Quelle: Politische Berichte Nr. 8, 2017 • Gesamtausgabe: PDF Inhaltsverzeichnis: TXT ⯈ H O M E

An sorgfältiger Sach- und Detailarbeit und mühsamen Verhandlungen über einen „weichen“ Brexit führt wohl kein Weg vorbei

Nach der Niederlage von Premierministerin May bei den Parlamentswahlen vom 8. Juni 2017, bei der die Konservativen zwar stärkste Partei blieben, aber die absolute Mehrheit verfehlten, haben am 19. Juni 2017 die Verhandlungen zwischen Großbritannien und der EU über den Austritt Großbritanniens begonnen. Seit dem 29. März, dem Tag, an dem die Regierung May ihren Austrittsantrag in Brüssel hinterlegt hat, läuft der Austrittsprozess. Es geht jetzt – wohl auf absehbare Zeit – erstmal um das „Wie“ eines Austritts und nicht mehr um das „Ob“ des Austritts, über das mit knapper Mehrheit von 52% für ein „Nein“ zur EU im Referendum von 2016 entschieden wurde. Daran dürfte derzeit auch kaum ändern, dass namhafte Befürworter eines Verbleibes in der EU wie der ehemalige Premierminister Tony Blair oder der Liberaldemokrat Nick Clegg bereits jetzt für ein abermaliges Referendum plädieren.

Zum Beginn der Gespräche am 19.7. erklärte der EU-Chefunterhändler Michel Barnier in Brüssel zum Start der Gespräche mit dem britischen Brexit-Minister David Davis, es werde über einen „geordneten Rückzug“ des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union verhandelt und er erwarte „konstruktive“ Gespräche. Ziel des Treffens sei, sich zunächst auf den Ablauf und die Organisation der Verhandlungen zu einigen. Bis Jahresende 2017 will die EU über die Rechte von ca. drei Millionen EU-Bürgern in Großbritannien, den Status der Grenze zwischen Nordirland und Irland sowie die finanziellen Forderungen der EU an Großbritannien verhandeln. Abschließen will Barnier die Gespräche bis Oktober 2018, damit eine Austrittsvereinbarung noch rechtzeitig vor dem geplanten EU-Austritt Großbritanniens Ende März 2019 ratifiziert werden kann.

Zum ersten Sachpunkt, dem Bleiberecht von EU-Bürgern in Großbritannien und Briten in der EU, blieben die ersten Verhandlungen ohne Ergebnis. Dass die Positionen auseinanderliegen, zeigen die vorab veröffentlichten Positionspapiere. Die EU spricht von Bürgerrechten, während die britische Seite über Niederlassungsrechten mit einer Übergangsfrist von zwei Jahren verhandeln will.

Mehrerlei wird immer deutlicher für die britische und die EU-Regierungspolitik und in der britischen Öffentlichkeit: Premierministerin Mays Position ist geschwächt, Oppositions- und Labourführer Corbyn fordert ihren Rücktritt und in den Reihen ihrer eigenen Partei der Konservativen warten ihre Widersacher auf den passenden Zeitpunkt für ihren Sturz. In der Situation lässt sich kaum ein konsistentes Austrittskonzept entwickeln – so es denn überhaupt eines gäbe bzw. je gegeben hätte – weder für einen „harten“ noch für einen „weichen“ (Stichwort „Norwegen-Lösung“) Austritt.

Langsam greifen offensichtlich auch Einsichten in Realitäten der wirtschaftlichen Entwicklung, die allein mit der Aussicht auf einen – wie auch immer gearteten – realen Brexit ausgelöst wurden. Nach einem kurzfristigen Börsenhoch nach dem Referendum (angeblich ausgelöst durch Spekulation auf verbesserte Euro-Entwicklung im Verhältnis zu Großbritannien) stockt das wirtschaftliche Wachstum. Das Pfund hat seit Ende 2015 gegenüber dem Euro 17 Prozent verloren. Die Preise steigen, denn die Einfuhren sind teurer geworden. Unternehmen verlagern ihren Firmensitz. Die Fluggesellschaft Easyjet geht zum Beispiel nach Österreich, Banken aus der Londoner City verlassen die Insel. Das alles kontrastiert erheblich mit den Hoffnungen, die die Stimmungsmache für einen Brexit geschürt hatte.

Schließlich zeigt sich wohl bereits in der Vorbereitung der Verhandlungen auf beiden Seiten, wie komplex und realitätsfest das Geflecht der EU, einschließlich ihrer Teilorganisationen und verbundener Vertragsorganisationen wie z.B. Euratom, inzwischen geworden ist. Was ein Ausstieg z.B. aus Euratom und der EU-Energiepolitik für Großbritannien bedeutet und wie er sich u.a. auch auf die Versorgung der Nuklearmedizin in Großbritannien auswirkt, hatte offensichtlich niemand im Blick. Stimmungsmache um einen Brexit als angeblicher Lösung für eine Vielzahl von sozialen und politischen Probleme in einem Land ist das Eine, aber tatsächliche neue bilaterale und multilaterale Regelungen für komplexe technische, gesellschaftliche und politische Sachverhalte im „Ersatz“ für bestehende verbundstaatliche EU-Regelungen zu finden ist das Andere.

Normalerweise wären in einer solchen Situation die Parteien gefordert, Initiativen für einen neuerlichen gesellschaftlichen Diskurs über konsensfähige Ziele zu entwickeln, auf die Regierungspolitik aufbauen könnte. Aber die Spaltung zwischen „Remainers“ (in der EU bleiben) und „Leavers“ (Raus aus der EU) zieht sich quer durch die Parteienlager und hat ihre Anhänger sowohl bei Labour wie bei den Konservativen, beide in Teilen geklammert und gelähmt von der Hoffnung auf ein neues „Groß“-Britannien. Labourführer Corbyn, für nicht Wenige eine Lichtgestalt linker Politik, hat nicht nur bereits beim Referendum seine Rolle als möglicher Oppositionsführer gegen den Brexit verspielt, seine national-protektionistischen Anwandlungen versperren ihm auch den Weg für neue, sachlich fundierte Vermittlungsperspektiven zwischen den Lagern. Der Ruf aus den Reihen der „Remainers“ nach einem zweiten Referendum würde zum gegenwärtigen Zeitpunkt beim Versuch seiner realen Umsetzung wahrscheinlich zu einer zweiten Niederlage führen.

So bleibt also nur der Weg der Ausarbeitung einer „weichen“ Lösung – etwa nach dem Modell des heutigen Norwegen-Status – in den Verhandlungen mit der EU, mit der Hoffnung, darüber auch wieder zu gesellschaftlich konsensfähigen Zielen über den Status des Landes in Europa und der Welt zu kommen. Christoph Cornides, Mannheim

Quellenangaben: FAZ, Euraktiv, Spiegel online, Die Zeit online