Quelle: Politische Berichte Nr. 12, 2017 • Gesamtausgabe: PDF Inhaltsverzeichnis: TXT ⯈ H O M E

Dr. Harald Pätzolt / Dr. Thomas Falkner, 23.11.2017
Vorschlag an Die Linke, sich mit dem Jubiläum zum Ende des Großen Krieges ernsthaft zu befassen

Dok dazu: 1918–2018: Ein Manifest

2018 jährt sich das Ende des Ersten Weltkrieges zum einhundertsten Mal. Anders als in Deutschland, wo schon eine exklusive Sprache vom ersten der zwei Weltkriege, einer Zwischenkriegszeit usw. das Ereignis geschichtspolitisch auf den Stand, den es im kollektiven Gedächtnis und in der deutschen Erinnerungskultur seit Jahrzehnten hat, herabstuft, wird das Ereignis in unseren Nachbarländern, aber auch weltweit, in Asien, in Lateinamerika, in Russland und den USA und auch im Mittleren und Nahen Osten das Jahr über eine bedeutende Rolle spielen.

Die Nachkriegsordnung Europas sowie anderer Teile der Welt wurde durch den Ausgang des „Großen Krieges“ in hohem Maße geprägt. Mit Staatsgründungen und der Rückerlangung eigener Staatlichkeit, Polen sei erinnert, begann eine, leider kurze, Phase nationaler Selbstbestimmung und Demokratie. Fragen des politischen und kulturellen Selbstverständnisses, der nationalen Identität, werden von daher im kommenden Jahr in vielen Ländern ebenso hohe öffentliche Aufmerksamkeit finden wie die Reflexionen der Entwicklungen im Verhältnis der europäischen Staaten, damals im Krieg befindlich, seitdem und aktuell.

Während in Nachbarländern die Sache groß vorbereitet wird, in Frankreich etwa mit mehr als erheblichen Ressourcen staatlich hoch angebunden, dürfen wir von und in Deutschland, nach der Erfahrung von 2014, damit rechnen, leider, dass die politischen Eliten und Institutionen erneut von den Herausforderungen und Beanspruchungen, die das Gedenken um unser Land herum mit sich bringen werden, überrascht sein werden.

Das ist nicht gut, aber es birgt für Linke, auch für Die Linke, erhebliche Chancen, in diesem europäischen Geschehen Verantwortung zu übernehmen und Beachtung zu finden.

Im Folgenden möchten wir dazu einige Stichworte liefern.

● Die deutsche Erinnerung umschließt durchaus ein Verdrängen der Niederlage; es prägen verschiedene Verratsnarrative den Diskurs noch immer. Die Dolchstoßlegende ist in der extremen Rechten so lebendig wie auf Seiten der seitdem gespaltenen Linken die Rede vom Verrat der Sozialdemokratie. Andererseits ist die Christopher-Clark-Debatte von 2014 (“Die Schlafwandler“) bei weitem noch nicht in der Linken angekommen. Dass es nicht um eine Relativierung der deutschen Kriegsschuld von 1914, sondern um die Warnung davor ging, wie leicht überforderte und rückwärtsgewandt strukturierte Eliten auf allen Seiten (einschließlich der eines großen Teils der sozialdemokratischen) eine Zivilisationskatastrophe gewaltigen Ausmaßes auslösen können, wurde in linken Diskursen weithin übergangen. Dabei ist dieser Ansatz auch für die Debatte über den Kriegsausgang und seine Folgen essentiell.

● Die Diskussion um die die deutsche Revolution vom 9. November 1918 wäre auch für die deutsche Linke dringend wieder auf zu nehmen, über die Weimarer Verfassung hat Die Linke in den letzten Jahren einiges veranstaltet, in die Breite der Partei und in die Öffentlichkeit ist davon zu wenig gekommen. Fragen des Verhältnisses von Rätedemokratie und parlamentarischer Demokratie wären wieder neu aufzunehmen – ebenso wie Krieg und Revolution, Linke und ihr Verhältnis zu Gewalt und Staatsmacht, Politik und Ökonomie. Sowohl für „Reformisten“ wie „Revolutionäre“ war die Gestaltung der Nachkriegsgesellschaften und der internationalen Nachkriegsordnung eine erste umfassende Realitätsprobe auf die Tauglichkeit ihrer Konzepte und ihrer politischen Praxis.

● Eine solche Diskussion um die beiden erstgenannten Punkte hätte nicht nur eine grundsätzliche, sondern auch eine aktuelle strategische Dimension: Wie aktuell die Notwendigkeit ist, das einhundertjährige Schisma der Linken zu überwinden, wollen wir dem gesellschaftspolitischen Mainstream der Mitte-Parteien etwas entgegensetzen, dürfte evident sein.

● Die Befassung mit dem Versailler Vertrag dürfte weitere große Fragen aufwerfen, um die wir uns parteiintern wenig Gedanken machen: Wie schließt man Frieden? Und, mit Blick auf den sogen. Kleinen Versailler Vertrag: Wie sichert man Minderheitenrechte im Rahmen internationaler Verträge?

● Zu reden wäre, immer auch mit den Protagonisten in unserer Nachbarschaft, darüber, wie Staatenbildung sich damals vollzogen hat und wie sie sich heute vollzieht, vollziehen könnte, sollte.

● Die Tatsache, dass die damaligen Staatsgründungen, vor allem aber die Wiedererlangung der Staatlichkeit Polens eng verbunden waren mit und fundiert waren durch nationalstaatliche Streitkräfte, die sogleich in Folgekriege verwickelt waren, prägt in den osteuropäischen Staaten deren Selbstverständnis; politische Einstellungen zur Verteidigungsfrage Europas haben hier ihre Wurzeln. Gute Nachbarschaft setzt die Akzeptanz unterschiedlicher Perspektiven voraus.

● Im Zustandekommen der internationalen Staatenordnung nach dem Ersten Weltkrieg – der Art und Weise wie dem Ergebnis nach – liegt in vielerlei Hinsicht der Schlüssel zum Verständnis heutiger Probleme, die auch in der Linken zu heftigen, polarisierten Diskussionen führen. Das betrifft etwa den nahöstlichen Raum und insbesondere den Komplex Balfour-Deklaration.

● Es hängt auch eine lange, neu und breit zu besprechende Geschichte der kolonialen Befreiungsbewegungen, China, Vietnam als Beispiele, folgenreicher Entscheidungen in der arabischen Welt mit dem Ende und den Verhandlungen danach zusammen.

● Auch zum Verständnis der transatlantischen Beziehungen Deutschlands, der Politik Stresemanns zur Stabilisierung bis 1928, könnten und sollten Linke sich neu austauschen und den Dialog mit den Nachbarn, der eigenen Öffentlichkeit sowieso, suchen.

● Das schwierige Unternehmen EU – wie wird Deutschland und wie die deutsche und europäische Linke auf die Feiern der Unabhängigkeit mancher Staaten reagieren? Werden wir einen Gesprächsfaden zu unseren Nachbarn, Linke und darüber hinaus, in dieser Sache aufnehmen?

Wie man sehen kann gibt es mehr als nur schmale Pfadabhängigkeiten heutiger deutscher und europäischer, besonders auch nachbarschaftlicher Probleme. Und mehr als nur einzelne Themen einer politischen Agenda, wie sie die Linken in Europa, die Linke in Deutschland heute entwickeln und verfolgen müssten, um an einem politischen Wechsel teilhaben zu können, werden im kommenden Jubiläumsjahr des Endes des Großen Krieges aufgerufen werden.

Ein erster Schritt, wollen wir es nicht bei der einen oder anderen Veranstaltung der RLS belassen, wäre die Unterschrift von Politikerinnen und Politikern der Linken unter das Papier „1918 – 2018. Ein Manifest“: 1918-2018.org/ein-manifest/

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1918–2018: Ein Manifest

Es sollte der Krieg sein, der alle Kriege beendet. Als vor fast einhundert Jahren, am 11. November 1918, der Erste Weltkrieg an der Westfront endete, schien eine neue Epoche der Geschichte anzubrechen, geprägt von Frieden, Demokratie und Menschenrechten, von nationaler Selbstbestimmung und internationaler Verständigung. Das Frauenwahlrecht begann seinen Siegeszug. Der Völkerbund sollte internationales Recht durchsetzen. Und bei vielen Menschen außerhalb Europas weckte das Versprechen von Selbstbestimmung auch Hoffnung auf das Ende des Kolonialismus. Doch alle Seiten, Sieger und Besiegte, neue und alte Nationalstaaten, verspielten diese Chance zu einer dauerhaften Friedensordnung – in Europa und der ganzen Welt. Zwei Jahrzehnte danach begann mit dem deutschen Überfall auf Polen der nächste Großkonflikt mit noch schlimmeren Verheerungen, höheren Opferzahlen und unvorstellbaren Verbrechen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg gewann Westeuropa im transatlantischen Bündnis Zeit für eine stabile und friedliche Entwicklung und schuf mit der Europäischen Einigung ein Projekt des Friedens und des Wohlstandes, das aus den Schrecken der jüngsten Vergangenheit Lehren zog. Doch heute, fast 30 Jahre nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Diktaturen und der Vereinigung des Kontinents, sind Demokratie, europäische Integration und auch der Frieden wieder in Gefahr. Etliche der gegenwärtigen Spannungen und Krisen erinnern an jene Schwierigkeiten, die durch die nach 1918 geschlossenen Friedensverträge gelöst werden sollten. Was damals ungelöst geblieben ist, erfährt heute erschreckende Aktualität. Lag der schweizerische Historiker und Diplomat Paul Widmer doch richtig, als er 1993 formulierte, Europa habe zwar die Folgen des Zweiten Weltkriegs leidlich bewältigt, laboriere aber weiter an denen des Ersten?

Das Russland Putins tut sich schwer, die Unabhängigkeit der Ukraine, die vor einhundert Jahren zum ersten Mal ausgerufen wurde, zu akzeptieren, und erst recht ihren Weg nach Westen. Ähnliches gilt für Georgien und die baltischen Staaten, die ebenfalls nach dem Ersten Weltkrieg erstmals eigenständig wurden. Die Staatenordnung, die nach 1918 im Nahen und Mittleren Osten entstand, hat sich nicht als haltbar erwiesen. Die Türkei leidet heute mehr denn je unter dem Phantomschmerz, die Bedeutung des Osmanischen Reiches verloren zu haben. Heute lebt die Menschheit erneut in einer multipolaren, instabilen und krisenhaften Welt – ähnlich wie nach 1918.

Im kommenden Jahr werden all diese Fragen zusätzliche Aktualität bekommen. Viele Länder Europas werden das Centennium ihrer staatlichen Unabhängigkeit oder ihres Sieges feiern. Andere werden eher an Niederlagen und deren Folgen erinnern. In West und Ost haben populistische Bewegungen, die parlamentarischer Demokratie und europäischer Integration skeptisch gegenüberstehen, an Zulauf gewonnen. Es droht eine neue Welle des Nationalismus. Wird es gelingen, dem Gedenken an das Ende des Ersten Weltkrieges dennoch eine – erneuerte – europäische Perspektive zu geben?

Es geht um mehr, als allein an die Opfer eines schrecklichen Krieges und an seine Folgen zu erinnern. Zu würdigen sind die Bedeutung des Friedens für Europa und die Welt, die Ideen eines universalen Völkerrechts und der rechtsstaatlichen Demokratie. Der erste Anlauf, diesen Werten nach 1918 weltweit Gestalt zu geben, scheiterte. Mit der Gründung der Vereinten Nationen und der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wurde nach 1945 ein zweiter Versuch unternommen. In Europa kam dies aber zunächst nur der westlichen Hälfte zugute. Nach dem Ende des Kalten Krieges schienen sich diese fundamentalen Werte endgültig durchzusetzen. Doch heute stehen sie unübersehbar und fast überall wieder unter Druck. Die einhundertste Wiederkehr des Kriegsendes und des Bemühens nach 1918, eine umfassende Friedensordnung herzustellen, ist der geeignete Zeitpunkt, über Grenzen hinweg ein deutliches Zeichen zu setzen für Menschenrechte und Meinungsfreiheit, für Rechtstaatlichkeit und Einhaltung des Völkerrechts.

Dazu wollen wir aufrufen!

Initiatoren: Markus Meckel, Politiker, Berlin; Etienne Francois, Historiker, Berlin; Bettina Greiner, Historikerin, Berlin; Oliver Janz, Historiker, Berlin; Sven-Felix Kellerhoff, Publizist, Berlin; Martin Lengemann, Fotograf, Berlin; Gorch Pieken, Historiker, Dresden; Stefan Troebst, Historiker, Leipzig

Stand der Unterstützung: Weit über hundert Leute aus bislang 21 Staaten. http://1918-2018.org/unterschriften/

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