Quelle: Politische Berichte Nr. 12, 2017 • Gesamtausgabe: PDF Inhaltsverzeichnis: TXT ⯈ H O M E

Die Bildung der Regierung – Zweiter Akt eines politischen Dramas

01 Programmatische Erneuerung der SPD – aus dem Leitantrag #SPDerneuern

Die breite politische Öffentlichkeit will es nicht, und die meisten Abgeordneten wollen es wohl auch nicht. Dennoch ist es möglich, dass dem im September gewählten Bundestag die Regierungsbildung misslingt. Alle Welt fragt sich, wie das in einer Situation möglich ist, in der die Wirtschaftslage gut ist und die Spielräume der öffentlichen Haushalte groß sind. Im Folgenden wird versucht, aus der Fülle der Ereignisse strategische Front- bzw. alternative Weichenstellungen herauszufiltern, die es den Akteuren schwermachen, gemeinsam gangbare Wege zu finden, und die gleichzeitig Herausforderungen linker Oppositionspolitik darstellen.

Die FDP hat Angela Merkels ersten Versuch, eine Regierung zu bilden, scheitern lassen. Dabei dürften tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten über die Aufgabenverteilung zwischen öffentlicher Hand und Privatwirtschaft wirksam geworden sein. In diesem Zusammenhang steht auch die Aversion der FDP gegen die Vertiefung der wirtschaftspolitischen Zusammenarbeit in der EU, die auf alle Fälle die Aufgaben und Verpflichtungen des Staatssektors erhöhen würde und mit der Steuersenkungspolitik der FDP nicht zusammenpassen könnte. Wenn man in der FDP annimmt, dass Steuersenkungen zu einer großartigen Wirtschaftsentwicklung führen würden, der Anstieg der Staatsquote aber in Stagnation und Schlimmeres, ist es aus dieser Sicht sinnvoll, in Wartestellung zu gehen, um die kommende „schlechte“ Merkel-Regierung stürzen zu können, egal ob per Misstrauensvotum oder per Neuwahlen. Somit liegt die FDP im parlamentarischen Hinterhalt. Sie hat dabei aber Chancen der Gestaltung – namentlich der Finanz-, Wirtschafts- und Europapolitik – aufgegeben.

Der Bundespräsident hat durch sein Agieren nach dem Scheitern der Jamaika-Verhandlungen den Auftrag zur Regierungsbildung an Angela Merkel erneuert, und diese steuert nun in Richtung einer Koalition aus CDU, CSU und SPD. Mehr als je in der Geschichte der BRD wird deutlich, dass es sich hier um drei Parteien handelt. Also muss man nachsehen, wo denn die Unterschiede zwischen CDU und CSU sich fixieren lassen. Klar ist, dass sich die Differenzen innerhalb beider Parteien zeigen, allerdings mit unterschiedlicher Gewichtung. In der CSU hat sich, wie die Agitation der Partei zur Zeit der Griechenland-Krise sehr deutlich belegt, eine politische Stimmung nach dem Stil von „Amerika-first“ herausgebildet, die aus der EU nur Vorteile ziehen will und Verpflichtungen geringschätzt, wenn es irgend geht, sie ablehnt. Diese Stimmung hat sich bei der großen Migrationsbewegung, die 2015 im Zuge der Interventions- und Bürgerkriege im Mittleren Osten und in Afrika entstand, weiter ausgeformt. Frucht davon ist das vom bayerischen Landtag mit CSU-Mehrheit beschlossene Gesetz zur Leitkultur. Die damit verbundene ideelle und reelle Verletzung von Humanität und Menschenwürde hat eine Kluft zwischen den beiden christlichen Kirchen und der CSU-Politik aufgerissen. Diesen Konflikt, der nicht nur um Sachfragen geht, sondern auch Gewissensfragen berührt, hatte der Parteivorsitzende und Ministerpräsident zu integrieren versucht. Das gelang bei der letzten Landtagswahl, bei der die CSU mit knapp 48% Prozent die absolute Mehrheit der Sitze im Landtag gewann, bei der Bundestagswahl ist es aber nicht mehr gelungen. Wäre es zu einer Vier-Parteienkoalition aus CDU, CSU, Grünen und FDP gekommen, hätte das die Rechtsentwicklung in der CSU behindert, ihr Scheitern hat nun auch Rückwirkungen auf die bayerischen Verhältnisse. Seehofer wird zu Anfang des Jahres 2018 sein Amt als Ministerpräsident zur Verfügung stellen, die Landtagsfraktion beabsichtigt, den derzeitigen Finanzminister Söder zu wählen und mit diesem Spitzenmann in den Landtagswahlkampf zu ziehen, September 2018 wird in Bayern gewählt. (Aktuelle Umfragen zeigen eine Schwäche der CSU, im ganzen aber eine brutale Rechtsverschiebung der Stimmung in der Wählerschaft. SPD, Grüne und Linke kämen danach zusammen auf nur noch 28 Prozent, die Linke würde den Einzug in den Landtag abermals verfehlen.) Seehofer soll allerdings Parteivorsitzender bleiben, d.h. die CSU bei den Koalitionsverhandlungen vertreten. Ein Misserfolg der Verhandlungen der Union mit der SPD würde in Bayern weitere Verschiebungen in Richtung Nationalismus und Chauvinismus begünstigen.

Praktisch gleichzeitig mit der Meinungsbildung in der CSU führte die AfD in Hannover auf ihrem Parteitag vor, dass der Rechtsextremismus in dieser Partei eine sichere Sammelstelle hat. Sie rechnet für den Fall von Neuwahlen mit weiterem Zulauf.

So kommt es nun auf die SPD an. Der Partei war es nicht gelungen, für die Punkte, die sie in der großen Koalition in sozialen und kulturellen Fragen gemacht hat, Wählerstimmen zu erhalten. Was wird aus der Partei, wenn sie in eine Regierung eintritt? Der Juso-Bundeskongress hat das jüngst einstimmig abgelehnt. In die gleiche Richtung gehen Voten vieler Kreisverbände, vor allem aus dem Ruhrgebiet. Die Repräsentanten der Partei gehen verschiedene Wege, die einen tun so, als ob die Notlage der Union die Verhandlungsposition der SPD kolossal verbessern würde, man wirft Maximalforderungen in die Manege. Die realen Machtverhältnisse sind jedoch anders. Die Rechtverschiebung in der politischen Stimmung ist eindeutig, Abkehr von Werten, die das friedliche Zusammenleben in Europa und der Welt tragen, gang und gäbe. Entsolidarisierung als Haltung trägt die politischen Strategien der Rechten, das ist ein Vorgang, der sich an der Basis der Gesellschaft abspielt.

Gegen diese Herausforderung sind gleichzeitig solidarische Aktivitäten aller Art entstanden, darunter auch die ökologischen Zielsetzungen und die Gestaltungen emanzipierten Lebens. Diese vielfältigen Initiativen der Einzelnen im Alltagsleben wie der kleinen und großen, neuen und traditionsreichen Solidarverbände brauchen Anlaufpunkte in der Politik, in den Kommunen, den Ländern und im Bund. Sie können sich nur stabilisieren, wenn sie etwas erreichen.

Entscheidung und Verhandlungsführung der Sozialdemokratie könnten von einem Programm der Solidarität getragen werden. Der Partei steht die schwierige Aufgabe bevor, auszudeuten, was in diesem Sinne hier und jetzt, in der nahen Zukunft erreicht werden kann. Diese Aufgabe wird die SPD bewältigen, wenn sie bei den Bewegungen und Parteien des linken Spektrums einen gewissen Rückhalt findet. Für die Grünen ist die Aufgabe nicht so wahnsinnig schwer: Sie müssen von der Verhandlungsführung der SPD nicht verlangen, was sie selbst nicht durchsetzen konnten. Umgekehrt braucht die SPD in diesen Verhandlungen nicht hinter – im genannten Sinne positive – Punkte aus den Jamaika-Verhandlungen zurückgehen. Für den tatsächlichen Verlauf der Verhandlungen wird nicht unerheblich sein, wie sich die Linke verhält, die in Stimmenkonkurrenz sowohl mit der SPD wie mit den Grünen steht. Die Wirkung von politischen Statements auf die Richtung von Wechselwählerströmen sollte nicht der Leitstern der Kursbestimmung der neuen Bundestagsfraktion der Linken sein. Vielleicht wäre es möglich, die Projekte der Regierung nach der Wirkungsrichtung zu beurteilen, zu kritisieren und zu bekämpfen, was in die Entsolidarisierung im Lande, in Europa und in der Welt führt, andererseits im Verein mit den vielen Initiativen und Verbänden jene Gesetze und Entscheidungen zu fördern, die Solidarität leichter machen.

Themen gibt es dazu reichlich, höchste Aufmerksamkeit verdient, was der anstehende SPD-Parteitag in dieser Hinsicht auf den Tisch legt. Ein großer Fehler wäre auf jeden Fall, die zähen Verhandlungen als bloßes Schmierentheater abzutun, es geht um strategische Weichenstellungen. Martin Fochler, München; Alfred Küstler, Stuttgart

nach oben

01 Programmatische Erneuerung der SPD – aus dem Leitantrag #SPDerneuern

Bei Redaktionsschluss lag die Fassung vom 27. November vor, in dem noch festgehalten wird, dass eine Regierungsbeteiligung für die SPD nicht in Frage käme; eine Revision dieses Teils des Leitantrags war in Beratung. Dem Antrag kann aber entnommen werden, was die SPD im Falle einer Regierungsbeteiligung als Rahmen abstecken will. Hier Auszüge:

Diese neuen globalen und digitalen Entwicklungen in allen Bereichen bergen die Chance, das Leben der Menschen überall zu verbessern, wenn ihre Potenziale in die richtigen Bahnen gelenkt werden. Die digitale Entwicklung in der globalisierten Wirtschaft entfesselt Kräfte, die Wohlstand und Sicherheit für alle schaffen können, wenn politisch die richtigen Entscheidungen getroffen werden. Aus diesen Megatrends ergeben sich großartige Chancen für eine Wissensgesellschaft, für die Revitalisierung unserer Demokratie und für internationale Kooperation. Das ist das große Versprechen des 21. Jahrhunderts.

Die Aufgabe der Sozialdemokratie in Deutschland, in Europa und in der Welt ist es, für die Erfüllung dieses Versprechens zu streiten. Unsere Aufgabe ist es, den Wandel so zu gestalten, dass technische Entwicklung zu sozialem Fortschritt wird und die Globalisierung zu mehr Demokratie, zu mehr Schutz der Umwelt und der natürlichen Lebensgrundlagen, zur Überwindung von Ungleichheiten, zu mehr Freiheit und Selbstbestimmung in einer offenen und toleranten, den Frieden bewahrenden Welt führt.

(…) Wir müssen gemeinsam sozial- und wirtschaftsverträgliche Pfade beschreiben, die eine Einhaltung der nationalen und europäischen Klimaziele unter Beibehaltung unseres Wohlfahrtsniveaus ermöglichen. (…)

Wer die Errungenschaften, die die soziale Demokratie in der Vergangenheit erstritten hat, auch im 21. Jahrhundert bewahren, verteidigen und erweitern will, muss europäisch und global handeln. (…)

Besonders in den industrialisierten Ländern empfinden Menschen, dass die Nationalstaaten an Grenzen kommen. Gerade Verteilungsgerechtigkeit herzustellen gestaltet sich immer schwieriger, sowohl global, als auch national. Dem muss sich die Sozialdemokratie stellen. Immer mehr Bürgerinnen und Bürger haben das Gefühl, nicht ausreichend als Individuen respektiert zu werden und die Anerkennung für ihre Lebensleistung und ihr tägliches Schaffen zu bekommen. Praktisch gesprochen: Wenn Mieten immer weniger bezahlbar werden, das Gesundheitssystem ungerecht ist und die Lebenschancen ungleich verteilt sind, wird dem Staat und den demokratischen Parteien immer weniger zugetraut, alltägliche Probleme zu lösen. (…)

Der ungebändigte Neoliberalismus hat nicht nur weltweit, sondern auch mitten in Europa zu eklatanten Fehlentwicklungen geführt. Merkmal dieser Ideologie ist die Einschränkung der Staatstätigkeit zugunsten des Marktes. (…) Deshalb muss die SPD den Mut haben, ihre eigene Politik der letzten 20 Jahren zu hinterfragen und darf dabei auch nicht davor zurückschrecken, grundsätzliche Fragen zu stellen, Widersprüche unserer Wirtschaftsordnung zu problematisieren und Antworten darauf zu entwickeln. Die Rolle des Staates im Sinne eines handlungsfähigen Staates muss neu thematisiert werden. Wir wollen einen Staat, der – wenn notwendig – die Wirtschaft reguliert und Märkte gestaltet, Innovationen fördert, öffentliche Sicherheit, öffentliche Güter und Dienstleistungen bereitstellt und verhindert, dass öffentliche Güter einer reinen Marktlogik unterworfen werden (Bildung und Betreuung, Gesundheit, Pflege, Sicherheit, Wohnen). (…)

Unsere Gesellschaft ist in den letzten Jahrzehnten moderner, toleranter und weltoffener geworden. Gleichzeitig ist nicht zu übersehen, dass Teile der Bevölkerung mit dieser gesellschaftlichen Modernisierung hadern oder nichts mit ihr anfangen können. Dies zu thematisieren ist Aufgabe der SPD, die für die gesamte Bevölkerung und nicht nur für die Besten, Smarten und Schnellen Politik macht.

Wenn wir darüber sprechen, was Deutschland stark gemacht hat, dann sprechen wir über das sozialdemokratische Modell der Arbeitsgesellschaft: Eine starke Industrie, gut ausgebildete Fachkräfte, einen leistungsfähigen Sozialstaat, Sozialpartnerschaft, Mitbestimmung und Tarifverträge. Vor allem eine hohe Tarifbindung war über Jahrzehnte Garant dafür, dass der Wohlstand auch bei denjenigen ankam, die ihn durch ihre Arbeitskraft erwirtschaftet haben. (…)

Ein demokratisches und soziales Europa ist unser Beitrag zu einer friedlichen und gerechten Welt, die den Menschen auf unserem Kontinent und weltweit eine gute Zukunftsperspektive gibt. Stattdessen befindet sich die EU aber weiterhin im Krisenmodus. (…)

Zugleich gibt es ermutigende, pro-europäische Impulse, etwa der französischen Regierung und von pro-europäischen Bewegungen wie „Pulse of Europe“, die einen offenen und konstruktiven Partner in der deutschen Politik suchen. Dieser Partner wollen wir sein. (…)

nach oben