Quelle: Politische Berichte Nr. 10, 2017 • Gesamtausgabe: PDF Inhaltsverzeichnis: TXT ⯈ H O M E

Verfassungskrise in Spanien: Souveränitätsdenken blockiert sachlichen Dialog

01 Verzweifelter Appell der Bürgermeisterin von Barcelona

Die Regionalregierung droht mit einseitiger Abspaltung, die Zentralregierung zückt die Waffen. Die sachlichen Probleme vertikaler Gewaltenteilung treten in den Hintergrund.

Nach den schweren, oft blutigen Nationalitätenkonflikten, die, um nur einige zu nennen, wegen Nordirland, dem Baskenland, Südtirol, Belgien das Europa der Nachkriegszeit belasteten und im Entsetzen des Jugoslawienkrieges gipfelten, ebbten diese Auseinandersetzungen langsam ab. Der Rahmen der EU oder die Annäherung an die EU gaben dem Streben nach politischer Verständigung einen institutionellen Rahmen. Der Verfassungskonflikt, der jetzt Spanien erschüttert, stellt diese Entwicklung in Frage und wird zur Bewährungsprobe der Demokratie in der EU und in ganze Europa.

In allen Staaten der EU besteht neben der horizontalen Gewaltenteilung nach Exekutive, Legislative und Jurisdiktion auch eine – überall verschieden eingerichtete – vertikale Teilung der Zuständigkeiten, so in der BRD zwischen den Gemeinden, den Ländern und dem Bund. Diese geschichtlich gewordene Ordnung der Gebietskörperschaften steht von „Oben“ und „Unten“ unter Veränderungsdruck:

Die internationale Vertiefung der Arbeitsteilung bewirkt Souveränitätsverluste der Nationalstaaten, sie müssen Regelungskompetenzen zum Beispiel an die EU oder an andere übergreifende Einrichtungen abgeben. Der Brexit und auch die Trump-Wahl wurden als Versuche manifest, wieder „Herr im eigenen Haus“ zu werden.

Weniger auffällig sind die Kompetenzverschiebungen, die Veränderungen der langfristigen Siedlungsentwicklung folgen. Die Gebietsabgrenzung der nachgeordneten Verwaltungsebenen bildete sich mit dem Übergang zur Industriegesellschaft heraus. Hergebrachte Strukturen und neu entstandene Wirtschaftsräume wurden irgendwie zur Deckung gebracht. Es ging um die Bereitstellung von ortsgebundener und örtlichen Verhältnissen angepasster Infrastruktur, sozialen wie technischen Einrichtungen. Mit der inzwischen typischen Siedlungsentwicklung hin zu Ballungsräumen stimmen sie nicht mehr zusammen. Heute sind es die Metropolregionen, die Anforderungen an die öffentliche Hand stellen.

Die Notwendigkeit, die sozialen Prozesse in einer solchen Regionen politisch zu gestalten, erzeugt das Bedürfnis Außengrenzen zu ziehen und Zusammengehörigkeit zu definieren. Die Umgangssprache, eingefleischte Geschichtsbilder, Rückgriff aufs Brauchtum, Fußballvereine, Berge, Flüsse, Meere, alles Mögliche und auch Unsinniges kann herangezogen werden, um Unterschiede zu markieren. Dies darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Gebietsgrenzen markiert werden müssen. Anders würde sich die Entscheidungsebenen immer weiter „nach oben“ verschieben. In den reifen Industriegesellschaften ist die Selbstbestimmung der einzelnen Menschen mit dem Recht auf Selbstverwaltung oder wenigstens Mitwirkung bei der Einrichtung von Daseinsvorsorge und technischer Infrastruktur verschränkt. Gestaltungskompetenzen „nach unten“ zu ziehen ist demokratisch, kann aber in fatale Fehlleistungen führen.

Wie bekannt genug ist, verwickeln sich Nationalstaaten, die sich vom Gedanken der Souveränität leiten lassen, in unlösbare Konflikte mit Nachbarstaaten. Die Europäische Union entstand als Absage an dieses Denken, sie gründete sich auf die Idee der verlässlichen Zusammenarbeit. Dem damit verbundene Verlust an Souveränität steht der Gewinn an Frieden, an Stabilität übergreifender Wirtschaftsbeziehungen gegenüber.

Die Idee verlässlicher Bindungen, die in den reifen Industriegesellschaften die Organisation des Alltags der Vielen ebenso trägt wie das Zusammenwirken der Wirtschaftseinheiten und der Gebietskörperschaft, ist in der politischen Kultur noch nicht angemessen verankert. Beispielsweise sind die Stimmen, die darauf verweisen, dass Bayern seine heutige Wirtschaftskraft Zuschüssen des Bundes zum Ausbau der Infrastruktur sowie politisch beeinflussten Standortentscheidungen verdankt, nur gelegentlich zu hören. Viel lauter ist das dümmliche Gerede vom „Zahlmeister …“, das bei der Beurteilung der Finanzflüsse zwischen Gebietskörperschaften regelmäßig für Stimmung sorgt.

Höchst bedauerlich ist, dass die linke Kritik es so schwer hat, solche Argumentationen abzuweisen. Wie können demokratische Impulse, die von dem Streben nach Emanzipation und Selbstbestimmung im individuellen wie im politische Sinne getragen werden, von solchen nationalistischen, chauvinistischen Ideen umsponnen werden? In den politischen Traditionen linken Denkens ist die Idee der umfassenden Volkssouveränität fundamental eingebaut. Es geht dabei um das Recht von Bürgerinnen und Bürger, unabhängig von Vermögen und Stellung im Beruf, politisch gleichberechtigt zu entscheiden, neue Mehrheiten zu setzen und als politische Macht wirksam zu werden. Diese Idee birgt ein doppeltes Risiko: für die von Mehrheitsentscheidungen betroffen Minderheiten und wegen der Gefahr der plebiszitären Ermächtigung von Herrschaft.

Für die Neuordnung des Macht- und Kompetenzgefüges, des Geflechts internationaler Einrichtungen über die EU, die Nationalstaaten, die Regionen bis hin zur kommunalen Selbstverwaltung taugt der Grundsatz, dass jede Mehrheit jederzeit alles beschließen kann, nicht.

Der soziale, der wirtschaftliche und kulturelle Zusammenhang der modernen Welt verlangt wechselseitige Rücksicht oder, um das alte Wort zu nehmen, Solidarität. Es geht dabei um die Haltung der politischen Akteure, die Einstimmung der Öffentlichkeit auf den steinigen Weg der Suche nach Problemlösungen. Dafür gibt es breite Unterstützung in der Öffentlichkeit.

Diese breite aus praktischer Vernunft geborene Unterstützung werden die politischen Parteien zum Tragen bringen, die den Blick für die berechtigten – d.h. hier durch Verfassung, Gesetze und Verträge definierten – Interessen und Bedürfnisse jenseits der Grenzen – der Gemeinde, des Bundeslandes, des Nationalstaates, der EU – kultivieren und sich dem Rausch der vollen Souveränität von Mehrheiten und Bewegungen nicht hingeben.

Bei den in der EU anstehenden Umbauten darf nicht verkannt werden, dass die im Raum der EU bestehenden Nationalstaaten zwar Herrschaftsgebilde sind, aber eben auch Gehäuse solidarischer Leistungen, z.B. von Einrichtungen der technischen und sozialen Infrastruktur. Teile dieser Funktionen müssen wahrscheinlich „nach oben“, d.h. hin zur EU verschoben werden, andere „nach unten“, hin zu den Kommunen und Regionen.

Der spanische Verfassungskonflikt macht deutlich, wie man diese Aufgabe nicht löst: Die Ansetzung einer Volksabstimmung, die nicht etwa konkrete Regelungen der Beziehungen zwischen Region–Zentralstaat–EU zum Inhalt hatte, sondern eine Ermächtigung einer knappen Parlamentsmehrheit zur Reise ins Ungewisse, bot einer Regierung, die ihre Durchgriffsrechte auf die Regionen behaupten will, die Gelegenheit, den Bürgerinnen und Bürgern die Waffen zu zeigen und sie sogar spüren zu lassen.

Vielleicht entwickelt sich in den nächsten Monaten und Jahren in Spanien und im Dialog mit der europäischen Öffentlichkeit ein Gespräch, aus dem hervorgeht, welche Kompetenzverteilung zwischen dem spanischen Zentralstaat und seinen Regionen erstrebenswert ist? Am Ende muss es ja dahin kommen. Die öffentliche Meinung Europas wird von den streitenden Parteien aufgerufen. Sie wird sich mit der konkreten Problemlage im Konflikt von Kompetenzen der Selbstverwaltung und Zentralstaat beschäftigen müssen. Martin Fochler, München, 9.10.

Ausführliche Darstellung siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Unabh%C3%A4ngigkeitsreferendum_in_Katalonien_2017

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01 Verzweifelter Appell der Bürgermeisterin von Barcelona

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung dokumentiert eine Stellungnahme von Ada Colau, Bürgermeisterin von Barcelona, zum Referendum in Katalonien:

Die Regierung der PP beharrt auf ihrer großen Lüge, sie leugnen weiter, was für die internationale Presse und für jeden, der die Bilder am 1. Oktober der polizeilichen Eingriffe in Katalonien gesehen hat, offensichtlich ist. Es gab Gewalt, Brutalität und Wut.

Seit langem zeichnet die spanische Rechte ein falsches Bild von dem, was in Katalonien passiert. Man spricht von Totalitarismus, von zerstörtem Zusammenleben, von einer verängstigten Bevölkerung durch gewalttätige „Separatisten“.

Nicht einmal die Worte, die gebraucht werden, sind neutral. „Aufrührer“, „Separatisten“, sind keine beschreibenden Begriffe, sondern mit einer imaginären Perversion geladen. Man beginnt damit den anderen mittels Worte zu entmenschlichen und endet mit dem Befehl, alte Frauen an Schuleingängen niederzuknüppeln. Das wird dann als „professionell“ und „verhältnismäßig“ und „Schutz der Demokratie“ bezeichnet.

Wenn es zwei so unterschiedliche Versionen gibt, um die Realität zu erklären, dann ist es das Beste, die Geschehnisse zu analysieren. Es ist ein Fakt, dass es am 1. Oktober 844 verletzte Personen gab, eine von ihnen hat ihr Auge verloren … verhältnismäßig? Was steht im Verhältnis zu einem Auge? Alte Frauen an den Haaren zu ziehen? Die Angst die Kinder empfinden, wenn sie ihre demolierten Schulen sehen? Ich bin keine Anhängerin der Unabhängigkeit, ich teile nicht den einseitigen Weg. Ich habe es oft gesagt und wiederhole es. Ich stehe der Regierung von Puigdemont sehr kritisch gegenüber und es gefällt mir nicht, wie man die Dinge angefasst hat. Es gibt aber etwas, das über unseren unterschiedlichen Meinungen steht und das uns alle einen sollte die Rechte, Freiheiten und die Demokratie zu verteidigen: Die Anwendung von Staatsgewalt gegen eine friedliche Bevölkerung ist unzulässig.

Heute hat der Regierungssprecher die Katalanen, die gegen die Polizeigewalt demonstriert haben, als „Nazis“ bezeichnet. Erneut die Worte … „Nazi“? Ist Herr Hernando sich bewusst, was die Nazis taten? Haben sie etwa jahrelang friedlich für ihr Recht zu wählen demonstriert? Haben die Nazifamilien die Schulen verteidigt, während Hunderte Polizisten auf sie einschlugen? Im Ernst, sind die Tausende Alten, Frauen, Männer und Kinder, die die Straßen füllen und singen: „Wir sind Leute des Friedens“ Nazis? Das Wort Nazi mit dieser Frivolität zu benutzen ist eine Beleidigung der Opfer des Nazismus, und er müsste sich schämen.

Wenn es gelingt, dass das was ich schreibe, die Informationsbarrieren überwindet, wenn alle außerhalb von Katalonien das lesen, die wissen wollen was dort passiert, dann bitte ich Euch, dass ihr versucht, diesen Konflikt ohne Vorurteile zu analysieren, dass Ihr Euch traut das infrage zu stellen, was uns die Regierungssprecher sagen, was sie leugnen oder noch schlimmer, was sie rechtfertigen. Wir befinden uns in einer beispiellosen Staatskrise, ich bin über die totale Blockade in den Beziehungen zwischen der spanischen und katalanischen Regierung sehr besorgt. Was aber das Traurigste wäre, wenn die Bande der Brüderlichkeit und Zuneigung die uns, die Menschen unten, zerreißen würden. Wir dürfen das nicht erlauben. Man hat uns geschlagen, man hat uns Schmerz zugefügt. Es ist nicht leicht das zu vergessen, wir brauchen Eure Unterstützung.

Was geschehen ist, hat fundamentale Rechte und Freiheiten aller verletzt: Katalanen, Spanier, Europäer … heute ist es Katalonien, morgen kann es irgendwo anders sein, wenn wir es normalisieren und es ungestraft bleibt, wenn wir es rechtfertigen, sind wir verloren, verlieren wir alle, verliert die Demokratie. Unsere Väter, unsere Mütter, Großväter und Großmütter, die dafür kämpften, sie zu erobern, würden es uns nicht verzeihen.

Lasst uns für sie und für ihr Vermächtnis vereinen und die Demokratie retten, jene verjagen, die diesen Unsinn angeordnet haben und unfähig sind eine politische und friedliche Lösung zu finden. Wer staatliche Verantwortung trägt, muss zuhören, die Bevölkerung respektieren, positive Vorschläge unterbreiten und Alternativen anbieten. Aber niemals eine wehrlose Bevölkerung unterdrücken.

Ada Colau ist katalanische Aktivistin und seit Juni 2015 Bürgermeisterin von Barcelona, gewählt als Kandidatin der Plattform Barcelona en Comú, die auch von Podemos unterstützt wurde.

Übersetzung von Jairo Gomez. https://www.rosalux.de/news/id/37916/