Aus Politische Berichte Nr. 2/2018, S. 20 • InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

Lektürebericht: Herfried Münkler, Der Große Krieg – Die Welt 1914 bis 1918

Alfred Küstler, Stuttgart

Das über 900seitige Buch erschien zum hundertsten Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs, ist aber auch zum hundertjährigen Ende, an das in diesem Jahr erinnert wird, hochaktuell und eine lohnende Lektüre. Vor vier Jahren hatte der australisch-britische Historiker Christopher Clark noch einmal die Frage aufgeworfen, wer hat Schuld am Krieg – Clark vertritt, wie der Titel seines Buches „Die Schlafwandler“ andeutet, die These, dass alle europäischen Mächte irgendwie verantwortlich waren. Dagegen geht es dem Politikwissenschaftler Münkler nur am Rande um dieses Thema. Ihn interessieren vielmehr die ideologischen, religiösen und kulturellen Hintergründe, die zur „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts führten, welche politischen und militärischen Entscheidungen dazu führten, dass dieser Große Krieg (wie ihn die anderen europäischen Länder bezeichnen) erst im November 1918 mit siebzehn Millionen Toten und mit drei zerschlagenen Imperien (Russland, Österreich-Ungarn und Osmanisches Reich) endete. Am Ende dieses Ersten Weltkriegs waren die USA zu einer Weltmacht geworden, die Sowjetunion begann den Weg einer sozialistischen Gesellschaft, der deutsche und der italienische Faschismus propagierten die Revanche, die schließlich in einen Zweiten Weltkrieg führte. Münkler will zu „Lehren aus der Geschichte“ anregen, nicht in platten Analogien, sondern indem er einerseits auf ungelöste Fragen hinweist, die nach wie vor existieren (gescheiterte Nationalstaatenbildungen auf dem Balkan und im Nahen Osten). Andererseits will er auf die Folgen politischer Entscheidungen hinweisen: der Erste Weltkrieg war nicht „unvermeidlich“.

„Lange und kurze Wege in den Krieg“

Münkler wählt eine Darstellung, die weitgehend dem zeitlichen Verlauf des Kriegs folgt. Zur Kriegsursachenforschung meint Münkler, dass es sowohl „kurze“ als auch „lange“ Weg gab und dass es verkehrt wäre die Kriegsursachendebatte als Kriegsschulddebatte zu führen. Der „kurze“ Weg war das Attentat in Sarajewo und das Versagen der beteiligten Politiker, diesen regionalen Konflikt einzuhegen. Der „lange“ Weg lässt sich nach Münkler beschreiben als Konkurrenz zwischen einer agonalen und kooperativen Sicht auf die zwischenstaatlichen Beziehungen. Es gab durchaus auch schon vor 1914 Ansätze, dass eine Kooperation zwischen Deutschland als führende Industriemacht und Frankreich als Kapitalexporteur profitabel gewesen wäre. Dem gegenüber stand (nicht nur in Deutschland) die agonale Sicht, es könne nur einen Sieger geben. „Am stärksten waren diejenigen einer agonalen Weltsicht verhaftet, die den damals in Europa als modern angesehenen Theoremen des Sozialdarwinismus anhingen, wonach sich in den menschlichen Gesellschaften die Stärksten und Tüchtigsten durchsetzten, während die Schwachen untergingen und aus der Geschichte ausschieden.“

„Auf der Suche nach der schnellen Entscheidung“

Zum schrecklichen Verlauf des Krieges trug bei, dass sich die Militärführung auf den sogenannten Schlieffenplan festgelegt hatte: Unter Verletzung der Neutralität Belgiens sollte der Einmarsch nach Frankreich über Belgien erfolgen und damit durch ein rasches Umgehen der französischen Befestigungen ein Vorstoß Richtung Paris eine Kapitulation erzwingen. Danach sollte dann im Osten das russische Zarenreich besiegt werden. Diese vielleicht militärisch sinnvolle Überlegung, wie das Problem des Zweifrontenkriegs zu bewältigen ist, hatte politisch katastrophale Folgen. Es verbaute einer getrennten Behandlung der Konflikte mit Russland und Frankreich den Weg. Das brutale völkerrechtswidrige Vorgehen in Belgien bestätigte den Vorwurf der Barbarei auf Seiten der Gegner.

Und militärisch ging die Rechnung auch nicht auf. Münkler beschreibt als Problem des deutschen Vormarschs, „was Clausewitz ‚die abnehmende Kraft des Angriffs‘ genannt hatte“. Die französische Armee machte Rückzugsbewegungen und verlängerte dadurch immer mehr die Wege der Deutschen von den Verladebahnhöfen zur Front, die damals noch weitgehend mit Pferdegespannen bewältigt werden mussten. Schließlich steckte im November 1914 der Vormarsch fest, der Schlieffenplan war gescheitert.

„Der Sinn und die Ziele des Krieges“

Nach Münkler hatten das Deutsche Reich ein Problem: „Eigentlich gab es für sie keinen zwingenden Grund, einen Krieg gegen halb Europa zu führen, und auch keine überzeugenden Ziele, für die es sich zu kämpfen lohnte.“ Daher: „Sie (die Deutschen) mussten nach einem Sinn des Krieges suchen und Kriegsziele finden oder erfinden. Die Sinnsuche trieb vor allem Theologen und Philosophen sowie Geisteswissenschaftler im weiteren Sinne um.“ Mit tragischen Konsequenzen, der Krieg wurde zum Selbstzweck: „Wer allerdings in dieser Weise vom Sinn des Krieges an sich überzeugt war, hielt nicht nach politischen Kompromissen Ausschau, um ihn zu beenden. Da gab es nichts zu verhandeln, stattdessen ging es um die Verwirklichung eines höheren Plans, das Werk Gottes, die Verteidigung der Kultur oder die Rettung des Menschengeschlechts.“

Interessant auch der Verweis Münklers auf den „Antikapitalismus der deutschen Helden“. Er zitiert Max Scheler: „Jeder Krieg gegen England als gegen das Mutterland des modernen Hochkapitalismus ist auch Krieg gegen den Kapitalismus und seine Auswüchse überhaupt“. Oder Werner Sombart, der dem englischen Händlertypen den deutschen Helden gegenüberstellte. Münkler fasst zusammen: „Diese Gemeinschaftsvorstellung verband sich mit dem Sozialismusbegriff, den sie aus dem marxistischen Kontext des Internationalismus löste und zum nationalen Projekt machte.“

Vom „festgefahrenen“ bis zum „erschöpften Krieg“

Die folgenden Kapitel seien nur ganz kurz zusammengefasst: Warum scheiterte die politische Lösung. Der Krieg im Osten und an den Dardanellen. Der Gaskrieg. Neue Technik: Flugzeuge, Panzer. Ausführlich die Flottenpolitik und der U-Boot-Krieg, der schließlich den Kriegseintritt der USA provozierte. Politik der „revolutionären Infektion“ (Lenin im plombierten Eisenbahnwagen, aber auch Schüren des arabischen Nationalismus).

Interessant auch der Hinweis, dass durch die Politik der Kriegsanleihen ein direkt materielles Interesse der bürgerlichen Schichten in Deutschland an einem „Siegfrieden“ entstand. Schließlich die Hungerrevolten und die Revolutionsunruhen, die dann am 11. November 1918 für das Deutsche Reich zum Ende des Weltkriegs führten.

„Der Erste Weltkrieg als politische Herausforderung“

Münkler ist ein entschiedener Befürworter der EU als „einem für den europäischen Frieden unverzichtbaren Projekt“. Er sieht die EU in Südosteuropa als „benevolentes Imperium, das in seine Peripherie investiert, um sie politisch zu stabilisieren“. Er meint die Donaumonarchie hätte „überleben können, wenn sie 1914 ihre Rettung nicht im Krieg, sondern in politischen Reformen gesucht hätte, durch die den Nationen und Ethnien des Reiches ein höheres Maß an politischer Autonomie bei wirtschaftliche Integration in den Gesamtraum … gewährt worden wäre. Das Habsburgerreich wäre dann zum Vorläufer eine mittel- und südeuropäischen EU geworden.“

Im Schlusskapitel geht Münkler auch noch einmal auf die sogenannte Fischer-Kontroverse ein (zur Erinnerung: Der Historiker Fritz Fischer hat in den 60er Jahren mit seiner Schrift „Der Griff nach der Weltmacht“ darauf hingewiesen, dass die herrschende Klasse im Deutschen Reich zielstrebig auf den Weltkrieg hinarbeitete). Die Thesen Fischers hätten für die Bundesrepublik Deutschland eine wichtige Funktion gehabt: Die Verkleinerung Deutschlands, die politische Teilung seien zu akzeptieren, weil „seine Nachbarn nie wieder einen so gefährlichen Akteur in ihrer Mitte dulden würden“. Auf längere Sicht hätten aber Fischers Thesen „wie ein politischer Tranquilizer gewirkt, der gegenüber den fortbestehenden Konfliktfeldern in Europa unaufmerksam und schläfrig gemacht hat: Solange es in Europa keine Regime wie das Wilhelms oder Hitlers gab, musste man mit keinem weiteren Krieg rechnen. Die jugoslawischen Zerfallskriege haben das als irrig erwiesen.“

Herfried Münkler, Der Große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918.

Dezember 2013, Rowohlt Berlin, 16,99 € als Taschenbuch oder 14,99 € als Ebook.

Weitere Publikationen von Herfried Münkler, die in diesem Zusammenhang interessant sind: Imperien, Die Logik der Weltherrschaft vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten (2005); Kriegssplitter, Die Evolution der Gewalt im 20. und 21. Jahrhundert (2015). Herfried Münkler, geboren 1951, ist Professor für Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität und Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.Abb. (nur im PDF):