Aus Politische Berichte Nr. 3/2018, S. 06 • InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

„Italien ist immer ein politisches Labor gewesen“

Interview mit Paola Giaculli, Referentin für Europakoordination, Fraktion Die Linke im Bundestag

Am 4. März haben 73 % der über 46 Millionen Wahlberechtigten in Italien ein neues Parlament gewählt. Die Ergebnisse werden allgemein als Rechtsruck der italienischen Legislative gewertet. Eine Mehrheit hat für das Rechtsbündnis gestimmt. Wem der Staatspräsident Mattarella den Auftrag zur Regierungsbildung erteilen wird, ist im Moment noch nicht entschieden. Sicher ist, dass das bisher regierende Mitte-Links-Bündnis unter dem Partito Democratico mit Paolo Gentiloni als Ministerpräsident bitter abgestraft wurde für die Politik, die aber – folgt man der Wirtschaftsberichterstattung – gerade in den letzten Monaten zu einer Erholung der Wirtschaftslage beigetragen hat. Was sind Deiner Meinung nach die Gründe für den Wahlerfolg dieses Rechtsbündnisses?

Eigentliche Gewinnerinnen der Wahlen sind sowohl die 5-Sterne-Bewegung (M5S), die mit über 32 Prozent wieder stärkste Kraft im Lande wird, als auch die Lega, die als Teil des Rechtsbündnisses die Forza Italia von Berlusconi mit 17,4 % überholt. 5-Sterne punktet überwiegend dort, wo es den Menschen am schlechtesten geht, im Süden. Insbesondere erreicht die Arbeitslosigkeit bei der Jugend hier bis zu 60 Prozent. In Sizilien gewinnt sie alle Direktmandate und erlangt über 48 Prozent. Hier wie in Kalabrien wurden Kandidat*innen aufgestellt, die wegen ihres Kampfes gegen die Mafia unter Polizeischutz stehen. Die Forderung nach einem Bürgereinkommen von 780 Euro hat eine große Rolle gespielt. Beamte und Lehrer*innen machen den größten Anteil der M5S-Wähler*innen aus. (42 Prozent). Laut Umfrage liegt es an der sehr umstrittenen Reform des öffentlichen Dienstes der Regierung Renzi. Das krachende Scheitern beim Verfassungsreferendum war ein lautes Warnsignal, das besonders aus dem Süden kam und kaum jemand in der PD beachten wollte. Im Norden haben eher Selbstständige und Unternehmer die Lega gewählt, Arbeiter 23,8 %, aber weniger Arbeitslose mit 18,2%, unerwartet viele Hausfrauen mit fast 20 %. Steuersenkungen und Migrationspolitik spielten eine große Rolle. Auch die Regierung Gentiloni hat einen harten „Law-and-Order“-Kurs eingeschlagen, der Innenminister Minniti konnte sich nicht in den Marchen (Region Macerata) durchsetzen, er wurde vom 5-Sterne-Kandidat geschlagen. Übrigens waren laut einer Umfrage (Eurispes 2018) Mafia, Korruption und „inkompetente Politiker“ eine viel größere Gefahr als die Migration. Die wirtschaftliche Erholung liegt eher an der EZB-Währungspolitik und hat nur befristete, gelegentliche Jobs geschafft.

Die Wahlergebnis-Landkarte Italiens zeigt, dass die 5-Sterne-Bewegung im Süden und auf Sardinien mehrheitlich gewählt wurde, der Norden niederschmetternd rechts gewählt hat, für das Linksbündnis waren ein paar wenige Bezirke in der Mitte Italiens übrig. Kannst Du ein paar Gesichtspunkte für die Bedeutung dieser schroffen regionalen Spaltung Italiens für die zukünftige Regierung, für die wirtschaftliche und politische Entwicklung Gesamt-Italiens, aber auch für die Regionen benennen?

Der produktive Teil ist der Norden, aber hier wurde in den letzten Jahrzehnten auch viel kaputt gemacht. Insgesamt verlor Italien in den letzten zehn Jahren ein Viertel seiner Produktivität. Viele Betriebe wurden in Niedriglohnländer verlagert, andere wurden internationalen Großkonzernen verkauft, die auch ihre Produktion ins Ausland aus Profitgründen verlagert haben. Im Süden wurden viele staatliche Betriebe durch die Privatisierung schon in den 1980er Jahren zerlegt. Aber von 2008 bis 2014, egal welche Couleur die Regierungen hatten, sind 32 000 Betriebe und somit 600 000 Arbeitsplätze verloren gegangen. Einige sind über die EU-Fonds über die Runden gekommen, Aber die Fonds wurden immer geringer und/oder gelangten in die falschen Hände. Die Regierungen der letzten Jahrzehnte haben kaum etwas getan, diese sich ständig weiter verschlechternde Situation zu ändern. Übrigens regierten Renzi und Gentiloni mit Mitte-Rechts-Ministern und Verbündeten von Berlusconi.

Das neue Wahlrecht – Rosatellum bis – scheint recht kompliziert mit den Möglichkeiten der Koalitionsbildung, den verschiedenen Prozenthürden und dem Prinzip, dass jeder nur eine Stimme hat und diese entweder einem Kandidaten oder einer der Koalitionslisten gibt. Auch die Aufteilung der Sitze im Parlament erscheint auf den ersten Blick höchst kompliziert. Wie wirkt dieses Wahlrecht, und was spiegelt die jetzt errechnete Zusammensetzung des Unterhauses wider?

Das Ergebnis ist eine Pattsituation. Mit einer zweiten Stimme wäre die Wahl demokratischer gewesen, aber vielleicht wäre der Wahlausgang kaum anders gewesen.

Die Partei, die als Einzelpartei die meisten Stimmen erhalten hat, ist Movimento 5 Stelle – die Fünf-Sterne-Bewegung, die vordem von Beppe Grillo ins Leben gerufen wurde. Der junge Spitzenkandidat, Luigi di Maio, sieht sich schon als Ministerpräsident und will den Staatshaushalt mit ungeheuren Summen für Sozialausgeben belasten. Jetzt ist der italienische Staatshaushalt mit 2300 Milliarden Euro (131 % des BIP) ungeheuerlich verschuldet. Wie soll das funktionieren?

Das fragen sich vor allem Medien und Beobachter zurzeit. Aber die Sozialausgaben wurden in den letzten Jahren immer wieder enorm gekürzt, von allen Regierungen. Für die Menschen, die ums Überleben kämpfen, oder die ca. zehn Millionen, die sich nicht mehr medizinisch behandeln lassen, weil sie es sich nicht mehr leisten können, ist das eine realitätsferne Frage. Steuerhinterziehung, Steuervermeidung, Vermögen aus illegalen Aktivitäten. – Geld ist genug da, aber sehr schlecht verteilt. Übrigens hatte Italien von 1995 bis 2007 schwarze Zahlen im Haushalt, dann fing die Rezession an. Ein schweres Problem sind Zinsen. Italien musste 2016 zum Beispiel 65,8 Milliarden an Zinsen zahlen.

Egal, welche Partei im italienischen Parlament regieren wird, es sind mehrheitlich Gegner der EU. Berlusconi, Salvini, di Maio – alle tun sich leicht, die Schuld für die wirtschaftliche Stagnation in Brüssel und wahlweise Paris oder Berlin zu sehen. Gibt es gegen diese Stimmungsmache eine politische Kraft, die diesem nationalistischem Zurück zum Einzelstaat etwas Wirkungsvolles entgegensetzen kann und begreiflich machen kann, dass die Regelungen der EU-Staaten miteinander und gegenüber den anderen Staaten der Welt Ergebnis ein langen und leidvollen Prozesses sind, an deren Anfang diese Nationalisten wieder zurück wollen?

Ich sehe das sehr differenziert. Das Thema Europa und Nationalstaaten hat im Wahlkampf kaum eine Rolle gespielt. Übrigens hat M5S und auch die Lega zum Euroaustritt ihre Meinung schon geändert. Der Wahlausgang in Italien lässt sich nicht mit anderen Situationen in Europa vergleichen, etwa mit dem Brexit, oder mit dem allgemeinen jetzigen Niedergang der Sozialdemokratie und dem Aufstieg rassistischer rechtsextremer Parteien. Die Lega Nord entstand bereits Ende der 80er Jahre und die ist erst jetzt „national“ geworden. Die KPI, vergleichbar vielleicht mit den sozialdemokratischen Parteien in Nordeuropa, löste sich 1991 auf. Was sich daraus kontinuierlich entwickelte, hat mit dieser noblen Geschichte kaum was zu tun. Man darf nicht vergessen, dass Berlusconi und PD zusammengearbeitet haben, und Mitte-Rechts-Formationen regieren mit der PD seit 2013. Die Lega lag 2013 wegen eines Untreueskandals am Boden. Unter der neuen Führung von Salvini ist es ihr gelungen, sich als Italiens Rechte gegenüber Forza Italia durchzusetzen. Berlusconi hat 41 Prozent an die Lega verloren. Die Wählerschaft hat ein langes Gedächtnis, und ist nicht so opportunistisch wie Juncker, oder die EVP von Weber und Merkel, deren Lieblingsoption eine Regierung mit Berlusconi und Renzi gewesen wäre, um die M5S zu verhindern. Übrigens gehört der Populismus schon längst zur italienischen Politik schlechthin. Die Lega hat damit angefangen, dann kam Berlusconi, Grillo und letztlich Renzi.

Welche industriepolitischen Impulse gingen in den letzten Jahren vom regierenden Mitte-Links-Bündnis aus? Teilst Du die Einschätzung, dass die italienische Wirtschaft auf einem Kurs der Erholung ist und sich für die vielen Problemfelder – Jugendarbeitslosigkeit, Betriebsverlagerungen z.B. – Lösungen andeuten und wie stehen die Gewerkschaften, wenn sie denn einen Einfluss haben, dazu?

Seit Jahren gibt es gar keine Industriepolitik. Den Regierenden ist dies anscheinend egal. Ich bin sehr pessimistisch. Im Norden profitieren die Unternehmen von der jetzigen Entwicklung. Aber die Arbeitslosigkeit wird bestimmt nicht durch befristete Jobs bekämpft. Die statistischen Erfassungskriterien sind übrigens sehr bedenklich: es reicht eine Arbeitsstunde in der Woche, um nicht als erwerbslos erfasst zu werden. Die CGIL, die größte Dachorganisation, steht nächstes Jahr vor einem schwierigen Kongress. Alle Kämpfe gegen die Regierungspolitik wurden verloren, und zum Schluss haben sie im Wahlkampf ein linkes Wahlbündnis (LeU, Freie und Gleiche) unterstützt, das nur 3,4 Prozent erreicht hat.

Die Hilfsbereitschaft vieler Menschen in Italien für Menschen auf der Flucht ist sehr groß. Trotzdem gewinnen Parteien und Bündnisse die Wahlen, die sich überbieten in rassistischen Programmen und Plänen und daher auch solchen Aufgehetzten wie dem Mörder von Macerata als politische Heimat dienen. Was sagt die italienische Verfassung und was sagen die Gerichte zu diesen menschenverachtenden Äußerungen, Zielsetzung und Taten?

Leider nicht viel. Laut Verfassung ist Faschismus eine Straftat. Aber die Politik sollte viel mehr Druck machen. Das Phänomen wird trotz allem vielleicht unterschätzt. Aber die neofaschistischen Gruppierungen haben sehr schlecht abgeschnitten, bekamen nicht mal ein Prozent. Diese Stimmen haben sich auf die Lega konzentriert. Aber das Gros der Zustimmung der Lega kommt wie gesagt aus Forza Italia, die weitere 12 Prozent an die Brüder Italiens verliert. Die Fremdenfeindlichkeit ist parteiübergreifend in der Gesellschaft sehr breit. In der Toskana, eine der wenigsten Regionen, wo die PD noch eine Mehrheit hat, hat sie 9 Prozent an die Lega verloren, die hier 17,6 % erreicht. Diese wurde hier sogar mehrheitlich von Frauen gewählt (23,5 gegen 10,9 Prozent Männer).

Was gibt es zur Situation der Kräfte zu sagen, die sich für linke Ziele einsetzen?

Seit zehn Jahren gibt es keine bedeutenden linken Kräfte in Italien. Die Frage ist, ob das, was aus den verschiedenen Spaltungen entstanden und wieder abgestorben ist, wirklich Lust hat, eine glaubwürdige Kraft zu bilden, und dafür vor Ort in der Gesellschaft zu arbeiten und nicht anlässlich einer Wahl irgendein Bündnis zusammen zu basteln. Im Gegensatz dazu war die 5-Sterne-Bewegung sehr gut in der Lage, verschiedenste gesellschaftliche Kräfte zu vernetzten. Das war das Gegenteil von Antipolitik. Es gibt weder eine Sozialdemokratie noch eine radikale Linke. Die einen haben sich selbst erledigt, die anderen sind nicht in der Lage eine konkrete Alternative zu bieten. Die politische Welt hat sich seit 1989 radikal verändert und entwickelt sich ständig weiter. „Wir sind christdemokratisch, ein bisschen links, ein bisschen Mitte. Wir können uns an alles anpassen“, sagt Grillo. Wir haben wieder eine große Zäsur, und es ist schwer vorhersehbar für Italien, was passieren wird. Aber das 20. Jahrhundert ist endgültig Geschichte. Italien ist immer ein politisches Labor gewesen. Berlusconi kam 22 Jahre vor Trump.

Die Fragen stellte Eva Detscher, Karlsruhe

Abb. (PDF): Stimmergebnis