Quelle: Politische Berichte Nr. 10, 2017 • Gesamtausgabe: PDF Inhaltsverzeichnis: TXT ⯈ H O M E

Hamburg : Der G20-Sonderausschuss der Bürgerschaft hat seine Arbeit aufgenommen

01 Pressemitteilung: Erklärung des Stadtteilbeirates Sternschanze zur Nachbetrachtung des G20-Gipfels

Aufgeklärt werden sollen die Krawalle, insbesondere in der Nacht vom 7. auf den 8. Juli. Aufgeklärt werden soll aber auch, und das betreibt vor allem unsere Fraktion, das Polizeihandeln: der Eingriff in Grundrechte und das oft gewaltsame Vorgehen auch gegen friedliche Proteste und Aktionen des zivilen Ungehorsams. Von Anfang an jedoch gestaltet sich die Arbeit sehr mühsam. Über 400 Aktenordner hat die Innenbehörde inzwischen ausgeliefert, und obwohl wir erst einen Bruchteil der Akten lesen konnten, lässt sich feststellen: Die Polizei hat so viele Passagen geschwärzt und so viele Seiten entnommen, dass oft fast nichts, was für die Aufklärung auch nur halbwegs von Belang ist oder sein könnte, übrig bleibt. Selbst Akten mit der niedrigsten Geheimhaltungsstufe „Nur für den Dienstgebrauch“ sind selten vollständig. Das ist sogar den Regierungsfraktionen zu viel. Da unsere Fraktion die Schwärzungs- und Entnahmepraxis öffentlich gemacht hat, gibt es viel Unmut in der Stadt. Dass die Zusage der Behörde, die bisherige Praxis noch einmal zu überprüfen, wirklich zur Öffnung der Akten führt, die einsehen zu wollen der Sonderausschuss beschlossen hat, ist aufgrund ihrer Mauermentalität ohne weiteren politischen Druck nicht sehr wahrscheinlich.

Obwohl der G20-Gipfel nun drei Monate zurückliegt, sind die Ereignisse in Teilen der Stadtgesellschaft noch sehr präsent. Das zeigt auch die im Folgenden abgedruckte, jüngst veröffentlichte Erklärung des Stadtteilbeirats Schanzenviertel. Die Stadt ist gespalten, das Misstrauen ist bei vielen Menschen groß, und ohne weitgehende Aufklärung des Geschehens drohen sich die Gräben weiter zu vertiefen.

Einer der wichtigen Konfliktpunkte sind die Ereignisse im Schanzenviertel in der Nacht vom 7. auf den 8. Juli: Hier entwickelten sich über einige Stunden ungehindert Krawalle, Plünderungen, wurden Barrikaden und Autos angezündet, bedrohten die Brände auch Wohnungen. Die Polizei hatte sich völlig aus dem Viertel zurückgezogen, bevor am späten Abend schwerbewaffnetes SEKs eingesetzt wurden und in Häuser und auf Dächer vordrangen. Anwohner und Anwohnerinnen kritisierten, dass die Polizei sie nicht schützte. Die Polizei begründete ihren Rückzug damit, dass die Einsatzkräfte in einen Hinterhalt gelockt werden sollten und Gefahr für Leib und Leben bestand. Als Beleg dafür zitierte die Polizeiführung im Innenausschuss der Bürgerschaft eine (angebliche) „Quelleninformation“ verdeckt eingesetzter Kräfte: „Circa 1 500 zu allem bereite Personen beherrschen das Schanzenviertel. Das Schanzenviertel ist als Festung ausgebaut und man erwartet schon die Polizei. Auf dem Gerüst Schulterblatt 1 und den Dächern entlang des Schulterblatts sollen Molotowcocktails, Eisenstangen und Zwillen bereitgelegt sein, ebenso sollen Feuerlöscher und Gehwegplatten bereitgelegt sein. Zwillen seien auch an andere Personen im Viertel verteilt worden. Verletzungen (…) bis hin zum Tod würden von der Störerklientel billigend in Kauf genommen.“ Zudem würden Stahlseile gespannt, um die Durchfahrt von Wasserwerfern und Räumpanzern zu verhindern.

Doch jetzt musste die Polizei in der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion zugeben, dass sie für keine einzige dieser Behauptungen einen Beweis vorlegen kann. Die Dächer, von denen angeblich die Gefahr drohte, wurden zwar vom SEK gestürmt – doch brauchte die Polizei aus Gründen, an die sie sich laut einer ihrer Antworten nicht mehr erinnert, vier Tage, bevor sie die Beweissicherung auf den Dächern vornahm: Gehwegplatten und Molotowcocktails fand sie dabei nicht. Eisenspeere, die laut Polizei aus angeblich zuvor geplünderten Metallteilen für den Angriff auf Polizisten gebastelt worden sein sollen, wurden nicht sichergestellt. Die im Zeitraum vom 5. bis 8. Juli sichergestellten Asservaten – darunter zwei Stahlkugeln, zwei Zwillen, fünf Molotowcocktails, 16 Spraydosen, 3 Krähenfüße, 50 Pyrotechnik, 3 Zeltstangen – stellen die Polizeiversion vom bewaffneten und zu allem entschlossenen Hinterhalt in Frage. Aber wenn es den Hinterhalt, auf den sich die Polizei beruft, nicht gab: Warum dann wurde sie aus dem Schanzenviertel zurückgezogen?

Diese Frage muss zweifelsfrei aufgeklärt werden.

Christiane Schneider, Hamburg

Abb.: Über 31 000 Polizistinnen und Polizisten waren während des G20-Gipfels im Einsatz. Sie waren in der ganzen Stadt massiv präsent – nur am Abend des 7.7. im Schanzenviertel nicht.

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01 Pressemitteilung: Erklärung des Stadtteilbeirates Sternschanze zur Nachbetrachtung des G20-Gipfels

Posted on 28. September 2017 by ag

Der Stadtteilbeirat sieht momentan gravierende Unterschiede zwischen der Wahrnehmung der Ereignisse im Schanzenviertel durch seine Mitglieder und der Darstellung durch Polizei und Senat. Vereinfachungen des komplexen Geschehens, pauschale Schuldzuweisungen, Aktionismus und eine Heroisierung der Polizei, wie sie unter anderem der Senat derzeit betreibt, führen zu keiner wirklichen Aufarbeitung, sind undemokratisch und — nicht zuletzt durch den Vertrauensverlust in die Polizei — gefährlich.

Im Einzelnen stellt der Stadtteilbeirat fest:

Der Stadtteilbeirat Sternschanze hat in mehreren Sitzungen vor dem G20-Gipfel in Gesprächen mit Vertretern der Politik und der Polizei auf die besondere Gefahrenlage im Schanzenviertel hingewiesen (siehe Protokolle der Sitzungen vom 26.4.2017 und 24.5.2017 unter www.standpunktschanze.de).

Insbesondere wurde auf das höhere Gewaltpotential bei möglichen Auseinandersetzungen (auch gegenüber der OSZE-Veranstaltung 2016) auf Grund des internationalen Kontextes des G20-Gipfels hingewiesen. Ebenso wurde dargelegt, dass in den letzten Jahren eine zunehmende Gewaltbereitschaft eher unpolitischer und häufig alkoholisierter Besucher und Schaulustiger bei den im Viertel stattfindenden politischen Auseinandersetzungen wahrgenommen wurde.

Konkret bat der Stadtteilbeirat um deeskalierende Maßnahmen der Polizei vor und während des G20-Gipfels, um das Gewaltpotential bereits im Vorwege und auch während des G20-Gipfels möglichst zu reduzieren. Es wurde um möglichst kurze Kommunikationswege zwischen Anwohnern und der Polizei gebeten. Außerdem wurde besonders auf den nötigen Schutz von Baustellen, Baugerüsten etc. hingewiesen, da das dort liegende Material auch als Wurfmaterial oder für den Barrikadenbau zweckentfremdet werden könnte. Seitens der Politik (Bezirksamtsleiterin Fau Dr. Melzer, Bezirksamtsleiter Herr Droßmann) und der Polizei (Herr Reuter – PK16, Herr Leetz – PK14) wurden die Hinweise aufgenommen. Herr Droßmann versprach, die Hinweise des Stadtteilbeirates gesammelt an die verantwortlichen Stellen weiterzugeben.

In der Rückbetrachtung stellt der Stadtteilbeirat fest, dass

– Vereinbarungen und Aussagen zum Schutz der Anwohner und zum ungehinderten Zutritt der Anwohner in ihr Viertel nicht eingehalten wurden.

– Ein Eingreifen der Polizei zum Schutz der Anwohner auch auf telefonischen Notruf hin über mehreren Stunden nicht erfolgte.

– Deeskalierende Maßnahmen seitens der Polizei in den Tagen vor dem G20-Gipfel und während des G20-Gipfels nicht wahrgenommen werden konnten.

In Berichten der Anwohner nach dem G20-Gipfel wurde großes Unverständnis darüber geäußert, dass die Polizei keine sichtbaren Versuche unternommen hat, das Schulterblatt am 7.7.2017 abends von den anderen Zugängen aus zu betreten, als der Zugang über den Neuen Pferdemarkt für die Polizei zu riskant erschien.

Aus Sicht der berichtenden Anwohner stellte sich die Lage außerhalb des Straßenabschnittes Schulterblatt zwischen Neuen Pferdemarkt und Susannenstraße nicht so dar, dass ein Eingreifen der Polizei nicht möglich gewesen wäre oder nicht in vergleichbaren Situationen in der Vergangenheit stattgefunden hätte.

Während sich die Polizei am 7.c7.2017 gemäß eigener Aussage über mehrere Stunden fürchtete, das Schanzenviertel zu betreten, verhinderten Anwohner durch ihr Eingreifen Schlimmeres.

Der Stadtteilbeirat Sternschanze begrüßt die Gesprächsangebote der Politik und der Polizei, er wünscht sich aber zusätzlich eine unabhängige parteiübergreifende Untersuchung der Vorkommnisse rund um den G20-Gipfel, am Besten in Form eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses. Gleichzeitig fordert der Stadtteilbeirat, dass — egal, ob in einem Untersuchungsausschuss oder einer anderen Form der Aufarbeitung — wie von der zweiten Bürgermeisterin, Frau Fegebank, versprochen, auch die Anwohner angehört werden. Die Erfahrungen, die die Menschen im Viertel gemacht haben, müssen Teil dieser Aufarbeitung im Sonderausschuss sein.

Auch eine neutrale wissenschaftliche Aufarbeitung der Konflikte, um die Hintergründe der Ausschreitungen zu verstehen und daraus Handlungsmöglichkeiten für die Zukunft zu entwickeln, hält der Stadtteilbeirat für wünschenswert.

Der Stadtteilbeirat Sternschanze bemängelt den derzeitigen Umgang mit den geschädigten Anwohnern und Gewerbetreibenden und fordert eine unbürokratische Entschädigung aller Geschädigten. Die Versprechen der Politik bis hoch zur Bundeskanzlerin, dass niemand auf seinen Schäden sitzen bleibt, müssen endlich eingelöst werden.

Der Stadtteilbeirat beobachtet derzeit populistische Tendenzen, aufgrund der Ereignisse beim G20-Gipfel eine Schließung der Roten Flora zu fordern. Die Rote Flora gehört zum Schanzenviertel und hat aus Sicht des Stadtteilbeirates für den Stadtteil einen wichtigen Stellenwert. Die Rote Flora für die gewalttätigen Auseinandersetzungen rund um den G20-Gipfel verantwortlich zu machen, steht aus Sicht des Stadtteilbeirats einem wirklichen Verständnis des Geschehens während des G20-Gipfels entgegen.

Allgemein stellt der Stadtteilbeirat fest, dass — wie auf den Beiratssitzungen als Befürchtung geäußert — vor und während des G20-Gipfels die im Grundgesetz verankerte Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative nicht mehr deutlich wahrgenommen werden konnte.

Eine Aufarbeitung eventueller Gesetzesverstöße auch durch Politik und/oder Polizei im Zusammenhang mit dem G20-Gipfel ist aus Sicht des Stadtteilbeirates genauso unerlässlich wie die Verfolgung von Gesetzesverstößen bei den gewalttätigen Ausschreitungen.

Hamburg, im September 2017,

Die Mitglieder des Stadtteilbeirates Sternschanze