Quelle: Politische Berichte Nr. 12, 2017 • Gesamtausgabe: PDF Inhaltsverzeichnis: TXT ⯈ H O M E

Brexit – Start der zweiten Verhandlungsrunde fraglich

Scheitern könnte das am Veto des EU-Mitgliedsstaates Irland. Die Unionisten dort, die eine staatliche Einheit der irischen Insel wollen, haben angekündigt, sich querzustellen. Die Gelegenheit möchten einige nutzen, ein Referendum über die Einheit der Insel zu fordern. Eine EU-Außengrenze quer durch die irische Insel ist schlicht undenkbar – im Prinzip wird daran die Erschütterung absehbar, die eine, wenn auch nur in Teilen geplante Rückabwicklung der EU auslösen kann. Die britische Regierung hat ausdrücklich erklärt, sich auf keine Sonderregelungen für Nordirland einlassen zu wollen – man kann nur hoffen, dass es hier noch Bewegung gibt. Denn die Grenze zwischen Nordirland und Irland wird in jedem Fall Sonderwirtschaftszone – legal, was der bessere Weg wäre – oder die vielfältigen wechselseitigen Beziehungen werden sich andere Wege bahnen. Ob man es darauf ankommen lassen will?

Industriepolitische Absichten

„Die Regierung in London setzt auf ein Comeback der Industriepolitik“, das sei das Rezept der britischen Regierung, wie die Wirtschaft des Landes trotz des Brexits wachsen soll (FAZ 28. November 2017). Seit 1996 ist die Industrieproduktion in Großbritannien der FAZ-Grafik zufolge von 17 auf 10 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt gefallen, wobei bis 2008 jährlich fallend, danach auf dem Niveau von 10% stagnierend. Bedingungen dafür zu schaffen, dass sich dieser Trend umkehre, haben sich alle britischen Regierungen der letzten zwanzig Jahre vorgenommen. Theresa May hat jetzt einen Aktionsplan „industrielle Strategie“ mit ihren Vorstellungen bezüglich staatlichen Steuerungsmöglichkeiten vorgelegt. „Wo er einen Unterschied machen kann“, wird der Staat „entschieden intervenieren“, zitiert die FAZ den Plan und führt aus: „Jahrzehntelang war im wirtschaftsliberalen Großbritannien eine solche staatliche Lenkung verpönt.“ „Künstliche Intelligenz und Big Data, ‚grünes Wirtschaftswachstum‘, die Mobilität der Zukunft und Angebot für die alternde Gesellschaft“ – bei diesen vier gesellschaftlichen Bereichen sieht Wirtschaftsminister Greg Clerk Optionen, der britischen Wirtschaft zu einer führenden Rolle weltweit zu verhelfen. Investieren soll der britische Staat in die technische Ausbildung an den Schulen, in berufliche Umschulungsmaßnahmen, ins Netz von Ladestationen für Elektroautos und in mehr schnelle Internetverbindungen.

Lang verschleppte Strukturprobleme

Die ökonomische Tristesse in früher industriell geprägten Regionen wie Wales, Nordirland und Cornwall steht im krassen Gegensatz zur wirtschaftlich brummenden Hauptstadt London, der Abbau von Industriebetrieben seit den End-siebziger Jahren ist permanent, Investitionen fehlen, Dienstleistungen vom Einzelhandel bis zur Finanzdienstleistung dominieren, die Millionen neuen Jobs sind schlecht bezahlt, Produktivitätsentwicklung findet nicht statt, im Gegenteil: „Die britische Produktivität liegt mittlerweile 15 % unter dem Durchschnitt der führenden sieben Industrienationen (G7)“, stellt die FAZ fest.

In dieser Lage: raus aus der EU?

Nur wenige Stimmen in Großbritannien sind zu hören, die laut sagen, dass der Brexit die Ausgangsbedingungen für die Lösung der strukturellen Unterschiede und Probleme Großbritanniens verschlechtert und dass die Propaganda der Brexitkampagne, der Austritt aus der EU sei Garantie für die Trendwende, eine wohlfeile Lüge war. Es ist ein konservativer Oberhausabgeordneter, Michael Heseltine, der den Verzicht auf den Brexit fordert; Labour beschränkt sich darauf, die Pläne der konservativen Regierung genau zu untersuchen und zu kritisieren, legt aber keine eigene Position vor. Priorität hätte die Wahl einer radikal sozialen und demokratischen Regierung, alsdann würde sich die Position zum Brexit schnell klären. In den britischen Gewerkschaften fürchtet man „Singapur“-Zustände, wenn die Tory-Regierung nach dem Brexit ohne Rücksicht auf EU-Standards gesetzliche Regelungen ändern wird: „Low tax, low wage, low regulations, low worker protection“ – niedrige Steuern, niedrige Löhne, wenig Regulierung, wenig Arbeitnehmerschutz. Der TUC (Trade Unions Congress, Gewerkschaftsverband) begrüßt die Äußerungen der britischen Regierung, die Beteiligung an den EU-Wissenschaftsprogrammen fortzusetzen. TUC listet die Geldflüsse aus der EU in Forschungsprojekte in Großbritannien auf, z.B. in 2015 1,21 Milliarden von Horizon2020, die höchste Summe aller Mitgliedsstaaten; Nettoeinnahmen aufgrund der Ansiedlung der Europäischen Arzneimittel-Agentur und des Forschungszentrums für die gemeinsame europäische Taurus-Fusion (JET). Sicher ist aber gar nichts im derzeitigen Stadium der Verhandlungen. Die psychologische Wirkung von Äußerungen des Schatzministers Philip Hammond, die die Wachstumsprognose nach unten korrigieren und bis 2021 ein Lohnniveau unter dem von 2008 vorhersagen, ist kaum abzuschätzen.

Für Rest-EU ist die Lage ebenfalls ernst

Das Gefüge der EU wird durch ein Hinzukommen und auch ein Verlust von Mitgliedsländern erschüttert. Das Europäische Politik Zentrum EPC bezeichnet den Brexit als Terra nova, als Neuland, das gemeinsam erkundet werden muss. Die Briten müssen verstehen, dass der Brexit nicht ohne die EU durchgeführt werden kann, die EU muss verstehen, dass die Beziehungen aller beteiligten Länder untereinander anders werden. Daher wird empfohlen, Michel Barnier mit einem erweiterten Verhandlungsmandat auszustatten. In welcher Weise er die Übergangsregelungen anders als bisher soll verhandeln dürfen, wird sich in den nächsten Tagen entscheiden.

Eva Detscher, Karlsruhe

nach oben