<

Quelle: Politische Berichte Nr. 9, 2017 • Gesamtausgabe: PDF Inhaltsverzeichnis: TXT ⯈ H O M E

Kalenderblatt: 15. juni 1977 spanien

01 Spanien: Erste demokratische Wahl nach der Franco-Diktatur

02 Bei „Anatomie eines Augenblicks. Die Nacht, in der Spaniens Demokratie gerettet wurde.“ ...

03 Clara Campoamor – Kämpferin für die Einführung des Frauenwahlrechts

04 Adelung des Bürgertums

01 Spanien: Erste demokratische Wahl nach der Franco-Diktatur

Am 15. Juni 2017 fanden in Spanien große Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der ersten demokratischen Wahl zum spanischen Parlament nach dem Ende der Franco-Diktatur statt. Wählen durften damals Frauen und Männer ab 21 Jahre. 1978 wurde das allgemeine Wahlrecht ab 18 Jahre in der Verfassung verankert. Noch im Februar 1981 musste ein Putsch von Teilen des Militärs gegen die junge Demokratie abgewehrt werden. In der Zwischenzeit haben weitere zehn Parlamentswahlen, Wahlen zu den Parlamenten der autonomen Regionen und Kommunalwahlen stattgefunden, und es ist keine relevante politische Kraft sichtbar, die das allgemeine Wahlrecht zur Disposition stellen würde.

Vor 1977 wurde das Wahlrecht nur während zweier kurzer Perioden gewährt:

Zwischen 1868 und 1874 und in der Zweiten Republik zwischen 1931 und 1936.

„Sechs revolutionäre Jahre“ 1868 bis 1874, Erste Republik

Vergleichbar den Ereignissen, die im übrigen Europa dem Revolutionsjahr 1848 folgten, führten revolutionäre Vorgänge im September 1868 zum Sturz der Bourbonendynastie und im Jahr 1873 zur Ausrufung der Ersten Republik.

Zum Zeitpunkt der Septemberrevolution 1868 war das Ancién Regime am Ende, die feudalen Beziehungen auf dem Land waren zumindest formal verschwunden, das zuvor großteils an die „Tote Hand“ (Aristokratie, Klerus, Gemeinden) gebundene Land war zur Ware und Quelle großer Kapitalakkumulation geworden. Ein einheitlicher Markt war entstanden, Geldsystem, Rechtsprechung und Gesetzgebung waren vereinheitlicht, Eisenbahnnetz und Landstraßen erleichterten Transport und Kommunikation. Große Teile der Bauernschaft waren verarmt und proletarisiert. 1870 fand der erste spanische Arbeiterkongress statt.

Im Januar 1869 konnten erstmals alle Männer ab 25 Jahre (24 % der Bevölkerung) wählen. Die im Juni 1869 erlassene Verfassung einer konstitutionellen Monarchie ging vom Prinzip der Volkssouveränität aus, erließ einen ausführlichen Grundrechtskatalog, garantierte das Männerwahlrecht, Presse-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit und verbesserte mit einigen Reformmaßnahmen die Lage der Arbeiter. Die traditionellen Eliten verhinderten aber den Versuch, die politische in eine soziale Revolution fortzuentwickeln und die Agrarstruktur zu ändern. Im Dezember 1874 wurde die Bourbonenherrschaft wieder restauriert.

Restauration und Diktatur Primo (1875 –1930)

Die Restauration der Bourbonen und die Rückkehr der bürgerlich-großgrundbesitzenden Schicht an die Macht fand ihren Ausdruck in der neuen Verfassung von 1876: Der Monarch erhielt das Recht, Regierungen zu ernennen und zu entlassen sowie das Parlament aufzulösen, und man führte das Zensuswahlrecht wieder ein (2 bis 5 % Wahlberechtigte auf Basis von Grundbesitz und Bildung). 1890 wurde unter dem Druck der Opposition zwar formal das allgemeine Männerwahlrecht wieder eingeführt, durch zum System erhobene Wahlfälschung konnte die Opposition aber von der Regierung ausgeschaltet werden. Vor allem auf dem Land nutzte der „Kazike“ (Großgrundbesitzer, Bürgermeister, Pfarrer, Lokalboss) die sozialen und ökonomischen Abhängigkeitsverhältnisse, Unwissenheit (1900 waren noch 66,5 % der Spanier Analphabeten) und Armut zur Druckausübung und Einflussnahme aus. Reichte dies nicht, wurden die Wahlen massiv gefälscht (Austausch von Wahlzetteln, Schließung von Wahllokalen, Ausschließung missliebiger Kandidaten). 1885 einigten sich die zwei führenden dynastischen Parteien, die Konservativen und die Liberalen, auf den Pardopakt. Zur Sicherung der Monarchie wurde der Kampf untereinander eingestellt, mit Hilfe der Wahlmanipulation wechselten sich die beiden Parteien regelmäßig in der Regierung ab. Nutznießer war die Oligarchie, die adelig-großbürgerliche Schicht agrarischer Eigentümer, die eng mit Vertretern der Banken, der Eisenbahnen, der Kolonialgeschäfte und Werften verwandt und verschwägert war. Die meisten Großgrundbesitzer lebten in Madrid oder in einer Provinzhauptstadt und übertrugen ihre Ländereien an Verwalter oder verpachteten sie. Die Ausübung der politischen Macht lag in den Händen dieser kleinen Elite (einige Tausend Familien), aus denen Berufspolitiker und die Wirtschaftselite des Landes hervor gingen. Demokratische, republikanische bürgerliche Kräfte, Sozialisten, Arbeiter- und Landarbeiterbewegung fanden sich im politischen System der Restauration in einem kaum nennenswerten Umfang vertreten. Das Wahlsystem, das zu einer überproportionalen Repräsentanz der ländlichen Regionen führte, sowie die paternalistischen Abhängigkeitsstrukturen auf dem Land gewährten keinen Raum für legale politische Betätigungen außerhalb dieses geschlossenen Parteiensystems. So war in Spanien bis zur Zweiten Republik kein politisches Repräsentationssystem entstanden, das den Veränderungen innerhalb der Gesellschaft Rechnung getragen hätte und das die neuen gesellschaftlichen Kräfte politisch zulassen und integrieren konnte.

Die Zweite Republik (1931 bis 1936) …

… verankerte das allgemeines Wahlrecht wieder verfassungsmäßig. Es wurde in drei Wahlen zum Parlament angewandt. Bei der 1. Wahl hatten die Frauen passives Wahlrecht, bei der 2. und 3. Wahl auch aktives. Die Zweite Republik fand ihr Ende im Militärputsch (1936 bis 1939), auf den die lange Zeit der Franco-Diktatur (bis 1975) folgte. Alle Gesetze und Maßnahmen, die während der Zweiten Republik zu Gunsten der landlosen Tagelöhner und des Industrieproletariats ergriffen wurden, die Bodenreform und die Änderungen der Grundeigentumsverhältnisse, wurden zurückgenommen, die Großgrundbesitzer wurden vollauf entschädigt. Das allgemeine Wahlrecht wurde wieder beseitigt, Franco hatte als Staatsoberhaupt die gesetzgebende und exekutive Gewalt inne und ernannte die Inhaber aller wichtigen Staatsämter. Claus Seitz (cs), Schweinfurt/San Sebstian

Quellen: Bernecker, Pietschmann, Geschichte Spaniens. Kohlhammer, 2005, Seidel, Der spanische Bürgerkrieg: Geschichte eines europäischen Konflikts, C.H. Beck, 2006

nachoben

02 Bei „Anatomie eines Augenblicks. Die Nacht, in der Spaniens Demokratie gerettet wurde.“ (S. Fischer Verlag, 2011) von Javier Cercas handelt es sich um eine Mischung aus einer Chronik des verhinderten Putschversuchs und einem Polit-Thriller. Obwohl als Sachbuch geführt, wurde es mit dem Premio Nacional de Narrative ausgezeichnet, dem wichtigsten unabhängigen Literaturpreis Spaniens.

Ausgangspunkt des Buches sind die Kameraaufzeichnungen vom Beginn des Putschversuchs im spanischen Parlament.

Nur drei Personen warfen sich nicht in Deckung, als die ersten Schüsse fielen: Adolfo Suarez (Ministerpräsident), Manuel Gutierrez Mellado (General) und Santiago Carillo (Chef der kommunistischen Partei Spaniens).

Javier Cercas nähert sich dem Geschehen über diese drei Personen, den „eigentlichen Protagonisten des Übergangs zur Demokratie“. cs

Abb.: PDF

nachoben

03 Clara Campoamor – Kämpferin für die Einführung des Frauenwahlrechts

Clara Campoamor (geb. 12.2.1888 in Madrid) musste nach dem frühen Tod ihres Vaters mit 13 Jahren ihre schulische Ausbildung abbrechen, um ihre Mutter als Näherin zu unterstützen. Danach arbeitete sie in verschiedenen öffentlichen Betrieben. 1914 trat sie eine Stelle als Lehrerin für Erwachsene an, allerdings beschränkte sich ihr Unterricht aufgrund ihrer fehlenden akademischen Ausbildung auf Stenographie und Maschinenschreiben. Später arbeitete sie als Sekretärin bei der liberalen politischen Zeitung „La Tribuna“.

Nebenberuflich schloss sie mit 36 Jahren ein Rechtsstudium ab und war die erste Frau, die als Anwältin vor den spanischen Obersten Gerichtshof trat. Sie begann sich mit Rechtsfragen zum Status der Frauen in Spanien zu beschäftigen.

Bei der ersten Wahl während der II. Republik (nur passives Frauenwahlrecht) im Juni 1931 wurde Campoamor für die Republikanische Partei als Abgeordnete gewählt.

Da Ihre Forderung nach einem allgemeinen, aktiven Frauenwahlrecht von ihrer eigenen Partei nicht unterstützt wurde, verließ sie diese und wurde parteifreie Abgeordnete. Mit Unterstützung weiblicher Aktivistinnen konnte sie das aktive Wahlrecht für Frauen, ihre juristische Gleichstellung und das Recht auf Scheidung durchsetzen. Bei der 2. Wahl am 19.11.1933 wurde Campoamor nicht wiedergewählt.

Der Militärputsch 1936 zwang sie ins Exil in die Schweiz, wo sie weiterhin politische und feministische Texte veröffentlichte und 1972 verstarb. Sie ist in San Sebastián begraben. cs

Abb.:

04 Adelung des Bürgertums

Im Vergleich zur rasanten Industrialisierung in anderen westeuropäischen Staaten lässt sich für Spanien ein Beharren auf traditionellen Wirtschaftsformen erkennen. Ein Grund für dieses Innovationen ablehnende Klima war die feudalistische Einstellung der traditionellen Eliten gegenüber Gewerbetätigkeit und Arbeitsleistung. Im Jahre 1898 schrieb ein deutscher Adeliger: „Der spanische Adel ist fast ausschließlich ein Hofadel, und hält es nicht für notwendig, aktiv ins Staatsleben einzugreifen. Nur falls es ihm an Geldmitteln gebricht, versucht er durch Empfehlungen irgend einen lukrativen Posten zu erhalten, und wenn er einen solchen erhält, so sieht er es beinahe als eine Schande und Entwürdigung an. Denn das muss jeder, der Spanien einigermaßen kennt, zugeben, dass die Arbeit als solche dort etwas gesellschaftlich entwürdigendes an sich hat, und dass das Nichtstun, der Genuss irgend einer Rente oder Pfründe das größte Ansehen verleiht.“ (Deutsches Handelsblatt, 25 / 1898).

In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts setzten zwar Veränderungsprozesse ein. Der Adel war nach dem Ende der Feudalherrschaft gezwungen, kapitalistische Wirtschaftsformen anzunehmen und gewinnorientiert zu denken. Dieser Prozess vollzog sich aber deutlich später als in anderen europäischen Ländern.

Das aufstrebende Bürgertum verbündete sich aus Angst vor den Massen mit dem Adel. Ab etwa 1835 ließen sich führende Bürger, Politiker und Militärs per Heirat in den Adelsstand aufnehmen. 1931 waren von den 2450 Adelstiteln 1400 erst ein Jahrhundert alt. Die Aristokratie bestand somit zum Großteil aus „Neuadeligen“. Diese sog. Nobilisierung wurde von einer ideologischen Assimilation begleitet (Lebensstil, Umgangsformen, Übernahme aristokratischer Werthaltungen und Distanzierung vom „niederen“ Bürgertum). Das Bürgertum gab so die gesellschaftliche Führungsrolle ab, die ihm aufgrund der Modernisierung und Industrialisierung zukam.

Die in diesem gesellschaftlichen Milieu vorherrschenden Wertvorstellungen nährten sich aus der Lehre der katholischen Kirche, der Institution der Monarchie und dem ihr innewohnenden hierarchischen Prinzip, sowie einem ausgeprägten Patriotismus. Die gesellschaftlichen Eliten lehnten nicht nur Forderungen nach politischer Partizipation und Verbesserung der sozialen Lage breiter Bevölkerungsschichten grundsätzlich ab, sondern erkannten auch keinerlei Bedarf an Reformen des politischen Systems, um die Massen an das System zu binden. Allein die Repression schien die geeignete Reaktion auf die sozialen und politischen Forderungen unterer Bevölkerungsschichten.cs