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Quelle: Politische Berichte Nr. 9, 2017 • Gesamtausgabe: PDF Inhaltsverzeichnis: TXT ⯈ H O M E

Aktionen - Initiativen

01 Hilfsorganisationen stellen Rettungen auf dem Mittelmeer ein – Drei Hilfsorganisationen werden fehlen

02 Die EU will die Mittelmeerroute schließen

03 Menschenunwürdige Bedingungen in Libyen

04 Save the children: Unser Einsatz auf dem Mittelmeer – unsere Antwort auf wiederkehrende Vorwürfe

05 Pro Asyl: Menschenrechte über Bord! Warum Europas Kooperation mit Libyen so schändlich ist

06 Ulla Jelpke, Die Linke, MdB: Die Unterstützung für die kriminelle libysche Küstenwache muss sofort eingestellt werden

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01 Hilfsorganisationen stellen Rettungen auf dem Mittelmeer ein – Drei Hilfsorganisationen werden fehlen

Nachdem unser Schiff Iuventa seit mittlerweile zwei Wochen in der SAR (Search and Rescue) Zone fehlt, haben zusätzlich dazu Ärzte ohne Grenzen/MSF, Sea-Eye und Save the Children ihre Rettungseinsätze auf dem Mittelmeer bis auf Weiteres ausgesetzt. Grund dafür ist die aktuelle Sicherheitslage, die sich durch eine veränderte Einsatzstrategie der libyschen Küstenwache verschlechtert hat. Libyen hat eine SAR-Zone ausgerufen, die weit über libysche Hoheitsgewässer hinausgeht (von 12 auf 70 Seemeilen). Damit wurden internationale Hoheitsgewässer rechtswidrig zum Einsatzgebiet der libyschen Küstenwache erklärt. Die Regierung in Tripolis hat private Seenotrettungsorganisationen deutlich gewarnt, diese Zone zu befahren. In der vergangenen Woche wurden sogar Warnschüsse in Richtung eines Schiffes der NGO Proactiva Open Arms abgegeben.

Das Sicherheitsrisiko, das von „der“ libyschen Küstenwache, die de facto ein Konglomerat aus vielen unabhängigen Milizen ist, ausgeht, ist schwer einzuschätzen.

Private Rettungsorganisationen nehmen die Drohgebärden sehr ernst, denn Libyens Küstenwache ist gut ausgerüstet, stark bewaffnet und hat bereits in der Vergangenheit bewiesen, nicht vor dem Einsatz von Gewalt zurück zu schrecken. Die EU hat die libysche Küstenwache finanziell unterstützt und militärisch ausgerüstet. Die Gefahr, die von der libyschen Küstenwache ausgeht, wird wissentlich in Kauf genommen, um die Zahl von Flüchtenden auf der zentralen Mittelmeerroute zu reduzieren.

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02 Die EU will die Mittelmeerroute schließen

Der Plan der EU, die Flüchtlingsbewegungen über die zentrale Mittelmeerroute einzudämmen, ist bekannt, spitzt sich in den letzten Wochen jedoch stark zu. Der umstrittene Verhaltenskodex für zivile Seenotrettungsorganisationen ist laut Italiens Ministerpräsident Paolo Gentiloni Teil der Strategie, die auch eine enge Kooperation mit Libyen beinhaltet. Weiter betont er: „Diese Strategie zeigt langsam Resultate. Allmählich reduziert sich der Zustrom, der Staat gewinnt und die Schlepper verlieren.“ Seit Freitag hat die libysche Küstenwache schon mehr als 1100 Menschen gerettet und nach Libyen zurückgebracht.

Zeitgleich zu der Beschlagnahmung unserer Iuventa hat Italien beschlossen, mehrere Marineschiffe zur Unterstützung der libyschen Küstenwache zu entsenden. Verteidigungsministerin Roberta Pinotti erklärte, Ziel der Mission sei die Stärkung der libyschen Souveränität sowie die Bekämpfung von Menschenschmuggel. Wir verurteilen diese Kooperation, die das völkerrechtswidrige Vorgehen Libyens unterstützt und damit nicht nur Gesetze, sondern auch die Verantwortung zum Schutz von Flüchtenden missachtet.

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03 Menschenunwürdige Bedingungen in Libyen

Die Neuankünfte von Flüchtenden in Italien sind aufgrund von jüngsten politischen Entscheidungen und der Kooperation zwischen Italien, der EU und Libyen zuletzt stark zurückgegangen. Diese politischen Maßnahmen sind aus humanitärer wie auch völker- und menschenrechtlicher Sicht unverantwortlich. Sie gefährden die Leben hunderttausender Menschen auf der Flucht. Ein aktueller Oxfam-Bericht zeigt, dass Folter, Vergewaltigung und Zwangsarbeit zum Alltag der Flüchtenden in Libyen gehören. (…) Die politisch initiierte Behinderung der zivilen Seenotrettung ist mit Blick auf drei Aspekte besonders prekär:

Zum einen werden nun weniger Rettungsschiffe vor Ort sein, was zu steigenden Todeszahlen auf der zentralen Mittelmeerroute führen wird.

Zweitens sorgt die Ausweitung der SAR-Zone seitens Libyen sowie die pro-aktive Stärkung der Küstenwache durch Italien und die EU dafür, dass immer mehr Boote mit Flüchtenden und MigrantInnen von libyschen Einheiten gestoppt und in lebensbedrohliche Zustände zurückgebracht werden. In Libyen werden sie systematisch Gewalt und Verfolgung ausgesetzt.

Drittens verschwindet mit dem Wegfall ziviler Seenotrettung eine neutrale Instanz der Beobachtung der Situation vor Ort, was die Transparenz auf dem Mittelmeer in Gefahr bringt. Die Dokumentation von Todeszahlen und dem Zustand der Flüchtenden ist eine wichtige Aufgabe, die essentiell für eine Einschätzung der Notlage ist. Das Ziel der EU, die Überfahrten entlang der zentralen Mittelmeerroute einzudämmen, rückt näher. Schlussendlich vernebelt die aktuelle Debatte um die Legitimität und Legalität der Rettungsorganisationen eine entscheidende Ursache des Problems: Die fehlende Solidarität innerhalb der EU-Mitgliedsstaaten beim Thema Flüchtlingsschutz. Italien baut Druck auf Rettungsorganisationen auf, da die EU die Belastung des Küstenstaats nicht fair aufteilen möchte. Den Preis dafür müssen Menschen auf der Flucht bezahlen. https://www.facebook.com/notes/jugend-rettet-ev/hilfsorganisationen-stellen-rettungen-auf-dem-mittelmeer-ein/715422145333688/

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04 Save the children: Unser Einsatz auf dem

Mittelmeer – unsere Antwort auf wiederkehrende Vorwürfe

Seit 2016 sind wir mit unserem Rettungsschiff „Vos Hestia“ auf dem Mittelmeer im Einsatz, um in Seenot geratene Flüchtlinge vor dem Ertrinken zu retten. Derzeit sehen wir und andere Hilfsorganisationen uns mit Vorwürfen konfrontiert, zu denen wir uns an dieser Stelle äußern wollen. Gemma Parkin, Leiterin des Medienteams von Save the Children UK, war 2016 Teil der Besatzung unseres Rettungsschiffs „Vos Hestia“. Sie hat die Rettungsaktionen hautnah miterlebt. Im Folgenden bezieht sie Stellung zu fünf Vorwürfen, die wir in den letzten Wochen immer wieder gehört haben.

1. „Hört auf, Flüchtlinge aufzulesen und sie nach Europa zu befördern. Ihr unterstützt die Schlepper.“ – Wir sind kein Fährunternehmen. Wir kommunizieren nicht mit den Schleppern. Wir arbeiten unter der Leitung der italienischen Küstenwache und reagieren auf Notrufe nur dann, wenn wir dazu aufgefordert werden. Unser einziges Ziel ist es, das Leben von Menschen – und vor allem von Kindern – zu retten, die vor Gewalt, Verfolgung und extremer Armut fliehen.

Wir bewahren Menschen vor dem Ertrinken, und wenn wir mit unserer Arbeit aufhören würden, würde das lediglich zu mehr Toten führen. Das wurde 2014 bewiesen, als die EU die Gelder für Rettungsmissionen kürzte. Die Schlepper benutzten die gleichen gefährlichen Routen und in der Folge kam es 2015 zu mehreren schrecklichen Schiffsunglücken. Bei einem einzigen solchen Unglück starben damals fast 800 Menschen.

2. „Ihr ermutigt die Menschen zur Flucht.“ – Wenn die Arbeit der Rettungsschiffe eingestellt wird, steigt die Zahl der Toten, aber es werden sich weiterhin Menschen auf den Weg nach Europa machen. Such- und Rettungsmissionen führen nicht dazu, dass mehr Menschen die Überfahrt über das Meer wagen. Es bedeutet lediglich, dass mehr Menschen diese Überfahrt überleben.

Diese Studie der Oxford University belegt, dass die Zahl der Überquerungsversuche mit und ohne Rettungsmissionen ungefähr gleich hoch blieb. Doch die Zahl der Todesfälle war genau dann am höchsten, als die Zahl der Rettungsmissionen besonders niedrig war.

3. „Hört auf, Terroristen nach Europa zu bringen.“ – Die italienischen Behörden überprüfen und registrieren jeden, den wir retten. Alle sicherheitsbezogenen Aspekte sind Aufgabe der Behörden. Nach einer Rettungsaktion verfassen wir einen ausführlichen Bericht, aus dem die genaue Anzahl der Geretteten hervorgeht. Wenn unser Schiff das italienische Festland erreicht, werden diese Angaben von der italienischen Küstenwache genau überprüft.

4. „Es handelt sich bei den Flüchtlingen vor allem um erwachsene Männer.“ – Immer mehr Kinder nehmen den gefährlichen Weg über das Mittelmeer. Die Zahl stieg im Jahr 2016 um 76%. Die Zahl der unbegleiteten Kinder verdoppelte sich 2016 im Vergleich zum Vorjahr. Kein Kind sollte auf der Suche nach einer besseren Zukunft ertrinken.

Wir arbeiten in den Ländern, aus denen die Kinder fliehen, und erklären ihnen die Gefahren dieser Fluchtroute. Insgesamt sind 94% der Kinder, die über die Mittelmeer-Route nach Italien kommen, alleine unterwegs. Sie brauchen dringend Schutz, denn sie sind besonders gefährdet durch Menschenhandel, Missbrauch und Ausbeutung.

5. „Schickt sie zurück nach Libyen.“ – Libyen kann nicht als sicherer Ort angesehen werden. Wenn Flüchtlinge nach Libyen zurückgeschickt werden, sind sie der Gefahr ausgesetzt, inhaftiert zu werden. Die Zustände in den Gefängnissen werden allgemein als unmenschlich angesehen. Es gibt Berichte, in denen Menschen davon erzählen, wie sie geschlagen, ausgepeitscht und an Bäumen aufgehängt wurden.

(…)

Der einzige Weg das Sterben auf dem Mittelmeer zu beenden, sind sichere und legale Fluchtrouten Das Versagen der EU hat dazu geführt, dass wir gemeinsam mit anderen humanitären Organisationen aktiv werden mussten, um weiteres Sterben auf dem Mittelmeer zu verhindern. Wir fordern von den EU-Staaten, Italien mit Such- und Rettungsmissionen zu unterstützen. Das Retten von Leben sollte oberste Priorität haben. Solange dies nicht geschieht, werden wir unseren Einsatz fortsetzen. Denn wir können nicht zulassen, dass Menschen auf dem Mittelmeer sinnlos sterben. Wir sehen unseren Einsatz als unsere humanitäre Pflicht. www.savethechildren.de

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05 Pro Asyl: Menschenrechte über Bord! Warum Europas Kooperation mit Libyen so schändlich ist

Italien und die Europäische Union haben Fakten geschaffen. Mit Millionen und militärischer Unterstützung für das völlig zerrüttete Libyen ebenso wie mit der versuchten Kriminalisierung von Seenotrettern. Flüchtlinge werden nun im europäischen Auftrag in ein Land zurückgebracht, in dem schwere Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind.

Libyen soll – wie einst zu Gaddafis Zeiten – wieder zum Türsteher Europas werden. Auch, dass die Machtverhältnisse im Land äußerst instabil sind, hält die Europäische Union nicht von üppigen Finanzspritzen und technischer Unterstützung ab. Dafür erwartet man, dass sich die Zahl der ankommenden Bootsflüchtlinge in Europa deutlich reduziert. Die Folgen der aktuellen Politik: Noch mehr Menschen werden ertrinken oder in die libyschen Elendslager zurückgeschleppt.

Lager in Libyen: Unvorstellbare Hölle: … Ein Bericht der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Libyen (UNSMIL) und des UN-Hochkommissars für Menschenrechte aus dem Dezember 2016 nennt die Situation schon im ersten Satz beim Namen: „The situation of migrants in Libya is a human rights crisis.“ Diese Menschenrechtskrise, die von Amnesty International seit Jahren dokumentiert wird, ist auch europäischen Politikern nicht verborgen geblieben.

Luxemburgs Außenminister Asselborn stellte klar: „Menschen werden dort vergewaltigt, es gilt kein Recht“, und auch sein deutscher Kollege Sigmar Gabriel konnte nach einem Besuch vor Ort nur sichtlich erschüttert von „fürchterlichen Zuständen“ in „finsteren Gefängnissen“ sprechen. Das Auswärtige Amt hatte ohnehin schon im Januar klar und deutlich auf „allerschwerste, systematische Menschenrechtsverletzungen“ hingewiesen: „Exekutionen nicht zahlungsfähiger Migranten, Folter, Vergewaltigungen, Erpressungen sowie Aussetzungen in der Wüste sind dort an der Tagesordnung.“

Besonders absurd ist vor diesem Hintergrund, dass Sigmar Gabriel nun in einem Interview die Frage aufwarf, „wer die Menschen denn schütze“, wenn man sie nach Libyen zurückbrächte. Denn er kennt die Antwort: Niemand. Und er weiß auch: Diese Frage stellt er reichlich spät. Die massiven Menschenrechtsverletzungen in Libyen geschehen nicht etwa hinter dem Rücken europäischer Politiker*innen. Sie geschehen mit tatkräftiger Unterstützung Europas.

Wer ist die sogenannte „libysche Küstenwache“?

Der liebste Partner ist dabei eine undurchsichtige Organisation, die sich „libysche Küstenwache“ nennt. Ein Begriff, der gerade von Politiker*innen gerne aufgegriffen wurde, weil er so schön nach Recht und Ordnung klingt. Die Wahrheit ist aber: Die sogenannte „libysche Küstenwache“ besteht auch aus bewaffneten Warlords, die die Kontrolle der libyschen Gewässer zu ihrem Geschäft machen. Sie werden dabei von niemandem kontrolliert und sind niemandem unterstellt. www.proasyl.de/

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06 Ulla Jelpke, Die Linke, MdB: Die Unterstützung für die kriminelle libysche Küstenwache muss sofort eingestellt werden

„Nach den völkerrechtswidrigen Drohungen der libyschen Marine gegen zivile Seenotretter muss die Unterstützung der kriminellen libyschen Bürgerkriegsmilizen durch die EU sofort eingestellt werden. Die EU rüstet die sogenannte libysche Einheitsregierung und ihre verbündeten Milizen zur Hatz auf Flüchtlinge im Mittelmeer auf. Auch die aktuellen Drohungen sind Konsequenz einer perfiden Abschottungslogik, mit der Europa über Leichen geht“, kommentiert die innenpolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke Ulla Jelpke die Drohungen der libyschen Marine gegen zivile Seenotretter. Jelpke weiter:

„Mindestens 40% der Rettungen von Schutzsuchenden wurden von Seenotrettungs-NGOs realisiert. Wenn diese jetzt durch Libyen bedroht oder durch Italien kriminalisiert werden, bedeutet das nichts anderes, als den Tod Tausender in Kauf zu nehmen. Diese Politik ist einfach widerwärtig und bösartig. Hinzu kommt die Tatsache, dass Flüchtlinge, die nach Libyen zurückgeschleppt werden, unter schrecklichsten Bedingungen leben müssen. Sie werden missbraucht, als Sklaven verkauft oder ermordet. Auch das scheint die EU wenig zu kümmern, obwohl sogar der deutsche Botschafter in Niger die Situation in den Unterbringungen in Libyen als ,KZ-ähnlich‘ charakterisierte.“ www.ulla-jelpke.de/

Zusammenstellung: Thorsten Jannoff