Quelle: Politische Berichte Nr. 10, 2017 • Gesamtausgabe: PDF Inhaltsverzeichnis: TXT ⯈ H O M E

Die Reformation – ein Weg in die Moderne

Aber ein zwiespältiges Erbe

Der 31. Oktober ist in diesem Jahr 2017 einmalig ein gesamtdeutscher gesetzlicher Feiertag. Grund ist das staatlich und kirchlich gefeierte Jubiläum der Reformation. An diesem Tag vor 500 Jahren soll Martin Luther seine „95 Thesen gegen den Ablass“ als Aufforderung zur Disputation an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg genagelt haben. Dieses Ereignis gilt in der protestantischen Tradition, auch wenn es historisch in dieser Form wohl kaum stattgefunden hat, als Ausgangspunkt der reformatorischen Bewegung.

Aber auch Jubiläen haben ihre Geschichte. Die Hundert-Jahr-Feier der Reformation des Jahres 1617 war die erste breitenwirksame außeruniversitäre Feier eines historischen Jubiläums in Deutschland überhaupt – angeordnet von dem protestantischen Fürsten Johann Georg I. zur geschichtspolitischen Legitimation der regierenden sächsischen Dynastie. Kein deutscher Staat hat es seitdem versäumt, das Luther-Jubiläum anzuordnen. Wer Jubiläen feiert, dem geht es in erster Linie nicht um das historische Ereignis selbst, sondern er will daraus für sich aktuell ideologische Kraft gewinnen. Er will damit dokumentieren, ein bestimmtes historisches Ereignis sei für ihn gleichsam identitäts-stiftend von Bedeutung. Damals ging es darum, selbstbewußt die protestantischen Kräfte, Reformierte, Calvinisten und Lutheraner, politisch, aber auch militärisch zu sammeln: Wenige Monate später brach 1618 im Jahr darauf der Dreißigjährige Krieg aus. Die Funktion dieses Jubiläums zur Erhöhung der Kriegs- und Opferbereitschaft für die lutherische Konfession wird man nicht unterschätzen dürfen. Luther wurde als gottgesandter Prophet gefeiert. Der religiöse und militärische Sieg über das Papsttum wurde erwartet: „Als ich (Martin Luther) lebte, Papst, war ich deine Pest, als Toter werde ich dein Tod sein!“ war damals beliebtes Zitat.

Staat und Kirche feiern Luther

Heute stehen andere Schlagworte im Vordergrund. In seinem Beschluß von 2011 zum Reformationsjubiläum sieht der Bundestag die Gelegenheit, „… die christliche Verwurzelung sowie die Beiträge des christlichen Glaubens und der Kirche zur sozialen Verantwortung, zur Ausbildung moderner Grundrechte und den Grundlagen der Demokratie …“ zu thematisieren und das mit ganz viel Geld zu unterstützen. Sogleich wurden fünf Millionen Euro für die Vorbereitung der Feierlichkeiten vom Bund locker gemacht. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat zunächst versucht, das Reformationsjubiläum unter dem Stichwort „Kirche der Freiheit“ oder „Entdeckung der Freiheit“ zu setzen. Schließlich faßte sie das alles mit den Worten zusammen: „Am Ende ist der Bogen bis zur Aufklärung zu spannen.“ Freiheit, Toleranz, Bildung, Menschenrechte, Rechte der Frauen und Demokratie, ausnahmslos Sinnstiftungen, die die Reformation für Staat und Kirche zu elementaren Voraussetzungen, wenn nicht sogar zu einer Art „Urknall der europäischen Moderne“ stilisieren sollten. So kann man etwas ironisch, schaut man sich die einschlägigen Anordnungen zum Reformationsjubiläum an, ohne groß zu übertreiben, feststellen: Die Beschlussfassungen von Bundestag und Landesregierungen stehen ganz in der Tradition der seit 1617 durch die weltlichen Obrigkeiten evangelischer Territorialstaaten in Verbindung mit den Kirchen initiierten Reformationsjubiläen.

Gibt es etwas feiern?

In den vergangenen Monaten hat die evangelische Kirche Tausende von Veranstaltungen in allen möglichen Bereichen in Szene gesetzt: Auf dem Kirchentag, in ihren Gemeinden, an Schulen und Universitäten, in der Musik, der Malerei und in den Museen. Je näher aber die staatlich und kirchlich Feiernden dem 31. Oktober 2017 kommen, desto mehr gewinnt man den Eindruck, daß ihnen der eigene tiefere Sinn verloren gegangen ist. Die großen Worte von Kirche und Staat bröseln langsam weg. Das mag für einige stramme Lutheraner sicher anders sein. Für nicht religiös gebundene Menschen bleibt es aber recht diffus und unverständlich, warum man diesen Reformationstag feiern sollte.

Doch, es ist durchaus sinnvoll, sich mit der Reformation zu befassen. Aber nicht, weil Luther ewige Inhalte verkündet hat, von denen wir heute noch zehren und die als Grundlage unserer abendländischen Kultur zu dienen haben. Was Martin Luther historisch und wirkungsgeschichtlich losgetreten hat, kann man so zusammenfassen: Er hat für die damalige und die folgenden Zeiten eine richtige und wichtige Frage gestellt: „Was ist die Norm, die der Religion zugrunde liegt?“ Bereits in den frühen grundlegenden Auseinandersetzungen Luthers mit der katholischen Kirche ging es um die Frage dieser Norm und der Autorität in der Religion. Ist es der Papst in Rom als letzte Lehrinstanz? Oder ist es die Heilige Schrift, also die Bibel selbst als die erste und einzige Grundlage des Christentums?

Diese Frage nach der Norm in der Religion ist der eigentliche historische Wendepunkt, hinter den es kein Zurück mehr gibt. Er markiert die Reformation als das besondere historische Ereignis an das wir uns am 31. Oktober erinnern sollten. Ist diese grundlegende Frage erst einmal in den gesellschaftlichen Raum gestellt und von den Menschen aufgegriffen worden, kriegt man sie nicht mehr aus der Welt. „Was ist die Norm der Religion, der der Mensch gehorchen soll?“ Ist es das Gewissen, ist es die Heilige Schrift, ist es das Lehramt der Kirche, ist es die Tradition? Alle müssen sich zu dieser Frage nun verhalten. Und plötzlich ist es möglich, ja notwendig, über Religion selbst und was ihr zugrunde liegt zu diskutieren und zu streiten. Die unbefangene Sicherheit, eine nicht hinterfragbare Wahrheit zu haben, ist verloren gegangen.

Die Folge war für die damalige Gesellschaft eine dramatische Erkenntnis: Es gibt keine Lösung in diesem Streit um Grundlagen und Norm von Religion. Es war daher für Katholiken und Protestanten nicht möglich, eine gemeinsame rationale Basis dafür zu finden, um zu erörtern, warum und worin man sich unterscheidet. Norm steht gegen Norm; Wahrheit gegen Wahrheit. Das gilt auch noch heute für jeden noch so gutwillig geführten „interreligiösen“ Dialog. Die Tragik dabei ist, daß die Menschen im Dreißigjährigen Krieg und im darauf folgenden „Konfessionellen Zeitalter“ des 17. und 18. Jahrhunderts für diese Erkenntnis blutig haben leiden müssen.

Zweifeln ist Unglaube

Eines ist klar: Luther wollte bestimmt keine freie Diskussion über die Religion. Das war ganz und gar nicht sein Ausgangspunkt, als er den berühmten Satz gesprochen hat: „Assertio est modus loquendi theologicus!“ Das heiß übersetzt: „Die Behauptung ist die einzige Form, in der ein christlicher Theologe reden darf“. Für Luther galt: Diskutieren, das ist Zweifeln. Zweifeln ist Unglaube. Unglaube aber ist des Teufels! Es ist der Widerspruch in der Reformation: Martin Luther hat die Frage nach der Norm der religiösen Wahrheit gestellt, aber nur, um sie seinerseits ein für alle mal und endgültig zu beantworten: „Allein Christus, allein der Glaube, allein die Schrift, allein die Gnade.“ Das wurden die zentralen Aussagen der lutherischen Konfession.

Bereits in der frühen Reformationsgeschichte zeigen sich die Folgen dieser Haltung. Schon sehr bald spaltete sich die reformatorische Bewegung in die unterschiedlichsten Gruppierungen: Lutheraner, Calvinisten, Täufer. Auch im evangelischen Lager konnte man sich über die Norm der Religion nicht mehr verständigen. Denn wie legt man die Heilige Schrift aus, wenn nur die Bibel die Norm sein soll? Zu viel Widersprüchliches steht da geschrieben. Reicht es aus, den Heiligen Geist für sich zu beanspruchen, der den Gläubigen den einzig richtigen Weg weisen kann? Oder braucht man doch auch die nun eigene Tradition der Kirche indem man sich zum Beispiel auf Aussagen Luthers oder auch anderer Reformatoren beruft? Welche Rolle spielt dabei die Vernunft und die wissenschaftliche Erkenntnis? Betrachtet man die Geschichte des Protestantismus über die gesamten 500 Jahre bis ins 21. Jahrhundert, so stellt man schnell fest: Immer wieder kommt es in den evangelischen Konfessionen zu heftigem Streit über diese Grundfragen. Das ist ein typisches Erbe der Reformation! Immer wieder bilden sich im Protestantismus neue Kirchen und Religionsgemeinschaften, statt sich über die Normenfrage des Glaubens verständigen zu können. Bis heute gibt es keinen Abschluß der Normen-Debatte. Zwar ist in den staatlich domestizierten Landeskirchen gegenwärtig einigermaßen Ruhe eingekehrt. Die modernen fundamentalistischen und evangelikalen Bewegungen, nach deren Auffassung die Bibel direkt von Gott in die Feder diktiert wurde, sind dagegen ein lebendiger Beweis: Je orthodoxer die Auffassung, um so mehr die Neigung zu Abspaltung und Neugründung.

Wer die „bekennende Behauptungen“ aufgibt, „Tolle assertiones, et Christianismum tulisti!“, so Luther, der gibt das Christentum auf. Es gehört zur Tragödie der Wirkungsgeschichte der Reformation, daß alle Anhänger der Reformation ihm darin gefolgt sind. Hingegen vertraten Erasmus von Rotterdam (1466 bis 1536) und die zeitgenössischen Humanisten ein anderes Prinzip. Für sie war die rationale Argumentation aufgrund von Tatsachen im Austausch mit anderen Meinungen die Grundlage aller Erkenntnis an Stelle bloßer Konfrontation.

Wir sind Erben der Wirkungsgeschichte

Im Trienter Konzil (1545 und 1563) beschritt nun auch die Katholische Kirche diesen konfessionalistischen Weg. Ebenso der Westfälische Friede von 1648, der den Dreißigjährigen Krieg beendete. Zwar wurde in dem Vertrag von Osnabrück und Münster die Mehrkonfessionalität für das Heilige Römische Reich beschlossen, aber weiterhin galt für die zahlreichen Territorien, dass jeder Fürst ungebrochen seinen konfessionellen Wahrheitsanspruch und die von ihm geduldete Religion bestimmen durfte. Concordienformel, Heidelberger Katechismus und die dogmatischen Festlegungen des Tridentinums waren die ideologisch-konfessionellen Waffen, mit denen man zukünftig aufeinander einschlug, nachdem dreißig Jahre lang die Kanonen keine befriedigende Lösung für eine Konsolidierung der lateinischen Christenheit gebracht hatten. Dem Herrschaftsprinzip „cuius regio eius religio“, bei dem der Fürst mit seinem eigenen Bekenntnis entweder zum evangelischen oder zum kxatholischen Glauben für alle Untertanen die Konfession in seinem Territorium bestimmte, entsprach am Ende für den einzelnen Bewohner eines Landes nur noch die Möglichkeit, sich zu unterwerfen oder auszuwandern; immerhin gab es jetzt das „ius emigrandi“. Diese Stärkung der Territorialstaaten beförderte langfristig die Entstehung eines Systems rechtlich gleicher Partikularstaaten. Für das heutige Deutschland bewirkte dies, daß sich daraus der Föderalismus als eine Form staatlicher Gewaltenteilung entwickeln konnte.

Erst der Absolutismus, der sich in der Neuzeit entwickelt, schafft künftig neue, politische, quasi säkulare Handlungsmöglichkeiten. Im Interesse von wirtschaftlicher und regionaler Entwicklung werden unter den Herrschern der einzelnen Territorialstaaten zunehmend unterschiedliche Konfessionen zugelassen. So zum Beispiel in Bayern und Preußen die Hugenotten, bei den evangelischen dänischen Königen und Herzögen die Mennoniten, Remonstranten, Herrnhuter, ja sogar Katholiken und Juden.

So kann man am Ende tatsächlich sagen, daß Martin Luther durchaus einen Weg in die Neuzeit eröffnet hat, indem er die Frage nach der Norm in der Religion aufgeworfen hat. Zugleich aber war er zutiefst verwurzelt im Mittelalter, weil er diese Frage im Sinne der universellen Wahrheit meinte eindeutig und abschließend beantworten zu können. Er stand damit Kaiser und Papst näher, als er das je selbst hätte wahrhaben wollen. Im Blick auf die diesjährigen Reformationsfeiern kann man sagen: Religiöse wie unreligiöse Menschen sind Erben von Luthers Wirkungsgeschichte. Es ist ein jedoch ein zwiespältiges Erbe. Luthers Frage war zwar richtungsweisend. Das Erbe seiner Antworten aber treten wir nicht an.

Karl-Helmut Lechner, Norderstedt

Literaturhinweis: Udo Di Fabio, Johannes Schilling (Hg.) Die Weltwirkung der Reformation. Wie der Protestantismus unsere Welt verändert hat. C.H.Beck, 2017 16.95 Euro

Abb.(PDF): Luthers Thesenanschlag von 31. Oktober 1517, in der Darstellung des 19. Jahrhunderts. Dieses Ereignis wird zu allen Zeiten von den protestantischen Kirchen idealisiert.

Abb.(PDF): Protestantisches Zusammengehörigkeitsbewußtsein 1617: Luther und Calvin im Kreise von Reformatoren. Im Vordergrund die verschreckte Papstkirche.

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