Quelle: Politische Berichte Nr. 12, 2017 • Gesamtausgabe: PDF Inhaltsverzeichnis: TXT ⯈ H O M E

KALENDERBLATT - 26. Februar 1920 - Österreich

01 Österreichs Arbeiterkammer – gegründetin der Ersten Republik

02 Arbeiterkammer und Gewerkschaften

03 Literatur in der Ersten Republik: Ein reichhaltiges Universum- Hugo Bettauer: Die Stadt ohne Juden

01 Österreichs Arbeiterkammer – gegründetin der Ersten Republik

Was sind die Arbeiterkammern? Die Kammer für Arbeiter und Angestellte (AK), ist die gesetzliche Interessenvertretung der ArbeitnehmerInnen in Österreich, gegründet 1920. Ihre heutige rechtliche Grundlage bildet das Arbeiterkammergesetz 1992 (kurz AKG, zu finden im BGBl. I 626/91). Für die meisten Arbeitnehmerinnen besteht eine Pflichtmitgliedschaft in der Kammer. Es gibt ähnliche Interessenvertretungen in den deutschen Bundesländern Bremen (Arbeitnehmerkammer Bremen) und Saarland (Arbeitskammer des Saarlandes) sowie in Luxemburg. Die italienischen Camere del lavoro sind dagegen örtliche Zusammenschlüsse von Gewerkschaften auf freiwilliger Grundlage.

Die Arbeiterkammern sind ins öffentliche Interesse gerückt. Die Gewinner der Nationalratswahl Kurz und Strache sind sich, so scheint es, in ihren Beratungen einig. Sie kündigen an, die Zwangsmit-gliedschaft bei den Kammern soll aufgehoben werden und die Mitgliedsbeiträge gesenkt werden.

Eigentlich könnte Österreich auch als „Kammerstaat“ bezeichnet werden. Der Kammerstaat, die Sozialpartnerschaft – die für die österreichische politische Praxis so spezifische Form der Mitwirkung von gesetzlichen Interessenvertretungen der Arbeitgeber, der Arbeitnehmer und der Landwirtschaft an der staatlichen Willensbildung – war schon zu Haiders Zeiten in den Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzungen gerückt. Natürlich hatte die Partei um Jörg Haider nur die „roten“ Arbeiterkammern im Auge. Die Institution der Arbeiterkammer wurde von der FPÖ aber auch von Teilen der ÖVP heftigst angegriffen. Der Kommunistische Bund Österreichs hat in den 70er Jahren allerdings aus anderen Überlegungen die Auflösung der Arbeiterkammer empfohlen

Kurze Geschichte – Wann wurde die Arbeiterkammer gegründet?

Der Krieg war verloren. Der geplante Anschluss der jungen Republik an das Deutsche Reich (Anschluss) wurde von der Pariser Friedenskommission 1919 untersagt. Am 24. 3. 1919 musste Exkaiser Karl mit seiner Familie Österreich Richtung Madeira verlassen. Die Nationalversammlung beschloss am 3. 4. 1919 die Landesverweisung und Enteignung des Hauses Habsburg-Lothringen (Habsburger-Gesetz) und die Abschaffung des Adels. Die Monarchie war zerstört, der Adel abgeschafft, die Arbeiterklasse im Aufbruch. Revolution in Russland, Räterepublik in Ungarn und Bayern. Die Führer der österreichischen Sozialdemokraten lehnten den direkten Kampf um die Macht ab (siehe Lenins Brief an die österreichischen Kommunisten). Widerstand im bürgerlichen Lager gegen die Forderungen der Arbeiterschaft. Trotzdem. Es ist in erster Linie den Rahmenbedingungen des politischen und sozialen Umbruchs 1918–1920 zu verdanken, dass es Ferdinand Hanusch in einer Reihe von sozialpolitischen Pioniertaten gelang, am 26. Februar 1920 das Gesetz über die Errichtung von Arbeiterkammern im Parlament einstimmig durchzubringen. Ferdinand Hanusch (1866–1923), war eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der Sozialpolitik in der Ersten Republik, der von 1918 bis 1920 das Staatsamt für soziale Verwaltung leitete. In dieser Zeit war die sozialdemokratische Partei, der Hanusch angehörte, in der Regierung.

Unter Staatssekretär Hanusch entstanden so wesentliche soziale Regelungen wie die Einführung der Arbeitslosenunterstützung, die Regelung der Sonn- und Feiertagsruhe, das Gesetz über die Kinderarbeit, das Verbot der Nachtarbeit für Frauen und Jugendliche sowie schließlich das Betriebsrätegesetz, das Arbeiterurlaubsgesetz, das Achtstundentagsgesetz, das Kollektivvertragsgesetz sowie das Arbeiterkammern- und das Arbeitslosenversicherungsgesetz.

Hanusch hat mit diesen Gesetzen wesentliche Fundamente der modernen Sozialpolitik und der Sozialpartnerschaft in Österreich gelegt. Diese sozialen Errungenschaften, so selbstverständlich sie uns heute scheinen, wurden bekämpft. Während sich die wirtschaftliche und kulturelle Lage der Ersten Republik allmählich konsolidierte, verschärften sich die Gegensätze zwischen der bürgerlichen und der sozialistischen Seite von Jahr zu Jahr. Beide großen Parteien gründeten bewaffnete Wehrverbände, die Frontkämpferorganisationen entstanden ab 1920 und die Heimwehren 1921–23, der Republikanische Schutzbund 1923. Das Linzer Programm der SPÖ, die Entwicklung des Austromarxismus, die Verstärkung der Heimwehrbewegung und des Austrofaschismus kennzeichneten die Lage. Der Freispruch von Arbeitermördern im Schattendorfer Prozess waren Anlass die Wiener Julirevolte, der Justizpalastbrand ging 1927 in Flammen auf. 1933 wurde die KPÖ, 1934 die SPÖ verboten. Der weitere Lauf der Tragödie ist bekannt.

Die sozialen Errungenschaften der ersten Republik waren für das Selbstverständnis der Arbeiterbewegung von entscheidender Bedeutung und haben überdies ganz wesentlich zur Erhaltung des sozialen Friedens und zum gelungenen Aufbau der demokratischen Republik nach dem Ersten Weltkrieg beigetragen.

Es war ein langer, steiniger Weg vom ersten klar umrissenen Konzept für eine Arbeiterkammerorganisation, einem Memorandum aus dem Jahre 1872, dessen Inhalt von einer Volksversammlung der Wiener Arbeiter beschlossen und an Reichsrat und Regierung übermittelt wurde. Es war die Forderung nach Einrichtungen, „die sämtliche Arbeiterangelegenheiten, Wünsche und Vorschläge in Beratung zu nehmen hätten“.

Die Arbeiterkammern heute

Ergänzend zu den nebenstehenden Ausführungen einige Anmerkungen:

Die AK finanziert sich aus einer Umlage von 0,5 Prozent des Bruttogehalts aller Beschäftigten, die automatisch, als Teil des Sozialversicherungsbeitrages, vom Lohn abgezogen und den Arbeiterkammern zugeleitet wird. Das sind im Schnitt 7 Euro und maximal 14,50 Euro. Beamte sind nicht Mitglieder der AK.

In jedem der neun Bundesländer gibt es eine eigene Arbeiterkammer, die zusammen die Bundesarbeitskammer (BAK) mit Sitz in Wien bilden.

Öffentliche Aufmerksamkeit (Publikumswirksame TV Auftritte) erhält die Arbeiterkammer bei Fragen des Mietrechts und beim Konsumentenschutz .

Augustin Kargl, Steiermark

Literatur: Heidemarie Uhl, Geschichte der steirischen Kammer für Arbeiter und Angestellte in der Ersten Republik, Europaverlag, Wien 1991

Abb.: Denkmal (in der Nähe des Parlaments in Wien) mit der Inschrift: „Der Erinnerung an die Errichtung der Republik am 12. November 1918“. Die Büsten stellen Jakob Reumann, Victor Adler und Ferdinand Hanusch dar. (Foto: privat)

Abb.: Karl-Marx-Hof in Wien, ein Beispiel für den sozialdemokratischen Wohnungsbau in der Ersten Republik. (Foto aus einer Ausstellungsinfo übers Rote Wien; privat)

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02 Arbeiterkammer und Gewerkschaften

Die Arbeiterkammern sind in Österreich nicht die einzige Interessenvertretung der Beschäftigten, wie anderorts auch gibt es dort Gewerkschaften, die im Gegensatz zu den Arbeiterkammern auf freiwilliger Mitgliedschaft begründet sind. Um das Konzept der Arbeiterkammern besser zu verstehen, soll an dieser Stelle kurz erläutert werden, wie sich deren Kompetenzen und Aufgaben von den gewerkschaftlichen Tätigkeitsfeldern unterscheiden, bzw. überschneiden oder ergänzen. Grundsätzlich sind die Aufgaben der Arbeiterkammern gesetzlich festgelegt, wohingegen die Gewerkschaften als Vereine ihre Ziele selbst festlegen können. Dabei gibt es einige Überlappungen: sowohl Arbeiterkammern als auch Gewerkschaften vertreten beispielsweise die Interessen der Beschäftigten im Betrieb und gegenüber der Politik, dazu gehört auch Rechtsberatung und Rechtsbeistand bei Konfliktfällen im Betrieb. Des weiteren unterstützen beide die betriebliche Vertretung der Beschäftigten durch Information, Beratung und anderweitige Hilfestellung.

Die Arbeiterkammern nutzen außerdem ihre fachliche Kompetenz für Stellungnahmen im Gesetzgebungsprozess. Generell profitieren die Gewerkschaften von der Expertise der Arbeiterkammern, die manchmal auch als „Think Tank“ der Gewerkschaften verstanden werden. Es sollte deshalb keine Überraschung sein, dass die Arbeiterkammern oft eng mit Gewerkschaften zusammenarbeiten.

Doppelt gemoppelt? Bedeutet das Bestehen von Arbeiterkammern, dass die Gewerkschaften in Österreich überflüssig sind? Dagegen spräche der relativ hohe gewerkschaftliche Organisationsgrad von 27-28% (In der BRD liegt er bei 18%). Außerdem liegen bestimmte Kernaufgaben der Gewerkschaften außerhalb des Mandats der Arbeiterkammern, beispielsweise die Arbeit im Betrieb und die wohl wichtigste Funktion einer Gewerkschaft: Tarifverhandlungen mit den ArbeitgeberInnen. Sie stehen deshalb nicht in Konkurrenz zueinander, sondern ergänzen sich, um die Interessen der Beschäftigten zu wahren. Es sind einfach zwei verschiedene Funktionen, die die beiden Organisationen im gesellschaftlichen Getriebe ausfüllen. Stephen Schindler, Brüssel

Quellen: Was sind Gewerkschaften? Struktur und Aufbau der österreichischen Gewerkschaftsbewegung. Von Prof. Kurt Prokop. Überarbeitet und aktualisiert von Wolfgang Greif. 2002. http://de.worker-participation.eu/Nationale-Arbeitsbeziehungen. European Trade Union Istitute.

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03 Literatur in der Ersten Republik: Ein reichhaltiges Universum – Hugo Bettauer: Die Stadt ohne Juden

A m 12. November 1918 wurde die Republik „Deutschösterreich“ ausgerufen, die Habsburger Monarchie hatte den Verzicht „auf jeden Anteil an den Staatsgeschäften“ erklärt. Literatur, Kunst, Theater entfalteten eine unglaubliche Vielzahl und Vielfalt an lange unter der Decke gehaltenen Kreativität. Hugo Bettauer (geb. 1872, ermordet 1925), ein Jugendfreund und Mitschüler von Karl Kraus, geboren als jüdischer Sohn eines Börsenmakler, konvertiert zum evangelischen Glauben, war viel in der Welt herumgekommen und arbeitete nach 1918 als Korrespondent für New Yorker Zeitungen. 1922 veröffentlichte er den Roman „Die Stadt ohne Juden“ mit dem Untertitel „Ein Roman von übermorgen“. Heute gelesen, stockt einem der Atem, weil er eine in der Tat harmlose Version der Judenverfolgung vorwegnimmt, Bettauer wollte mit dem Mittel der satirischen Übertreibung dem Antisemitismus entgegentreten. Unter dem Ruf „Hinaus mit den Juden“ wird der fiktive Bundeskanzlers Doktor Karl Schwertfeger das Gesetz zur Ausweisung aller Nichtarier („Juden und Judenstämmige“) aus Österreich eingehend begründen. „Ja, meine Damen und Herren, ich bin ein Schätzer der Juden, ich habe, als ich noch nicht den heißen Boden der Politik betreten, jüdische Freunde gehabt, ich saß einst in den Hörsälen unserer Alma mater zu Füßen jüdischer Lehrer, die ich verehrte und noch immer verehre, ich bin jederzeit bereit, die autochthonen jüdischen Tugenden, ihre außerordentliche Intelligenz, ihr Streben nach aufwärts, ihren vorbildlichen Familiensinn, ihre Internationalität, ihre Fähigkeit, sich jedem Milieu anzupassen, anzuerkennen, ja zu bewundern!“ Diese Einleitung stellt die zynische und beleidigte Antwort auf öffentliche Angriffe der „liberalen Blätter wie die sozialdemokratischen, mit einem Wort alle von Juden geschriebenen Zeitungen“ dar und regelt verwaltungstechnisch die Durchführung der Judenausweisung. Bettauer lässt dann aus den verschiedensten Milieus die Wirkung eines solchen Gesetzes fassbar werden. Nicht nur private Traumata (z.B. Schwiegersohn ist jüdisch, Tochter und Kind gehen mit ihm weg und die Eltern werden einsam), geschäftliche Einbußen (am Beispiel der „Mädchen aus der Gumpendorfstraße“), sondern vor allem die Gesamtveränderung der Stadt Wien werden beschrieben. Die Stadt wird arm ohne die Juden, Theater und Kaffeehäuser verwaisen, alles geht den Bach runter. Wie die Nationalsozialisten dann in echt die Volksgemeinschaft angefüttert haben und Prunk und Protz und Pathos zum Schüren des Übermenschengefühls genutzt haben, hat Bettauer nicht vorausgesehen, wie auch den undenkbaren Massenmord des Holocaust. Bettauer endet seinen Roman mit dem Einsehen der Regierung, dass die Stadt die Juden braucht und sie daher nach einer Regierungskrise das Gesetz zurücknimmt und die Juden wieder willkommen heißt. Für dieses satirische Buch über den primitiven Antisemitismus hat Bettauer mit dem Leben bezahlt: ein Nazi hat ihn 1925 in seiner Redaktion niedergeschossen. Eva Detscher, Karlsruhe

Anmerkungen: Alle Zitate aus dem iBook „Die Stadt ohne Juden“. – Der Roman wurde 1924 verfilmt, der Film dann verboten. – Bettauer war u.a. in Berlin und hat dort einige Skandale aufgedeckt (1921 erschien z.B. das Buch „Bobbie“, in dem er einen reichen und mächtigen Kindesentführer beschrieb). – In München arbeitete er im Kabarett „Die Elf Scharfrichter“. – Bettauer hat sich u.a für ein modernes Scheidungsrecht, Recht auf Schwangerschaftsabbruch und Straffreiheit für Homosexualität unter Erwachsenen eingesetzt. – Bücher von ihm gibt es unter http://gutenberg.spiegel.de. – Lesenswert auch der Wikipediaeintrag über Hugo Bettauer.

Abb.: Buchcover