Quelle: Politische Berichte Nr. 10, 2017 • Gesamtausgabe: PDF Inhaltsverzeichnis: TXT ⯈ H O M E

Kalenderblatt: 29. August 1833 England

01 Das erste Gesetz gegen Kinderarbeit passiert das britische Parlament

02 Charles Dickens: Oliver Twist – der scharfe Blick auf das Leben der „Paupers“

03 Schornsteinfegerkrebs

01 Das erste Gesetz gegen Kinderarbeit passiert das britische Parlament

Gründung der Königlichen Kommission zur Untersuchung von Kinderarbeit in Fabriken

Die Industrialisierung Mitte des 18. Jahrhunderts in England brauchte Massen von billigen Arbeitskräfte. Männer, Frauen und Kinder waren in den Fabriken schrecklichen, gesetzlich unregulierten Bedingungen ausgesetzt, geschuldet der „Laissez-faire“-Haltung gegenüber den Privatrechten der Fabrikbesitzer.

Historisch waren lokale Pfarreien, Städte und Dörfer verantwortlich für die „Pflege“ von arbeitslosen, verarmten, kranken und sterbenden Menschen – den „Paupers“ – es gab keine staatliche Fürsorge. In den 1790er Jahren geriet das System unter starken Druck, da immer mehr Menschen Hilfe suchten, vor allem weil die steigenden Kosten für Brot ihre Einkommen aufzehrten, aber auch, weil Elendslöhne unterhalb des Armengesetzes gezahlt wurden.

Reformen waren nötig, und die Änderung des Armengesetzes („Poor Law Amendment Act“) von 1832 mündete in der Einrichtung von Arbeitshäusern, in denen die „Paupers“ gezwungen waren, gegen magere Kost und Logis niedrige Arbeiten zu verrichten. Kinder aus solchen Einrichtungen wurden gewöhnlich im weiteren Leben „Lehrlinge“ von privaten Arbeitgebern. In respektablen Haushalten oder bei solchen Arbeitgebern waren diese Elenden unerwünscht. Daher waren es die nur die ungeeignetsten Lehrherren, bei denen die „Lehrlinge“ von jungen Jahren an lange gebunden blieben. Pfarrgemeinden, deren Vorsteher sowie Verantwortliche der Arbeitshäuser wollten „Pauper“-Kinder loswerden, ganz gleich in welchem Handwerk und unter welchen Arbeitsbedingungen. Damit wollten sie sichergehen, dass sie in einer anderen Pfarrgemeinde sesshaft werden und der eigenen Gemeinde nicht länger auf der Tasche liegen. „Pauper“-Kinder aus den Arbeitshäusern im Süden Englands wurden in die neuen Siedlungen im Norden exportiert, wo sie in den Hütten der Stahlindustrie als kostenlose Arbeitskräfte dienten.

Die frühe britische Fabrikgesetzgebung zielte auf die Begrenzung der Ausbeutung von „Pauper“-Kinderarbeit, vor allem in den Baumwollfabriken von Lancashire. Schon 1794 verabschiedeten die Lancashire-Richter eine Resolution; einige Behörden versuchten die Kinder in ihrer Obhut zu schützen. Sie untersagten die Annahme von Lehrstellen bei Meistern, für die sie überlange Arbeitstage ableisten mussten.

Das 1802 verabschiedete Gesetz zur Gesundheit und Moral der Lehrlinge („Health and Morals of Apprentices Act“) deckte nur den Schutz der „armen Kinder“ ab, erst 1819 mit dem Fabrikgesetz wurde Ausbeutung und Missbrauch von Kindern in Baumwollfabriken generell eingedämmt. Nur schwache Standards bezüglich Hitze, Licht und Belüftung wurden eingeführt und Arbeitszeiten wurden auf zwölf (!) Stunden pro Tag begrenzt. Schlafplätze für Jungen und Mädchen sollten getrennt sein, irgendeine Form der Bildung sollte zur Verfügung gestellt werden. Das Ganze war schwierig zu verwalten, da die Kompetenzen von Werksinspektionen unzureichend waren. Die Vollstreckung durch örtliche Friedensrichter funktionierte kaum. Örtliche Friedensrichter waren oft selbst Arbeitgeber, zeigten kein Interesse, und viele waren einfach zu nachsichtig mit den Arbeitgebern.

In den Jahren 1815, 1825 und 1831 wurde das Gesetz von 1802 jeweils geändert mit dem Ziel, es wirksamer zu machen. Bestimmungen waren aber auch leichter zu umgehen, seit Änderungsanträge im Jahre 1825 „freien“ Kindern bei Einwilligung ihrer Eltern erlaubten, über die gesetzlich vorgesehenen Begrenzungen hinaus zu arbeiten. In Wahrheit gab es wenig Unterschiede zwischen dem „Pauper“ und dem „freien“ Kind, und um 1830 musste die Regierung sich den Problemen in den Fabriken stellen.

Die „Zehn-Stunden-Bewegung“, die stark evangelistisch und philanthropisch beeinflusst war, erwies sich als wachsende Kampagne. Führer der Bewegung kamen aus ganz unterschiedlichen Zusammenhängen. Sie hatten wenig für sich persönlich zu gewinnen, denn die Kampagne hatte moralische und religiöse Ursprünge. Das verband sie mit den Arbeitern im Kampf gegen die Unmenschlichkeiten der Fabrikarbeit.

Unter den Reformatoren war William Cobbett, ein radikaler Journalist und Parlamentarier, der die gängige Einstellung kritisierte, dass kürzere Arbeitszeiten die Produktivität senke und das Vereinigte Königreich seine Dominanz im Welthandel verlöre. Cobbetts Antwort war, dass, wenn dieses Argument korrekt war, Englands industrielles Wohlergehen „auf 30 000 kleinen Mädchen gründete. Und wenn diese kleinen Mädchen zwei Stunden am Tag weniger arbeiteten, würden wir unsere Vormachtstellung in der Warenfertigung verlieren.“

Die wachsende Reformbewegung hatte in Lancashire durch die militante Baumwollspinner-Gewerkschaft („Cotton Spinners Union“) begonnen. Diese agitierte während der 1820er Jahre aus ihrer Enttäuschung über die fehlende Durchsetzung bestehender Gesetze heraus und wegen des Zusammenbruchs von Streiks gegen Lohnkürzungen, als die Industrie eine Rezession erlebte aufgrund von knapperen Rohstofflieferungen aus den USA, die mit der Abschaffung der Sklaverei zusammenhingen.

Fabrikarbeiter wurden aufgefordert, Ausschüsse für kürzere Arbeitszeiten („Short-Time-Commitees“) zu organisieren, und „kurzerhand bildeten sie Ausschüsse in allen Fabrikstädten und Dörfern, um Informationen zu sammeln und Fakten festzuhalten“. Diese Ausschüsse wählten Zeugen für den 1832 eingerichteten parlamentarischen Sonderausschuss unter dem Vorsitz des Abgeordneten Michael Sadler, der durch seine Arbeit im Familienbetrieb, einer Leinenfabrik, mit den brutalen Arbeitsbedingungen vertraut war und sich um Reformen bemühte. Sandlers Ausschuss erhielt Berichte über unterentwickelte, verkrüppelte, verstorbene, deformierte, und erniedrigte Kinder und Jugendliche und gab zu Protokoll: „… jede einzelne Erzählung eines geschändeten Lebens ist ein lebender Beleg für die Grausamkeit des Menschen gegenüber seinen Mitmenschen…“

Im März 1832 fand eine Pilgerfahrt nach York statt, eine Massendemonstration für eine Reform in den Fabriken und im Juli 1833 wurde eine riesige Kundgebung mit 100 000 Teilnehmern in Wibsey Moor, Bradford abgehalten. Anschließend erkannte die königliche Kommission folgende Missstände an: unverhältnismäßig lange Arbeitszeiten – täglich 13 Stunden und mehr, verkürzte Essenszeiten, mangelnde Ruhezeiten, dreckige und staubige Fabriken, schweres Heben, ungeschützte Maschinen, Gesundheitsgefahren durch Erschöpfung, dauerndes Bücken, und körperliche Missbildungen. Dazu kam noch die Grausamkeit der Aufseher mit Schlägen und Strafen für Unpünktlichkeit, diese Kultur der Gewalt ließ Angst walten. Im Fall der „freien“ Kinder kam noch die fahrlässige Komplizenschaft der Eltern hinzu.

Die Kommission ernannte die ersten vier Fabrikinspektoren, da die örtlichen Friedensrichter frühere Gesetzeserlasse nicht durchgesetzt hatten und die Arbeitszeiten von jungen Menschen nicht kontrollierten. Ein Zehn-Stunden-Tag wurde für 13- bis 18-Jährige eingeführt, und die Gesetze wurden von Baumwoll- auf Woll- und Leinenfabriken ausgeweitet. Allerdings weitete sich die Geltung der Gesetze nicht auf Fertigungsstätten außerhalb der Textilindustrie aus.

Bill Lawrence, Newcastle

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02 Charles Dickens: Oliver Twist – der scharfe Blick auf das Leben der „Paupers“

Oliver Twist ist eine recht verwickelte Geschichte eines Fürsorgezöglings der damaligen Zeit. Sein Weg führt ihn zwischen menschenverachtender Heimrealität, krimineller Kinder-Diebesbande, niederträchtiger Erbschleicherei auf der einen Seite, freundlicher Zuwendung, liebender Aufmerksamkeit und Pflege, Schutz und Unterstützung auf der anderen Seit. Nicht das Ziel dieses Weges steht dabei im Mittelpunkt – am Ende des Romans kann er glücklich und von Sorgen befreit leben –, es ist der Weg selbst und die Verwicklungen, die Begegnung mit Menschen und deren Lebenswelten, die diesem Roman seinen Erfolg gebracht haben. Er gab Impulse in die sozialen Bewegungen in England um die Mitte des 19. Jahrhunderts.

Die Bitte nach mehr Nahrung im Kinder-Armenhaus bringt Oliver eine Woche Kohlenkeller-Arrest ein. Der Fürsorge entkommt er durch Aufnahme bei einem ehrlichen Sargtischler, dort ist es der Nebenlehrling, der Oliver das Leben schwermacht und ihn zur Flucht nach London treibt. Der jüdische Hehler Fagin gliedert Oliver in eine Kinderdiebesbande ein. Ein missglückter Raub endet für Oliver – immer noch ein Kind! – unerwartet: aus Mitleid nimmt ihn der Beraubte, Mr. Brownlow, auf. Aber Fagins Bande, vor allem die rücksichtslosen und gemeinen Sykes und Nancy, zwingen ihn zurück; der nächste misslungene Einbruch führt Oliver ins gütige Haus Maylie, und als dann überraschenderweise Nancy Oliver unter Lebensgefahr vor den mörderischen Plänen seines Halbbruders Monk warnt, nimmt die Geschichte Fahrt auf und die Fäden werden entwirrt: alle Personen, die Oliver geholfen haben, tragen dazu bei, dass seine wahre Herkunft entdeckt wird. Seine Feinde sterben.

Ursprünglich in Fortsetzungen zwischen 1837 bis 1829 in der Zeitschrift „Bentley’s Miscellany“ sind seither zahlreiche Übersetzungen erschienen. Der Romaninhalt, den Wikipedia als „zum Teil drastische Schilderung von Kinderarbeit, Verbrechen und Pauperismus zur Zeit der Frühindustrialisierung“ charakterisiert, lieferte zudem den Stoff für zahlreiche Verfilmungen (die erste 1909!) in mehreren Ländern, Zeichentrickfilmen, Hörspielen, Musical und Theaterstücken wie auch für Comics. Eva Detscher, Karlsruhe

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03 Schornsteinfegerkrebs

Nur mit Hosen und einem Shirt bekleidet, teils sogar nackt wurden junge Schornsteinfeger in vielen europäischen Ländern zur Reinigung der Schornsteine eingesetzt. Ab einem Alter von vier Jahren wurden die Jungen in die sehr engen Schornsteine geschickt, um diese zu reinigen, eine Arbeit auszuführen, die hart, gefährlich, oft todbringend war. Die Jungen schliefen unter Rußsäcken, Einrichtungen zur Hygiene wurden nicht zur Verfügung gestellt, es fehlte an Möglichkeiten, sich zu waschen. Was später als Schornsteinfegerkrebs bekannt wurde, war ein durch den Ruß verursachter Krebs am Hodensack der Schornsteinfeger. Die Krankheit entwickelte sich schon in einem durchschnittlichen Alter von 38 Jahren, es lagen sogar Fälle von Achtjährigen vor, die die Krankheit befiel. Es war Sir Percivall Pott, ein 1714 in London geborener Mediziner und Chirurg, der den Zusammenhang zwischen der Arbeit der Schornsteinfeger und der Krankheit entdeckte. 1775 beschrieb er diesen Zusammenhang und die Histologie des Krebsgewebes, vor allem aber auch den Zusammenhang mit der Arbeit. Der Ruß und seine chemischen Bestandteile wurden als krebsverursachende Stoffe erkannt. Die Anwendung wissenschaftlicher Methoden auf die Arbeitsbedingungen, gewissermaßen die Etablierung der Arbeitsmedizin, hatte die Öffentlichkeit erreicht und eine Debatte über die Arbeits- und Lebensbedingungen ausgelöst, die in der Folge zu dem sogenannten „Chimney Sweepers Act“ von 1788 führte, der die Beschäftigung von Jungen unter dem Alter von acht Jahren verbot, die Einwilligung der Eltern zur Voraussetzung ihrer Beschäftigung machte und angemessene Versorgung mit Kleidung und Lebensbedingungen vorsah. Percivall Potts Arbeiten, die Nutzung wissenschaftlicher Erkenntnisse, wurden ein wichtiger Baustein für die Entwicklung der Epidemiologie und der Arbeitsmedizin. Rolf Gehring, Brüssel

Abb. (PDF): Cover Oliver Twist

Abb. (PDF): Cover of the Routledge (2013) pub. ISBN 10-140 946 4326

Abb. (PDF): Elterliche „Komplizenschaft“: Eine Mutter drängt ihr benommenes und erschöpftes Kind, um die Geldstrafe für ein zu spätes Erscheinen in der Fabrik zu vermeiden. (Leben und Abenteuer des Michael Armstrong, des Fabrikjungen; von Frances Milton Trollope, 1840). Entnommen aus: Hunter, D The Diseases of Occupation 6th edition 1978, Pub’d Hodder & Staughton ISBN 0 340 22084 8 (Kopie aus dem Buch aus Bill Lawrences Privatbibliothek.)

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