Quelle: Politische Berichte Nr. 9, 2017 • Gesamtausgabe: PDF Inhaltsverzeichnis: TXT ⯈ H O M E

Indymedia-Verbot:

01 IT-Publikationen sind Teil der freien Presse! Der Innenminister hat die Schranken des Rechts durchbrochen

02 Hinweise

03 Schlechte Nachrichten

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01 IT-Publikationen sind Teil der freien Presse! Der Innenminister hat die Schranken des Rechts durchbrochen

Dies Maßnahme der Regierung Merkel/Gabriel, vollzogen vom Innenminister, dessen Aufgabe es ist, die Verfassung zu schützen, ist ein sorgfältig durchkomponiertes Stück politischer Einschüchterung. Das Verbot der IT-Plattform „Indiymedia.linksunten“ als Verein setzt alle unter Druck, die damit irgendwie zu tun hatten. Das sind nicht nur Betreiber und redaktionelle Betreuung. Die Behörde kann den Ermittlungsdruck ohne weiteres auf jene ausdehnen, die dort Publikationen eingestellt haben, und sogar regelmäßige Besucher der Seiten geraten in Verdacht. Freilich, Verurteilungen werden im Rahmen der Rechtsordnung nicht leicht erfolgen. Aber so wie die eigentlich verbotene körperliche Züchtigung durch Polizei im Vollzug doch erlebt wird, ist auch der Fahndungsdruck mit seinen Einvernahmen, eventuellen Hausdurchsuchungen, Prozessen, die letztlich eingestellt werden, ein Strafmittel, das es in sich hat und bei jungen Leuten lange Schatten auf die beruflichen Aussichten wirft.

Der Durchgriff auf IT-Publizistik mit den Mitteln des Vereins(verbots)rechts wird an Indymedia zelebriert, er betrifft aber brisante Veröffentlichungen, die unter das Stichwort „Leaks“ dem Staat im Krieg und der Polizei im Vollzug lästig fallen und ihr Handeln öffentlicher Würdigung zugänglich machen. Wahr ist freilich, dass die Plattform im Schutz der Anonymität betrieben wurde und Inhalte transportierte, die eine im Sinne des Presserechts verantwortliche Person (Aufgabe: das Druckwerk von strafrechtlich relevantem Inhalt freizuhalten) nur bei hoher Bereitschaft zur prozessrechtlichen Klärung hätte durchgehen lassen.

Der Schutz des Presserechts hätte aber dazu geführt, dass die Ermittlungen und eventuelle Strafverfolgung wegen einer einzelnen konkreten Stellungnahme hätten geführt werden müssen. Dies hätte die ermittelnde Seite unter politischen Rechtfertigungsdruck gesetzt und zu einer Debatte geführt, was Polemik und was publizistische Straftat ist, d.h. auch, was sich „der Staat“ gefallen lassen muss, und welche Grenzen die polemische Meinungsäußerung sich selbst ziehen sollte.

Diesen angesichts der angespannten politischen Situation unumgänglichen Klärungsprozess hat der behördliche Durchgriff brutal abgeschnitten. Die an den ganzen Kommunikationszusammenhang gerichtete Botschaft lautet: Wir dürfen alles, ihr dürft ab jetzt gar nichts mehr.

Was werden die Folgen sein? Wird Indymedia sein Recht als Teil der freien Presse behaupten? Dazu müsste freilich jemand sich zu der Verantwortung als Verlag bzw. Redaktion bekennen. Dann allerdings wären die Aussichten nicht so schlecht. Geht man aber den Weg in die vermeintliche Sicherheit technischen Verbergens, wird die Exekutive nacheilen, und die dazu eventuell noch fehlende Gesetze werden kommen. Hoffentlich kommt es anders.

Im Grenzkrieg zwischen exekutiven Machtansprüchen und bürgerrechtlichen Freiheitsräumen fallen die Entscheidung bei der Behandlung praktischer Fragen. Was sind die Konsequenzen aus HH-G20? Die Rechtslage hätte geboten, Kritik in den Bahnen der Grundrechte zu ermöglichen. Die Exekutive wollte sie lieber aussperren. Was genau geschah, wird die parlamentarische Untersuchung zeigen. Haben sich Einsatzplanung und -leitung abweichend von Recht und Gesetz entfaltet, ist die Gefahr einer nachträglichen Rechtfertigung durch Änderung der Gesetze groß.

Große Herausforderungen an die Arbeit parlamentarischer Kontrolle der Exekutive, an die rechtliche Durchdringung – irgendwer muss die Wüste, die die Piraterie hinterlassen hat, aufforsten, und für alle, die IT-Publikation nicht mehr missen wollen. Martin Fochler, München, Alfred Küstler, Stuttgart

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02 Hinweise

Zur Diskussion in der Hamburger Bürgerschaft: G20: Aufklärung statt Keule von Christiane Schneider in: www.linksfraktion-hamburg.de/wp-content/uploads/2015/08/BuergerInnenbrief_Sudmann_Schneider_2017_06.pdf

Zur rechtlichen Lage: Plattform und Vereinsverbot von Halina Wawzyniak: blog.wawzyniak.de/plattform-und-vereinsverbot/

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03 Schlechte Nachrichten

Der Innenminister der Regierung Merkel/Gabriel, Herr de Maizière, hat das Internetportal „linksunten.indymedia“ das zweifellos eine Publikation ist, als Verein verboten. Mit diesem Ansatz wird das Grundrecht auf Pressefreiheit ausgehebelt. Dieser Verstoß gegen die Verfassung ist möglich, weil das Rechtsgut der Pressefreiheit die Meinungsäußerung mittels Techniken schützt. Kommunikation geschieht zwischen Menschen. Tagung, Sitzung, Dienstgespräche, alles wird durch den Tag-Nacht-Rhythmus getaktet.

Koenigs dampfbetriebene Zylinderdruckmaschine zum Druck der „Times“ (1814) – Technische Grundlage der Tageszeitung.

Seit der Erfindung der dampfgetriebenen Schnellpresse beginnt das Tagwerk der Mächtigen nicht mehr mit dem Lobhudel der Hofschranzen, den Einflüsterungen des geistlichen Rates, der Zwiesprache mit sich selbst, sondern mit der Kenntnisnahme der öffentlichen Meinung. Regieren heißt seither auch, sich vor der Öffentlichkeit rechtfertigen. Es liegt in der Logik der Macht, den Rechtfertigungsdruck zu minimieren.

Wo politische Macht auf Zeit übertragen wird, kann Kritik neue Mehrheiten schaffen. Die periodische Presse besorgt eine Balance zwischen Machthabenden und Machtgebenden und damit Raum für Demokratie. Das Grundgesetz der BRD garantiert die Pressefreiheit. Besonderen Schutz vor Repression benötigt und genießt (z.B. Informantenschutz) die unmittelbar wirksame periodische Presse.

Die Nazidiktatur vollzog die Gleichschaltung der Presse und setzte die Unmittelbarkeit des Rundfunks für ihre Ziele ein. In der BRD fasste man die Rundfunkpublizistik in den Rahmen der Anstalt öffentlichen Rechts, so dass die Exekutive diese Medien nicht direkt steuern kann. Allerdings wird damit auch der Zugang zu diesem Medium engporig gefiltert.

Die heutige IT-Publizistik ermöglicht niedrigschwellig die Publikation von Wort, Bild, Videoaufnahmen und Echtzeitdialogen. Offensichtlich geht es da um Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Freiheit von Zensur, alles hochwertige Rechtsgüter, die bei dem Verbot von „linksunten.indiymedia“ als Verein nicht einmal erörtert werden. Was erlaubt sich das Trio Merkel / Gabriel / de Maizière? Der Regierungscoup ist möglich, weil im gesellschaftlichen Maßstab noch nicht geklärt ist, wie die neue Technik, mit der sich im Prinzip jeder jederzeit an alle wenden kann, rechtlich gerahmt werden soll.

Nötig ist das, denn schon, wenn jemand in einer Runde das Wort ergreift, um zu vielen zu sprechen, entsteht ein Machtgefälle. Die Zuhörenden können „Nein“ sagen, aber schon darin liegt ein Muss. Sie können sogar kontern, aber darin liegt dann ein eigener Machtanspruch. Öffentliche Rede betrifft nicht nur die Beziehung von politischer Macht und ziviler Gesellschaft. Es geht auch um die gesellschaftliche Geltung des einzelnen Menschen. In der Diskurskultur der Demokratie hat sich deshalb der Grundsatz der Verantwortlichkeit des Sprechenden bzw. Publizierenden verfestigt, die eine Balance schafft zwischen denen, die sprechen, und denen, über die gesprochen wird bzw. denen, die mit unliebsamen Meinungen konfrontiert werden.

Mit dem Aufkommen der IT-Publizistik, die es kleinen Personengruppen, ja sogar Einzelnen, leichtmacht, sich mit Schrift, Wort und Bildern an die breite Öffentlichkeit zu wenden, ist die Balance von Meinungsäußerungsfreiheit und Verantwortlichkeit ins Taumeln geraten. Zwei irrige Vermutungen griffen um sich: Erstens, dass das staatliche Machtmonopol am besten durch ein Recht auf anonymes Publizieren kontrolliert werden könnte. Zweitens, dass der niedrigschwellige Zugang zu Publikation das Recht auf eigennützige Weiterverwertung beinhalte. Diese Irrtümer haben starke kulturelle Ausbreitung erfahren und mit dem kometenhaften Aufstieg der „Piratenpartei“ sogar politische Durchschlagskraft entwickelt. Alsbald stellte sich heraus, dass mit diesen irrigen Annahmen praktikable Regeln der IT-Publizistik nicht entwickelt werden konnten; und so wurde die Partei rasch entbehrlich. Der Bedarf an demokratischen Regeln ist damit nicht verschwunden.

Der aktuelle Durchgriff der Regierung zeigt, dass der IT-Publizistik ein Schutzmantel rechtlicher Regelungen fehlt. So wird sie zum Spielball der Macht. Technische Ausweichbewegungen werden angesichts der inzwischen erreichten Ausstattung der Behörden bloß noch komisch. IT-Publizieren muss als Bürgerrecht gefasst werden, und das ist nur in der Form verantwortlichen Publizierens möglich. Martin Fochler, München, Alfred Küstler, Stuttgart

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