Aus Politische Berichte Nr. 3/2018, S. 21 • InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

Hamburger Feiertagsdebatte

Christiane Schneider, Hamburg

Im Oktober hatte die CDU in der Bürgerschaft eine Initiative für den Reformationstag als neuen Feiertag für Hamburg ergriffen. Die Linksfraktion griff die Initiative mit einem eigenen Antrag auf, nur schlugen wir statt des 31. Oktober den 8. Mai, den Tag der Befreiung, vor. In den weiteren Diskussionen entstand die Idee zu fraktionsübergreifenden Gruppenanträgen, die Mehrheiten suchen sollten. So etwas hatte es in der Bürgerschaft bis dahin nicht gegeben. Neben den genannten Anträgen standen die Vorschläge des 8. März (Weltfrauentag) sowie des 23. Mai (Tag des Grundgesetzes) zur Debatten. Leider verständigten sich die Regierungschefs von vier norddeutschen Ländern einige Wochen vor der Abstimmung darauf, den lutherischen Reformationstag zum Feiertag in Norddeutschland zu erheben. Das veranlasste 66 Abgeordnete, darunter bekennende Atheistinnen, dem Votum der Obrigkeit zu folgen. Damit war die Entscheidung vorzeitig gefallen. Der 8.-Mai-Antrag erhielt zwei weitere Stimmen von SPD-Abgeordneten.

Nach der Hamburger Entscheidung einigte sich die Berliner rot-rot-grüne Koalition darauf, dass der 8. Mai ab 2020 neuer Feiertag in Berlin sein wird. Dafür gibt es auch Jahrzehnte seit der Befreiung vom Faschismus sehr gute Gründe.

dok: Aus der Rede von Christiane Schneider zur Begründung
des Antrags der Linken

(...) Der 8. Mai 1945, der den Sieg der Anti-Hitler-Koalition über das faschistische Deutschland besiegelte, beendete die furchtbarste Periode in der deutschen Geschichte. Der deutsche Faschismus bedeutet einen ungeheuerlichen Zivilisationsbruch, der in der Shoah, dem Völkermord an den europäischen Jüdinnen und Juden, und im Porajmos, dem Völkermord an den europäischen Sinti und Roma gipfelte.

Es gibt für uns viele Gründe, diesen Tag, den 8. Mai, als Gedenk- und Feiertag zu gestalten. Ich möchte drei herausgreifen.

Für die Verfolgten und die Überlebenden in den KZs und Vernichtungsanstalten, für JüdInnen, Roma, Sinti, Kriegsgefangene, WiderstandskämpferInnen, Deserteure, Homosexuelle, Menschen mit Behinderungen, GewerkschafterInnen, SozialdemokratInnen, KommunistInnen, ChristInnen, sogenannte „Asoziale“ und „Volksschädlinge“, war der 8. Mai 1945 der Tag der Befreiung. Sie entkamen der Vernichtung.

Es ist wahr, dass die große Mehrheit der Deutschen den 8. Mai als Tag der Niederlage empfand. Das hängt ganz maßgeblich damit zusammen, dass die Massenvernichtung und die ungeheuerlichen Kriegsverbrechen nicht nur das Werk einer kleinen Clique mörderischer Verbrecher war. Millionen Menschen, ganz normale Menschen, waren – aus eigenem Antrieb oder gehorsam – beteiligt, ließen sich einspannen.

Rassenwahn und Überzeugung, Verrohung und Mordlust, Konkurrenz und Bereicherung, Autoritätshörigkeit und Gehorsam, Angst vor Vielfalt und Hass auf alles, was man als abweichend empfand – die Motive zur Beteiligung an den Verbrechen waren sehr vielfältig. Und natürlich gab es auch Mittäterschaft durch Denunziation, billigendes Schweigen, Ausgrenzung, Diskriminierung.

Es gibt keine Gewähr, dass sich solches nicht wiederholt. Das „Nie wieder!“ bedeutet Erinnerung, Arbeit, Auseinandersetzung, bedeutet Streit und Verständigung, wie sich Gesellschaft entwickeln soll.

Wie gehen wir mit dem Hass um, der sich in der Gesellschaft ausbreitet? Wir schweigen nicht, wie die Debatte neulich im Bundestag gezeigt hat, wenn rechte und äußerst rechte Politiker ihre widerwärtigen Angriffe auf Menschen mit nicht-deutschen Wurzeln führen und den Mob aufstacheln. Aber wie dämmen wir das ein? Wie organisieren wir das Zusammenleben?

Und noch etwas, das mir in diesem Zusammenhang wichtig ist. Die politische Philosophin Hannah Arendt hat 1964 in einem Radiointerview mit Blick auf die furchtbare Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft gesagt: Es gibt kein Recht zu gehorchen.

Das ist kein Aufruf, beliebig jedes Gesetz zu brechen, von dem man meint, dass es falsch ist oder im Wege steht. Aber es ist ein Aufruf, dass jeder und jede Verantwortung für das eigene Handeln, für das Mitwirken oder Verweigern trägt und dass nichts und niemand uns von dieser Verantwortung befreit.

Der 8. Mai kann, wenn er nicht nur als arbeitsfreier Feiertag, sondern als Gedenktag genutzt wird, zur Auseinandersetzung mit solchen Entwicklungen und Erfahrungen, zur Auseinandersetzung mit der eigenen Verantwortung und zur Verständigung darüber genutzt werden, wie wir in dieser Gesellschaft zusammenleben wollen.

Das führt zu einem weiteren Grund: Der französische Widerstandskämpfer und Überlebende von KZ, Arbeitslager und Todesmarsch Robert Antelme schildert die NS-Todesmaschinerie in einem verstörenden Bericht als fundamentalen Angriff auf die Einheit des Menschengeschlechts. Er hat das Grauen vielleicht nur überlebt, weil er unter extremsten Bedingungen und im Kampf ums nackte Überleben seinen Glauben an die eine, unteilbare Humanität immer neu erkämpfte. „Es gibt nicht mehrere menschliche Gattungen“, schrieb er, „es gibt nur eine Gattung Mensch.“

In Artikel 1 des Grundgesetzes ist diese eine, unteilbare Humanität, diese Hoffnung und Gewissheit, dass es nur eine Gattung Mensch gibt, aufgegriffen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Aber ist das Realität? Eine selbstverständliche gewiss nicht. Wir müssen uns die Zeit nehmen, uns immer neu zu vergewissern, was das heißt: Die Würde des Menschen – d.h. jedes Menschen - ist unantastbar.

Es geht uns mit unserem Antrag also nicht um die Erinnerung an etwas Abgeschlossenes. Es geht uns darum, die Erfahrung lebendig zu halten, dass die Menschenwürde antastbar ist, wenn die Gesellschaft dies zulässt. Es geht uns darum, das Vermächtnis der unteilbaren Humanität lebendig zu halten im Kampf für eine solidarische, demokratische Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die sich ihrer Vielfalt bewusst ist und diese Vielfalt lebt, und zwar in dem Bewusstsein, dass es bei aller Vielfalt eben nur eine Menschengattung gibt.

Auch das ist Arbeit, Reflexion, Auseinandersetzung. Und auch dazu eignet sich der 8. Mai, der Tag der Befreiung vom Faschismus, in besonderer Weise.

Ein dritter Grund noch: Der 8. Mai ist zwar kein norddeutsches Datum wie der 31. Oktober, aber dafür ein europäisches. Denn der Tag der Befreiung war der 8. Mai auch für die europäischen Länder, die das faschistische Deutschland überfallen und verwüstet hatte. Der mit der Gründung der EWG 1957 eingeleitete europäische Integrationsprozess war eine Antwort auf diese furchtbare, damals noch sehr lebendige Erfahrung. Heute ist die Zusammenarbeit in der EU bedroht durch nationalistische, europaskeptische bis –feindliche, identitäre, fremdenfeindliche und rassistische Stimmungen und Strömungen. Ob und wie die EU überlebt, ob – und wie – sie sich weiterentwickeln kann oder ob der Nationalismus siegt, ist nicht entschieden, fürchte ich.

Der 8. Mai als Feiertag wäre ein starkes Symbol und könnte gut auch dazu genutzt werden, die gesellschaftliche Debatte über die weitere Entwicklung der europäischen Integration und über die Rolle, die die Bundesrepublik dabei spielt, voranzutreiben.00