Aus Politische Berichte Nr. 3/2018, S. 22 • InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

KALENDERBLATT: 8. Mai 1873 – Deutsches Reich

01 1873: Buchdrucker-Tarifvertrag abgeschlossen- Dynamik von Tarifautonomie – Tarifvertragsgesetz – Verfassungsrecht setzt ein. Bruno Rocker, Berlin

02 (Abb. PDF): 1956 beginnt in der Schleswig-Holsteinischen Metallwirtschaft ein Streik ... (Abb. PDF

03 (Abb. PDF): 1948. Streikaktionen gegen Lohnstopp ...

04 Einheitsgewerkschaften, Tarifeinheit. Rüdiger Lötzer, Berlin

05 Durchsetzung von Tarifverträgen und Tarifvorbehalt im BetrVG. Bruno Rocker, Berlin

06 Hugo Sinzheimer: Wegbereiter des Tarifvertragsrechts. Rolf Gehring, Brüssel

01

1873: Buchdrucker-Tarifvertrag abgeschlossen

Dynamik von Tarifautonomie – Tarifvertragsgesetz – Verfassungsrecht setzt ein

Bruno Rocker, Berlin

1873 kam es zur ersten reichsweiten Tarifvereinbarung, dem Buchdrucker-Tarifvertrag. Die damit auch ausgelöste Dynamik in den nachfolgenden Jahren sorgte bereits bis 1913 für 10.885 Tarifverträge für knapp 1,4 Millionen Arbeitnehmer. Die Schwerindustrie sowie die technologisch fortgeschrittenen Großunternehmen der Elektroindustrie lehnten allerdings zunächst Tarifverträge ab. Den Gewerkschaften gelang es in diesen Bereichen bis zum Ende des Ersten Weltkrieges nicht, Tarifverträge durchzusetzen. Eine fundamentale Änderung brachte erst die Novemberrevolution von 1918 mit sich. Auf Basis der Vorarbeiten von Phillipp Lotmar und Hugo Sinzheimer entstand im Dezember 1918 die Tarifvertrags-Verordnung, die vor allem die Unabdingbarkeit der Tarifnormen festsetzte.

Der Nationalsozialismus wiederum beseitigte die Einrichtung frei abgeschlossener Tarifverträge und ersetzte sie von 1934 an durch ein System von Tarifordnungen, erlassen vom sogenannten Reichstreuhänder der Arbeit; nach 1945 dann die Rückkehr zur Institution des Tarifvertrages in den westlichen Besatzungszonen: Nach und nach ersetzten Tarifverträge die Tarifordnungen aus der Nazi-Zeit. Im April 1949 schließlich wurde dann das Tarifvertragsgesetz (TVG) als Gesetz der „Vereinigten Wirtschaftsgebiete“ verkündet. Die Möglichkeit der Zwangsschlichtung wurde nach den Erfahrungen in der Weimarer Republik ausdrücklich ausgeschlossen.

Arbeitskampf und Verfassungsrecht

Das GG von 1949 enthielt zunächst keine ausdrückliche Garantie der Arbeitskampffreiheit. Erst 1969 sorgte eine Einfügung in den Artikel 9 zumindest dafür, dass „Arbeitskämpfe“ zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden von der Verfassung geschützt und vor Eingriffen im Notstandsfall sicher sein sollen. Inzwischen ist unbestritten, dass sowohl die Tarifautonomie als auch die Arbeitskampffreiheit verfassungsrechtlich durch Artikel 9 GG garantiert sind.

Tarifvertragsgesetz

Tarifvertragsparteien sind Arbeitgeber oder Arbeitgeberverbände einerseits und Gewerkschaften andererseits. Gewerkschaften müssen im Streitfall gegenüber den Arbeitsgerichten nachweisen, dass sie „tariffähig“ sind. Das Arbeitsgericht prüft u.a., ob die Freiwilligkeit des Beitritts für Arbeitnehmer sowie eine demokratische Struktur der Gewerkschaft garantiert sind. Zudem muss die Gewerkschaft „tarifmächtig“, also mächtig genug, also streikfähig sein, um Tarifverträge mit dem erforderlichen Druck auch gegen den Willen der Arbeitgeber, durchzusetzen.

Tarifgebundenheit: Ungeachtet der Tatsache, ob ein Arbeitnehmer Tarifleistungen erhält oder nicht – einen Rechtsanspruch auf tarifliche Leistungen hat er nur, wenn er auch Mitglied der vertragsschließenden Gewerkschaft ist. Auf der Seite der Arbeitgeber ist nur der tarifgebunden, der Mitglied des entsprechenden Arbeitgeberverbandes ist, bzw. bei einem Firmentarifvertrag ist es der Arbeitgeber selbst. Auf nichttarifgebundene Unternehmen samt Arbeitnehmer können Tarifverträge allerdings auch durch sogenannte „Allgemeinverbindlichkeitserklärungen“ des Ministeriums für Arbeit und Soziales ausgedehnt werden, wenn dies im „öffentlichen Interesse“ liegt.

Tarifvertragsinhalte

• Rechtsnormen für die Arbeitsverhältnisse (z.B. Entgelt und Arbeitszeit)

• Betriebsnormen (z.B. Kantine, Parkplätze, Pausenregelungen)

• Betriebsverfassungsnormen (z.B. Erweiterung der Mitbestimmung des Betriebsrates).

• Rechte und Pflichten der Tarifvertragsparteien untereinander. Wichtiges Element: die „Friedenspflicht“: während der Laufzeit des Tarifvertrages dürfen keine Arbeitskämpfe um die in dem Tarifvertrag geregelten Themen geführt werden.

Tarifautonomie und „gleiche Augenhöhe“

Verfassungsrechtlich sicherte erstmals die Weimarer Reichsverfassung die Grundlagen der Tarifautonomie durch die Garantie der Koalitionsfreiheit, nach 1949 das Grundgesetz der BRD mit Artikel 9 Abs. 3. Darüber hinaus konkretisierte das Bundesverfassungsgericht die Definition der Tarifautonomie in der Bundesrepublik Deutschland mit wichtigen Feststellungen. Beispielhaft hierfür die „Vertragsparität“: „Das Tarifvertragssystem ist darauf angelegt, die strukturelle Unterlegenheit der einzelnen Arbeitnehmer beim Abschluss von Arbeitsverträgen durch kollektives Handeln auszugleichen und damit ein annähernd gleichwertiges Aushandeln der Löhne und Arbeitsbedingungen zu ermöglichen.“ Entsprechend dieser Einlassung erging die Aufforderung des Gerichts an den Gesetzgeber, entsprechende gesetzliche Vorkehrungen zu treffen.

Beispielhaft für die Entwicklung des Begriffs der Parität sind aber auch die Aussagen des Bundesarbeitsgerichts (BAG) zur Streikfähigkeit der Gewerkschaften und Begrenzung von Aussperrungen durch die Arbeitgeber. Die entsprechende berühmt gewordene Feststellung des Gerichts lautete: „Tarifverhandlungen ohne eine realistische Streikdrohung wären für die Gewerkschaften nur ‚kollektives Betteln‘.“

Tarifautonomie bedeutet für die Arbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschland deshalb nicht nur die Abwesenheit von staatlichen Lohnleitlinien oder Zwangsschlichtungen. Sie bedeutet im kollektiven Bewusstsein auch die Sicherstellung der Anerkennung als gleichwertiger Verhandlungspartner, d.h. also Verhandlungen nur „auf gleicher Augenhöhe“.

(Quelle: Die Übersicht basiert auf der „Arbeits- und Sozialordnung/Kittner“ die jährlich überarbeitet neu erscheint im Bund-Verlag, Frankfurt)

02

Abb. links: Am 24.10.1956 beginnt in der Schleswig-Holsteinischen Metallwirtschaft ein Streik, der 16 Wochen dauern wird. Der Streik zielte nicht auf Lohnerhöhungen, sondern auf andere Forderungen des damaligen gewerkschaftlichen Aktionsprogrammes: längerer Urlaub, Urlaubsgeld und eine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Der lange Streik und Schlichtungsverhandlungen führten letztlich zu einem Einstieg in die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, der auch den Weg für das erste Lohnfortzahlungsgesetz bei Krankheit bereitete. Tarifliche Regelungen, die die Verbindung von Arbeits- und Lebensgestaltung zum Inhalt haben, wurden seither für immer mehr Bereiche getroffen.

03

Abb. rechts: Nach wachsenden Protesten und Streikaktionen (hier in Frankfurt am Main) hebt der Alliierte Kontrollrat im November 1948 den zu Kriegsende verhängten Lohnstopp wieder auf. Das Tarifvertragsgesetz trat schließlich – sechs Wochen vor dem Grundgesetz – im April 1949 in Kraft.

04

Einheitsgewerkschaften, Tarifeinheit

Rüdiger Lötzer, Berlin

Seit Ende des zweiten Weltkriegs gibt es in Deutschland sog. „Einheitsgewerkschaften“. Die Spaltung in christliche, sozialdemokratische und kommunistische Gewerkschaften, die am Ende der Weimarer Republik dem Widerstand gegen die NSDAP im Wege stand, soll sich nie wiederholen, ebenso wenig die Spaltung in Berufsgruppenverbände. Seitdem gilt – mit wenigen Ausnahmen wie öffentlicher Dienst (Beamte) und Ex- Staatsbetrieben wie Bahn, Post und Lufthansa – die Regel „ein Betrieb – eine Gewerkschaft“ und „eine Branche, eine Gewerkschaft“. Bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts erreichten die DGB-Gewerkschaften deutliche Verbesserungen der Lebens- und Arbeitsbedingungen.

Nach der „Wende“ erodierte dann die Tarifbindung. Arbeitgeber bildeten sog. „OT“ (= „ohne Tarif“)-Verbände, traten aus der Tarifbindung aus oder schlossen mit kleinen, sog. „christlichen Gewerkschaften“ Billigtarife. Auch der Beamtenbund wurde tarifpolitisch aktiver. Um die Tarifkonkurrenz zu regulieren, forderte der DGB eine gesetzliche Klarstellung. Das 2016 beschlossene „Tarifeinheitsgesetz“ leistet das. Das Bundesverfassungsgericht hält am 11. Juli 2017 fest:

„Das Freiheitsrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG schützt alle koalitionsspezifischen Verhaltensweisen, insbesondere den Abschluss von Tarifverträgen, deren Bestand und Anwendung sowie Arbeitskampfmaßnahmen. Das Grundrecht vermittelt jedoch kein Recht auf unbeschränkte tarifpolitische Verwertbarkeit von Schlüsselpositionen und Blockademacht zum eigenen Vorteil. (…) Wenn sich in einem Betrieb für dieselben Beschäftigtengruppen divergierende Tarifverträge verschiedener Gewerkschaften überschneiden, ist nach der Neuregelung grundsätzlich nur der Tarifvertrag derjenigen Gewerkschaft anwendbar, die im Betrieb die meisten in einem Arbeitsverhältnis stehenden Mitglieder hat.“

Dann gelten also die Grundsätze der Demokratie (Mehrheit entscheidet) und Fairness (keine Vorteile auf Kosten anderer Teile der Belegschaft). Eigentlich sollte damit Ruhe einkehren. Der Beamtenbund aber klagt weiter, nun vor dem Europäischen Gerichtshof. Der wird also irgendwann auch ein Urteil sprechen.

05

Durchsetzung von Tarifverträgen und Tarifvorbehalt im BetrVG

Bruno Rocker, Berlin

Rechte aus einem Tarifvertrag können vor den Arbeitsgerichten eingeklagt werden. Wie bereits erwähnt, ist die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft als Tarifvertragspartei Voraussetzung für die Klage des Arbeitnehmers vor dem Arbeitsgericht. Eine Gewerkschaft hat ohne konkrete Prozessvollmacht eines Arbeitnehmers keine eigene Klagemöglichkeit. Sie kann nur indirekt den Arbeitgeberverband auffordern, dafür zu sorgen, dass der Arbeitgeber den Tarifvertrag einhält.

Im Rahmen von betrieblichen Bündnissen und sogenannten „Bündnissen für Arbeit“ auf betrieblicher Ebene ist es auch dazu gekommen, dass Arbeitgeber und Betriebsrat gemeinsam eine tarifwidrige Betriebsvereinbarung abgeschlossen haben. Hier räumt zwar das Bundesarbeitsgericht der betroffenen Gewerkschaft einen Unterlassungsanspruch gegen den Arbeitgeber ein. Dennoch ist das im Einzelfall schwierig, weil infrage kommende Gewerkschaftsmitglieder aus dem Betrieb namentlich genannt werden müssen, um den Unterlassungsanspruch zu begründen.

Immer wieder wird in der Praxis seitens der Arbeitgeber insbesondere in kleineren und mittleren Betrieben erheblicher Druck gegen Betriebsräte aufgewandt, um Betriebsräte zu tarifwidrigen Vereinbarungen zu drängen.

Der wichtigste Haltepunkt für die betroffenen Betriebsräte ist in solchen Situationen der in § 77 Abs. 3 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) formulierte Tarifvorbehalt. Die Formulierung lautet:

„Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, können nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein. Dies gilt nicht, wenn ein Tarifvertrag den Abschluss ergänzender Betriebsvereinbarungen ausdrücklich zulässt.“

Mit Hinweis auf diese Gesetzesformulierung und mindestens der Herstellung der betrieblichen Öffentlichkeit lassen sich in aller Regel tarifwidrige Bestrebungen der Arbeitgeber aufhalten und auch zurückweisen.

Wenn hingegen der Betriebsrat sich auf gesetzeswidriges Handeln einlässt in Form einer tarifvertragswidrigen Vereinbarung, ist dies eine Pflichtverletzung und kann zur Amtsenthebung führen.

06

Hugo Sinzheimer: Wegbereiter des Tarifvertragsrechts

Rolf Gehring, Brüssel

Hugo Sinzheimer (1875–1945) gilt als einer der Begründer des Arbeitsrechts in Deutschland und hatte von 1920 bis 1933 die speziell dem Arbeitsrecht gewidmete Professur an der Universität Frankfurt am Main. Er vertrat in den Diskussionen und Auseinandersetzungen um die Weimarer Reichsverfassung ein sozialdemokratisches Konzept des Rätegedankens, hatte starken Einfluss auf die Ausgestaltung der Weimarer Reichsverfassung. Grundlegend im Sinne der Fundierung der Arbeitsbeziehungen und des deutschen Arbeitsrechts war jedoch seine Positionierung bezüglich der Unterscheidung von staatlicher Demokratie und autonomer Ausgestaltung der Arbeitsbedingungen durch unabhängige Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände. Sein Konzept wird erst mit der vom Rat der Volksbeauftragten am 23. Dezember 1918 erlassenen Verordnung über Tarifverträge, Arbeiter- und Angestelltenausschüsse und Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten und dann mit dem am 4. Februar 1920 erlassenen Betriebsrätegesetz wirkmächtig. Die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen und ihre Unabdingbarkeit (die Rechtsnorm, dass Standards nicht durch Einzelarbeitsvertrag und Willenserklärung der Individuen unterlaufen werden dürfen) als auch die Prinzipien Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie sind wesentliche Bausteine, die in das Weimarer Arbeitsrecht verankert werden.

Abb. (PDF): Hugo Sinzheimer, Bild: Emil Stumpp (* 1886; † 1941) https://de.wikipedia.org/w/index.php?curid=9763570)