Quelle: Politische Berichte Nr. 11, 2017 • Gesamtausgabe: PDF Inhaltsverzeichnis: TXT ⯈ H O M E

Kalenderblatt 9. April 1964 England

Erste Wahlen zum Greater London Council

Vorbemerkung: Die Frage des Was und Wie der Produktion zieht sich durch die Geschichte des Wirtschaftens, allerdings in wechselnden Kon stellationen. Wo existentielle Not alle Fragen beantwortet und Optionen ausschließt liegt die Sache klar – was zu tun ist, ist nicht hinterfragbar. Wo die Produktivität hoch ist und zentralisierte industrielle Produktion vorliegt, entstehen Optionen.

Der Greater London Council hat die Einbeziehung der Bürger in Verwaltung und wirtschaftliche Planung ins Zentrum gerückt.

Lucas Aerospace folgt einer ähnlichen Inspiration.

Die Geschichte der Belgier von Birtley gräbt etwas tiefer in der Historie, wo der Konversionsgedanke erst nach Ende der beiden Weltkriege Fuß fassen konnte.

01 Greater London Council

02 Der Konversionsplan für Lucas Aerospace

03 Die „Birtley Belgians“ – eine lange verschollene Geschichte

01 Die Einrichtung des Greater London Council (GLC) war eine Strukturreform, die von der konservativen Regierung eingeleitet wurde. Ihr materieller Hintergrund war der Bedarf an einer gesamten Stadtplanung. Die parallele politische Erwägung der Konservativen war, Labour aus der Verantwortung zu drängen. Labour war traditionell stark in den zentralen Stadtbezirken, durch die Einbeziehung der äußeren, traditionell konservativ orientierten Stadtteile sollte dieser Einfluss gebrochen werden. Dieser Plan misslang: Labour gewann die ersten Wahlen zum GLC.1 Jeder Stadtbezirk Londons entsandte zwei Mitglieder in den GLC. Wegebau, Verkehrsplanung, Wohnungsbau, Naherholung und öffentlicher Nahverkehr wurden vom GLC operativ koordiniert, es entstanden Pläne für das wachsende Gesamt-London mit dem Ziel der wirtschaftlichen Entwicklung. Der GLC bestand von 1965 bis 1986, die konservative Regierung unter M. Thatcher schaffte ihn und die anderen GLCs im Lande ab.2

Der GLC war nicht einfach eine weitere Verwaltungseinheit, sondern ein Gremium, das Wissen aus anderen gesellschaftlichen Subsystemen erschließen musste. Insofern musste er auch offen sein für neue Formen der Bürgerbeteiligung. Das einschneidende Ereignis hierfür waren die Wahlen vom Mai 1981. Labour gewann diese Wahlen und wählte Ken Livingston zum Vorsitzenden des GLC, der zuvor bei Labour aus der Minderheit agierte und das offizielle Wahlprogramm nicht unterstützte. Er saß dem Gremium mit einer kurzen Unterbrechung von 1981 bis zu seiner Abschaffung im Jahr 1986 vor.

Neben populären Maßnahmen wie einer 25 %-igen Reduzierung der Preise für den öffentlichen Nahverkehr waren es die programmatischen Ziele und vor allem die Beteiligungsformen, die verändernd auf die traditionellen Praktiken wirkten. Programmatisch verfolgte der GLC in dieser Zeit eine Politik der Anerkennung von Minderheiten, der Antidiskriminierung von Schwulen und Lesben und einer Orientierung auf sozial nützliche Produktion. Unter anderem wurde London zur atomwaffenfreien Zone erklärt.

Bürgerbeteiligung war für die Akteure eine Voraussetzung für die Erfolge von Planungsprozessen. Unter dem Begriff des „Popular Planning“ wurden dafür Programme aufgelegt, auch pädagogische und organisatorische Unterstützung wurde dafür geleistet. Gerade vor dem Hintergrund der Strukturkrisen der englischen Wirtschaft fokussierten die Maßnahmen auf eine Revitalisierung von lokalen ökonomischen Strukturen, die nicht auf Dienstleistungen beschränkt waren, sondern auch die Güterherstellung umfassten. Finanzielle Unterstützung wurde an lokale Beschäftigungsinitiativen zur Wiederbelebung lokaler Wirtschaftsstrukturen, aber auch für Untersuchungsprojekte zu Bedarfsanalysen oder für die Weiterbildung im Bereich „ökonomische Prozesse“ gegeben. Es sollte von den vorhandenen Kompetenzen der Menschen ausgehen und der Orientierung „soziale Güter für soziale Bedarfe“ folgen. Hierfür wurden auch Kooperationen mit der Wissenschaft aufgebaut (siehe auch den nebenstehenden Artikel zu Luca Aerospace).

Der im Rahmen des GLC entwickelte Ansatz zur Beteiligung und Befähigung von Menschen, sich an lokalen Entwicklungsprozessen aktiv zu beteiligen und hierfür auch die formalen und adminstrativen Strukturen zur Verfügung zu stellen, fand in ganz England Widerhall. An verschiedenen Orten, unter anderem auch im Gebiet Tyne & Wear, wo die nebenstehende Geschichte der Birtley Belgians spielt, wurden die Greater Councils etabliert, wie auch gewerkschaftliche Strukturen, die sich die regionale und lokale Entwicklung ebenfalls zu eigen machten. Auch in anderen Ländern Europas entstanden Konzepte nach dem Vorbild des „Popular Planning“ und der Orientierung auf regionale/lokale Entwicklungsperspektiven.

Rolf Gehring, Brüssel

1 In der weiteren Geschichte wechselten Konservative und Labour sich als Wahlgewinner ab, meist konträr zur Zentralregierung des Landes. 2 1999 wurde unter Labour nach einer Volksabstimmung als übergreifende Verwaltungsbehörde für London die „Greater London Authority“ gebildet.

Quellen: The rise and fall of the GLC – BBC News: http://www.bbc.com/news/uk-england-london-35716693 und Titus Alexander. Werte für Menschen – Erwachsenenbildung und popular planning; Veröffentlichungsreihe Lokale Ökonomie, Nr. 13, Technologie-Netzwerk Berlin 1992

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02 Der Konversionsplan für Lucas Aerospace

Im Januar 1976 präsentierten Beschäftige von Lucas Aerospace in Großbritannien einen Konversionsplan für das gesamte Unternehmen, der auf eine Umstellung von Rüstungs- auf zivile Produktion zielte. Das in den 1850er Jahren von Joseph Lucas gegründete Unternehmen, das in der Anfangszeit Öllampen und später elektrische Komponenten für die Automobilindustrie produzierte, hatte sich immer mehr zu einem Rüstungskonzern entwickelt. Vor dem Hintergrund dieser Ausrichtung und der Ankündigung des Managements, Tausende Beschäftigte zu entlassen, taten sich Beschäftigte aus allen Belegschaftsgruppen und quer zu den bestehenden gewerkschaftlichen Strukturen zusammen, um alternative Produkte und Produktionskonzepte zu entwickeln. Der Chefentwickler der Unternehmens, Mike Cooley, war eine treibende Kraft dieser innerbetrieblichen Bewegung. Ein Jahr wurde auch mit externer Expertise an Konzepten gearbeitet. Unter anderem beteiligte sich die Englische Gesellschaft für soziale Verantwortung in der Wissenschaft (English Society for Social Responsibility in Science, https://en.wikipedia.org/wiki/British_Society_for_Social_Responsibility_in_Science) an den Arbeiten. Am Ende wurden die Arbeiten in sechs Bänden mit insgesamt etwa 1000 Seiten vorgestellt. 150 alternative Produkte, die mit den vorhandenen Qualifikationen der Beschäftigten und der vorhandenen technischen Infrastruktur hätten gefertigt werden können, waren entwickelt worden. Die Belegschaftsinitiative wählte 12 Produkte aus, die dem Management vorgestellt wurden. Dieses lehnte jedoch jegliche Vorschläge ab. Das bei Lucas Aerospace entwickelte Konzept wurde dennoch von diversen regionalen Gewerkschaftsräten und dem Greater London Council aufgenommen. Auch in vielen europäischen Ländern wurde dieses Konzept aufgegriffen. Soziale Produkte für soziale Bedürfnisse, Rüstungskonversion, Beteiligung der Beschäftigten bei der Produktentwicklung sind die Schlagworte, die hiermit im Zusammenhang stehen. Der Ansatz hat sich zu einem bleibenden Bezugspunkt in Sachen Produktkritik, Beteiligung der Beschäftigten und Selbstorganisation entwickelt. 2016 fand in Birmingham eine Konferenz statt, die den 40. Jahrestag für einen Rückblick und eine Bestandsaufnahme nutzte. Oben abgebildet ist der Flyer für diese Veranstaltung.

Rolf Gehring, Brüssel

http://lucasplan.org.uk/,

Abb. (nur im PDF):Arbeiter bei Lucas Industries, Shaftmoor Lane branch, Birmingham, 1970. Photograph: Lucas Memories website, lucasmemories.co.uk.

Abb. (nur im PDF): FLYER CLIMATE JOBS NOT BOMBS

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03 Die „Birtley Belgians“ – eine lange verschollene Geschichte

Während im Sommer 1914 die Großmächte den Krieg planten, plädierten Sozialisten und Arbeiter für den Frieden. Darunter die „Jungs von Seraing“. Seraing ist sowohl eine Stadt an der Maas bei Lüttich wie auch der Name eines Kraftwerks des belgischen Schwermaschinen- und Stahlkonzerns Cockerill. Die Industrialisierung Walloniens hatte in den 1820er Jahren mit der Verfügbarkeit von billiger Kohle begonnen. Diese billige Energiequelle zog etliche Unternehmer an, unter ihnen der in England geborene John Cockerill, der Ende des 19. Jahrhunderts in der Waffen- und Artillerieproduktion mit Deutschlands Krupp und Britanniens Armstrong konkurrierte.

Die belgischen Gewerkschaften wurden 1866 gesetzlich zugelassen. Ein Streik im Werk Cockerill im April 1869 wurde von der Garde Civique brutal niedergeworfen und dabei viele Arbeiter erschossen. Im darauf folgenden Monat schrieb Karl Marx: „Es gibt nur ein Land auf der Welt, in dem jeder Streik eifrig und freudig zu einem Vorwand für das offizielle Massaker an der Arbeiterklasse gemacht wird. Dieses Land der Seligkeit ist Belgien.“ In den nächsten dreißig Jahren wurde in Wallonien auch für Forderungen nach politischen Reformen gestreikt, mehr als 90 belgische Streikende wurden dabei erschossen. Der Kampfgeist der Arbeiter von Seraing war legendär: eine europaweit beachtete Friedenskundgebung Mitte Juli 1914 mit namhaften Rednern ehrte das Andenken der getöteten Arbeiter. Der deutsche Kommunist Karl Liebknecht schuf den Begriff: „Das Schlachthaus von Seraing“.

Drei Wochen später erklärte Deutschland Serbien den Krieg, die Briten traten Tage später der gegnerischen Front bei und kämpften auch auf belgischem Gebiet, nach drei Wochen zogen sich die Einheiten der britische Armee nach der „Schlacht von Mons“ zurück. Damit begann auch eine Abwanderung belgischer Flüchtlinge. Tausende Menschen flohen vom Antwerpener Hafen aus über das Meer nach England, bald darauf folgten verletzte Soldaten, darunter „Die Jungs von Seraing“ – der Name der Cockerill-Ingenieure. Sie gingen zu einer neu errichteten Rüstungsfabrik am Fluss Tyne, im Nordosten Englands im Ort Birtley.

Die Fabrik und ihre Gemeinde Elisabethville – ein neues Dorf, das nach der belgischen Königin benannt wurde – war von Frühjahr 1916 bis Kriegsende Heimat und Arbeitsstätte von 7 000 Belgiern. Einzigartig unter belgischer ziviler und militärischer Verwaltung, mit einer Fabrik, die von belgischen Ingenieuren geleitet wird. Diese kriegsmüden Menschen produzierten 2,75 Mio. Granaten mit einer Produktionsrate, die höher war als die jeder anderen Fabrik in Großbritannien. Die Belgier brachten nicht nur ihr Können mit, sondern auch ihren Kampfeswillen.

Die Gewerkschaften waren in Elisabethville trotz des Defence of the Realm Act (ein für ganz Großbritannien geltendes Gesetz zur Sicherung der Verteidigungsfähigkeit), der auch alle Gewerkschaftsaktivitäten in Großbritannien erschwerte, sehr aktiv. Die Belgier haben ihrem Gastgeberland besondere Zugeständnisse abgerungen. Die Birtley-Arbeiter waren so gut organisiert, dass auf dem Gewerkschaftskongress in London 1917 und 1918 geschrieben stand: „Birtley was the strongest of them all in GB“ (Von allen Arbeitern waren die von Birtley die stärksten, hartnäckigsten, überzeugendsten“).

Die Rückführung nach Belgien setzte bereits wenige Tage nach Kriegsende ein. Der letzte Belgier verließ Elisabethville am 5. Februar 1919. Ihre Geschichte erschien 1919 mit dreisprachigem Vorwort als „Nos ‚Hors-Combat‘ à Elisabethville Birtley“ von Camille Fabry in der Reihe „Les Pages heroïque de la Grande Guerre“. Fabry war später Delegierter der Wallonischen Nationalversammlung, Präsident des Kriegsveteranenverbandes und Rekrutierungsoffizier für den Widerstand des Zweiten Weltkriegs, deren Untergrund-Presseeditor und Saboteur. Mit einem weiteren Essay von 1920 hat er auch Karl Liebknecht und seinem Friedensaufruf für die belgischen Arbeiter von Seraing einen Platz in der Geschichte gegeben.

Einige Jahre lang in den 1920ern wurde die Fabrik zur Autoherstellung genutzt. Allerdings nicht erfolgreich. Bis in die späten 1930er Jahre lag die Fabrik still und wurde dann wieder zur Waffenproduktion genutzt. Auf unterschiedliche Weise blieb die Fabrik Produktionsstätte, bis 2012 ein neues Werk gebaut wurde. Die „historische“ Anlage wurde dann für den Bau von Wohnungen abgerissen.

Bill Lawrence, Newcastle-upon-Tyne, England, Eigene Übersetzung

Anm.: Die Geschichte der „Birtley Belgians“ war über achtzig Jahre in Vergessenheit geraden, aber „The Boys of Seraing“ leben heute wieder – Bill Lawrence wird 2018 ein Buch darüber herausgeben; außerdem gibt es ein Musical, das in Belgien aufgeführt wird.

Abb. (nur im PDF): Faksimile Elisbaethville

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