind Abgeordnete der HDP inhaftiert und die Bürgermeister in der kurdischen Region abgesetzt und im Gefängnis. Die beiden Co-Vorsitzenden der HDP, Figen Yüksekdag und Selahattin Dermitas, befinden sich seit November 2016 in Haft. Gegen beide wurden erste Gerichtsverhandlungen eröffnet.

In einem schriftlichen Interview der Neue Züricher Zeitung sagt Demirtas, „es bestehe keine Chance auf einen fairen Prozess. Bevor ich einen Richter gesehen habe, bezeichnet mich Erdogan als Terroristen und erteilt dem Gericht somit eine Anweisung.“ Demirtas bezieht sich auf Aussagen des türkischen Staatschefs an einer Pressekonferenz am G-20-Gipfel in Hamburg. In Beantwortung einer Journalistenfrage bezichtigte Erdogan den Menschenrechtsanwalt, die Kurden in einer Rede gegeneinander aufgehetzt und tödliche Unruhen in der Türkei angezettelt zu haben. Dieser Vorfall im Oktober 2014, als die IS-Jihadisten die syrische Kurden-Stadt Kobane einkesselten, sei aber „nur eines von mehreren Verbrechen dieses Terroristen“, so Erdogan.“ (24.7.2017)

Seit Beginn der EU-Beitrittsverhandlungen kassiert die Türkei jährlich 630 Millionen Euro Hilfsgelder. CDU, SPD und Grüne unterstützen in der EU die Weiterführung dieser Beitrittsverhandlungen. Von einem Stopp der Rüstungsunternehmen wie Krauss-Maffei und Rheinmetall, die Panzerfabriken in der Türkei bauen wollen, ist nichts zu hören. Außenminister Gabriel hatte der türkischen Regierung eine verschärfte Verfolgung der kurdischen Opposition in Deutschland angekündigt. Die syrische Revolution in Rojava wurde in Deutschland auf den Verbotsindex gesetzt.

Die CHP protestiert nach ihrem Freiheitsmarsch nach Istanbul derzeit im türkischen Parlament gegen die weitere Beschränkung der Opposition. Die HDP reorganisiert sich nach den großen Verhaftungswellen und führt „Mahnwachen des Widerstands“ für eine Rückkehr zu Demokratie, Frieden und Menschenrechten in der Türkei durch. Leider wird darüber in den deutschen Medien wenig oder gar nicht berichtet. Rudolf Bürgel, Karlsruhe

Abb. (PDF):„Mahnwache des Widerstands“ von Abgeordneten der HDP-Partei in Diyarbakir, siehe Erklärung dazu auf der folgenden Seite.

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02 Mahnwache des Widerstands und Neun-Punkte-Deklaration der HDP: Civaka Azad, 26.7.

Die Demokratische Partei der Völker (HDP) hat in der Stadt Diyarbakir eine „Mahnwache des Widerstands“ gegen die zunehmenden politischen Repressionen in der Türkei begonnen. An der Mahnwache die bis zum 31. Juli andauern wird, nehmen folgende Abgeordneten der HDP teil: der HDP-Sprecher Osman Baydemir, der HDP-Fraktionssprecher Ahmet Yıldırım, die Istanbul-Abgeordnete Hüda Kaya, der Istanbul-Abgeordnete Garo Paylan, der Adıyaman-Abgeordnete Behçet Yıldırım, die Diyarbakir-Abgeordnete Feleknas Uca, der Diyarbakir-Abgeordnete Nimettullah Erdoğmuş, der Diyarbakir-Abgeordnete Ziya Pir, der Izmir-Abgeordnete Müslüm Doğan und die Ağrı-Abgeordnete Dilan Dirayet Taşdemir. Nach der Mahnwache der HDP sollen jeweils einwöchige Mahnwachen in Istanbul, Van und Izmir veranstaltet werden.

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03 Dok: Deklaration für eine demokratische Lösung

Vergangene Woche hatte die HDP im Istanbuler Stadtviertel Beşiktaş eine große Kundgebung abgehalten, welche mit dem Slogan „Lasst uns nicht stehen bleiben, lasst uns Stopp sagen“ begleitet wurde. Hierbei wurde zum gemeinsamen politischen Kampf aufgerufen und eine Neun-Punkte-Deklaration für eine demokratische Lösung veröffentlicht.

1. Die demokratische Politik darf nicht neutralisiert werden

Lasst uns gemeinsam zu:

  • den Repressionen gegen die demokratische Politik, vor allem die Haftstrafen gegen die PolitikerInnen,
  • den Inhaftierungen und die Geiselnahme der beiden Ko-Vorsitzenden, Abgeordneten und der BürgermeisterInnen,
  • dem Einsetzen von Zwangsverwaltern in den kurdischen Stadtverwaltungen, wodurch der politische Wille der Bevölkerung aberkannt wird,

Stopp sagen!!!

2. Die universellen Menschenrechte und Freiheiten sind unabdingbar

Lasst uns gemeinsam zu:

der steigenden Repression und Zensur bzgl. der Organisations- als auch Meinungsfreiheit,

der willkürlichen Handhabe, welches derzeit Kundgebungen als auch Demonstrationen massiv einschränkt,

den Menschenrechtsverletzungen in den Gefängnissen, wie Isolationshaft, Folter und widrigen Bedingungen in Haft,

den Hasstiraden gegen Menschen, die anders denken, andere Lebensstile oder sexuelle Orientierungen haben und deswegen zur Zielscheibe gemacht werden,

der Verletzung des Rechts auf Leben, welche für jeden als heilig gilt,

Stopp sagen!!!

3. Die Justizhoheit und die universellen demokratischen Rechtsgrundsätze sind unverletzbar

Lasst uns gemeinsam zu:

dem Ausnahmezustand und das Dekreten-Regime, welches sich jeglicher Kontrolle entzieht,

den Notstandsdekreten, die Entlassungen, Ermittlungen und Schließungen von Stiftungen und Massenorganisationen mit sich brachten,

der Inhaftierung von JournalistInnen und Schließung von Radio-/TV-Sendern, Zeitungen, Zeitschriften und sozialen Netzwerken,

dem Justizsystem, welches gegen internationale bestehende demokratische Abkommen verstößt und gegen erlassene Urteile, die von ganz oben befehligt werden,

Stopp sagen!!!

4. Der Frieden ist unverzichtbar

Lasst uns gemeinsam zu:

dem Kriegsblock innerhalb der Regierung, welcher für innen- als auch außenpolitische Angriffe verantwortlich ist und mit einer Besatzermentalität, Soldaten in Nachbarländer entsendet,

der Isolationshaft gegen Abdullah Öcalan, welcher im Aufbau des Friedensprozesses die maßgebende Schlüsselrolle innehatte,

dem monistischen Verständnis, wonach verschiedene Kulturen, Identitäten, Religionen und Sprachen zum Feind deklariert werden,

der Marginalisierung der Völker und Religionen, vor allem der KurdInnen und AlevitInnen,

der Zerstörung der wichtigen politischen, historischen als auch kulturellen Städte bzw. Stätten, wie Sur, Cizre und Hasankeyf, die für die KurdInnen von enormen Wert sind,

Stopp sagen!!!

5. Die sozialen als auch ökonomischen Rechte der ArbeiterInnen dürfen nicht untergraben werden

Lasst uns gemeinsam zu:

den Todesfällen auf der Arbeit und das Verbieten bzw. Verschieben von Streiks,

den ungesicherten als auch harten Arbeitsbedingungen der SaisonarbeiterInnen, LeiharbeiterInnen, WanderarbeiterInnen und der Geflüchteten,

der Beraubung der sozialen und gesundheitlichen Rechte von RentnerInnen, ArbeiterInnen und körperlich oder geistig eingeschränkten Menschen

Stopp sagen!!!

6. Die Natur- als auch Kulturbestände dürfen nicht geplündert werden

Lasst uns gemeinsam zu:

der Zerstörung des historischen und kulturellen Gedächtnisses als auch die Zerstörung des Naturbestandes,

der Kapitalisierung von landwirtschaftlich genutzten Flächen, Olivenhainen, Küsten und Wasserbecken,

dem Zubetonieren der Städte, welche unter dem Deckmantel des Städteumbaus vorangetrieben wird und gegen die Vertreibung der Lokalbevölkerung,

dem Entziehen des Mitsprache- als auch Entscheidungsrechts der Lokalbevölkerung in Bezugnahme auf Ressourcen

Stopp sagen!!!

7. Die Gegenwart und Zukunft der Jugendlichen darf nicht getrübt werden

Lasst uns gemeinsam zu:

der täglich steigenden Arbeitslosigkeit unter den Jugendlichen und das Verdunkeln derer Zukunftspläne,

den Repressionen an den Universitäten und gegen die Verweigerung des Mitspracherechts der StudentInnen seitens der Universitätsführungen,

der ungeeigneten und ungesunden Unterbringung der SchülerInnen in Wohnheimen,

dem Drogenkonsum unter den Jugendlichen, welche hierbei gezielt vom Staat selbst oder von Drogenbanden gefördert wird,

Stopp sagen!!!

8. Die Errungenschaften der Frauen können nicht rückgängig gemacht werden

Lasst uns gemeinsam zu:

der Diskriminierung von Frauen im sozialen, politischen und Arbeitsleben,

den Angriffen gegen die Identität, den Körper, das Leben und den Kleidungsstil der Frauen,

der grenzenlosen Ausbeutung der Frauen auf der Arbeit und im Haushalt,

der Straflosigkeit für Männer, die Gewalt an Frauen und Kinder ausüben,

Stopp sagen!!!

9. Wir brauchen eine gesellschaftliche Übereinkunft

Wir können gemeinsam eine demokratische, gleichberechtigte, soziale, frauenbefreiende, laizistische, ökologische und pluralistische Verfassung ausarbeiten.

Wir können einen gesellschaftlichen Konsens erschaffen, der den Schutz der kulturellen, muttersprachlichen und religiösen Vielfalt schützt und garantiert.

Wir können das Recht auf muttersprachlichen Unterricht für alle Volksgruppen ermöglichen.