Aus Politische Berichte Nr. 4/2018, S. 18 • InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

Soziale Grenzen der EU-Bürgerschaft*

Thilo Janssen, 4. April 2018

Die EU-Verordnung 883/2004 zur Koordinierung der sozialen Sicherungssysteme wird zurzeit von den EU-Gesetzgebern Parlament und Rat verhandelt. In Politische Berichte Nr. 2/2018 gebe ich einen Überblick, was die Verordnung regelt und welche Vorschläge die EU-Kommission zu ihrer Überarbeitung gemacht hat. Im vorliegenden zweiten Teil des Textes werden einige politische Konflikte um die soziale Koordinierung in der EU dargestellt. Daraus ergeben sich zwei Thesen: Erstens werden EU-Bürger*innen immer häufiger unter einen allgemeinen Verdacht auf Sozialbetrug gestellt. Dies ist auch eine Folge der rechtsnationalen Diskurse in vielen EU-Ländern. Zweitens kann die Koordinierung des Sozialrechts in der EU die notwendige Harmonisierung sozialer Leistungen nach oben nicht ersetzen. Die soziale Frage muss in den Mittelpunkt der Debatte um die Zukunft der EU gestellt werden.

Etwa 17 Millionen EU-Bürger*innen leben und arbeiten heute in einem anderen EU-Land. Das sind so viele wie noch nie. Die Verordnung 883/2004 sorgt eigentlich dafür, dass sie erworbene Ansprüche aus der Sozialversicherung auf dem EU-Binnenmarkt mitnehmen und geltend machen können. Eine größer werdende Anzahl von Menschen ist jedoch davon ausgeschlossen. Es geht um EU-Bürger*innen, die weder (offiziell) erwerbstätig sind noch Ansprüche aus der Sozialversicherung haben. Die EU-Kommission will gesetzlich festschreiben, dass diese Menschen in anderen EU-Ländern konsequent von Sozialleistungen ausgeschlossen werden können. Auch SPD und CDU/CSU wollen laut EU-Kapitel ihres neuen Koalitionsvertrags „missbräuchliche Zuwanderung in die Systeme der sozialen Sicherheit unterbinden“. Wo Kommission, Union und SPD „Missbrauch“ wittern, klafft in Wirklichkeit ein großes Loch im EU-Bürgerschaftsrecht: Die Freizügigkeit armer Menschen wird eingeschränkt. Das vorgeschobene Argument dafür ist, dies schaffe „Rechtsklarheit“. Ein Blick auf die Straßen westeuropäischer Großstädte zeigt jedoch sofort, dass dies falsch ist: Die Zahl osteuropäischer Obdachloser in westeuropäischen Städten steigt beständig. Menschen aus Rumänien, Bulgarien oder Polen kommen zum Beispiel nach Deutschland, um Arbeit zu suchen. Für viele gut qualifizierte junge Leute ist dies kein Problem. Viele andere bekommen jedoch nur Gelegenheitsjobs, werden ausgebeutet, landen auf der Straße. Von Sozialleistungen sind sie bereits jetzt nach gültiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) ausgeschlossen. Viele gehen trotzdem nicht zurück in ihre Herkunftsländer, weil die Lebensbedingungen für sie dort noch elender sind als in einer Obdachlosenunterkunft in Köln oder in einem Zelt im Berliner Tiergarten. Lokale Behörden und Sozialverbände sind vielfach überfordert. Es gibt Konflikte. In der EU der Freizügigkeit kann es politisch gefährlich werden, wenn diese Lücke in der Koordinierung des Sozialrechts nicht geschlossen wird. Rechte Parteien warten nur darauf, das Thema auszuschlachten. Bereits 2013, als auch die EU-Bürger*innen aus Rumänien und Bulgarien das Recht auf Freizügigkeit bekamen, schürten AfD, NPD und CSU im Bundestagswahlkampf sogleich Angst vor Einwanderern aus den ärmeren EU-Ländern. Ihre Parolen lauteten „Wer betrügt, der fliegt“ oder „Deutschland ist nicht das Sozialamt der Welt“. So wurden auch rassistische Vorurteile gegen Roma wiederbelebt.

Ein weiteres Beispiel dafür, wie sich rechtsnationale Kampagnen um angeblichen „Sozialbetrug“ durch EU-Bürger*innen auswirken, ist der Streit um die Regeln zum Export von Kindergeld. Bisher bekommen Beschäftigte Kindergeld in dem Land ausbezahlt, in dem sie arbeiten und in dessen Sozialsystem sie einzahlen. Der damalige britische Premier David Cameron forderte während der Brexit-Kampagne 2015 von der EU, die Auszahlung von Kindergeld an EU-Bürger*innen beschränken zu dürfen. Die deutsche Bundesregierung griff dies gemeinsam mit anderen konservativen Regierungen sofort auf. Sie will die Höhe des exportierten Kindergeldes an die Lebenshaltungskosten im Wohnland der Kinder anpassen. Das würde bedeuten, dass etwa eine Polin, die in Deutschland arbeitet und dort in voller Höhe Steuern und Sozialabgaben zahlt, weniger Kindergeld bekommen soll, wenn ihre Kinder nicht in Cottbus sondern in Warschau leben. Denn in Ost- oder Süd-Europa, so die Argumentation, seien die Lebenshaltungskosten niedriger als in Deutschland. Nicht berücksichtigt wird, dass aus Deutschland weit höhere Beträge gezahlt werden müssten, wenn die Kinder eines Arbeitnehmers zum Beispiel in der Schweiz leben. Die EU-Kommission lehnt eine solche Indexierung bisher ab. Denn es würde mit einem Grundprinzip des Koordinierungsrechts gebrochen: Es gilt immer das Sozialrecht des EU-Landes, in dem eine Person arbeitet, mit allen Vor- und Nachteilen. Mit einer Indexierung würden EU-Bürger*innen gezielt diskriminiert. Aus deutscher Sicht: Nicht-deutsche EU-Bürger*innen wären überproportional häufiger betroffen als deutsche, obwohl alle gleichermaßen Steuern und Abgaben zahlen. Extra-Kosten für betroffene EU-Bürger*innen würden nicht berücksichtigt – etwa für Flugtickets, die Eltern bezahlen müssen, wenn sie trotz der Arbeit in einem anderen Land versuchen, ihre Kinder so oft wie möglich zu sehen. Die Indexierung würde insgesamt nur eine vergleichsweise kleine Gruppe von Menschen betreffen, wäre aber mit einem sehr großen Verwaltungsaufwand und entsprechenden Kosten verbunden: Lebenshaltungskosten müssten berechnet, der Aufenthaltsort aller Kinder ständig nachgewiesen und überprüft werden, es würde viele Verfahren vor Gericht geben. Die Regierungen Deutschlands, Österreichs oder Dänemarks halten jedoch gemeinsam mit rechtsextremen Parteien wie der AfD in Deutschland an der Forderung nach einer Kindergeld-Indexierung fest. Im EU-Parlament und im Rat zeichnet sich bisher jedoch keine Mehrheit für diesen Angriff auf das Familienwohl ab.

Nach Vorstellung der EU-Kommission und einiger Regierungen in der EU soll auch die Koordinierung von Arbeitslosenleistungen komplizierter gemacht werden. Dabei gibt es keinerlei Beweise für massenhaften „Missbrauch“, wie etwa der Deutsche Gewerkschaftsbund klarstellt. Bisher bekommen EU-Bürger*innen in dem Land Arbeitslosengeld, in dem sie zuletzt gearbeitet und in dessen Arbeitslosenversicherung sie eingezahlt haben. In Zukunft sollen nach dem Vorschlag der EU-Kommission, Versicherungszeiten für die Arbeitslosenversicherung in einem Land erst dann angerechnet werden, wenn eine Person zuvor mindestens drei Monate dort gearbeitet hat. Der Vorschlag der Kommission richtet sich gegen möglichen „Sozialmissbrauch“. In Wirklichkeit führt er jedoch nur dazu, dass die Regeln komplizierter werden. In Zeiten befristeter Arbeitsverträge und prekärer Beschäftigung drohen soziale Ansprüche von EU-Bürger*innen verloren zu gehen. Arbeitslose, die dringend auf die ihnen zustehenden Leistungen angewiesen sind, laufen Gefahr, zwischen den Behörden mehrerer EU-Ländern hin- und her geschickt zu werden. Denn je komplizierter die Regeln, desto eher kommt es zu Streitigkeiten darum, welches Land zuständig ist. Verlieren werden die EU-Bürger*innen, die ihr Recht auf Freizügigkeit wahrnehmen. Auch hier droht die rechte Propaganda vom überall lauernden „Sozialbetrug“ in die EU-Verordnung einzusickern und das bestehende Sozialrecht zu beschädigen.

Die drei hier dargestellten politischen Konflikte um das soziale Koordinierungsrecht verweisen darauf, dass es grundsätzlich nicht gut um die soziale Dimension der EU bestellt ist. Freizügigkeit sollte im Idealfall dazu dienen, dass sich Menschen in der EU frei bewegen und dort leben und arbeiten können, wo es ihnen am besten gefällt. Das wirtschaftliche und soziale Gefälle zwischen den EU-Ländern, die verschärfte Konkurrenz um niedrige Steuern für Unternehmen auf dem Binnenmarkt und die katastrophalen Auswirkungen der Austeritätspolitik in Ländern wie Rumänien, Griechenland, Spanien oder Lettland bewirken jedoch, dass immer mehr Menschen sich gezwungen sehen, eher aus Not als aus freiem Willen in einem anderen EU-Land ihr Glück zu suchen. Die Konflikte um die soziale Koordinierung hängen somit unmittelbar mit den Auswirkungen des Binnenmarktes und der EU-Finanz- und Wirtschaftspolitik zusammen (auf diese kann hier nicht näher eingegangen werden).

Die soziale Frage in der EU bedarf einer europäischen Antwort. Diese müsste zunächst die Lücken in der Koordinierung des Sozialrechts schließen. Dies betrifft vor allem die nichterwerbstätigen und arbeitsuchenden EU-Bürger*innen, die heute immer häufiger in der Obdachlosigkeit enden. Dafür gäbe es verschiedene Ansätze: Beispielsweise sollten Mindesteinkommen und Sozialhilfe in das Koordinierungsrecht aufgenommen werden. In der Sozialwissenschaft werden weitergehende Vorschläge diskutiert, etwa eine europäische Mindestsicherung für Menschen, die in anderen EU-Ländern Arbeit suchen.

Zweitens kommt die EU nicht länger an einer positiven Harmonisierung der Sozialsysteme vorbei. Dabei geht es nicht darum, dass es überall die gleichen Leistungen geben muss. Es sollte weiterhin den EU-Ländern überlassen bleiben, wie sie ihre sozialen Systeme organisieren. Sie sollten dabei jedoch rechtlich verbindliche EU-Mindeststandards erfüllen, die sich an der jeweiligen Wirtschaftsleistung und an den Lebenshaltungskosten orientieren. Ein Beispiel: Es sollte in jedem EU-Land armutsfeste Mindesteinkommen und Mindestrenten geben. Ärmere EU-Länder werden vorübergehende Finanzhilfen brauchen, um ihre sozialen Systeme dahingehend zu entwickeln.

Hohe soziale Mindeststandards würden erzwungene Armutswanderung dauerhaft unnötig machen. Sozialleistungen könnten einfacher zwischen den EU-Ländern koordiniert werden, wenn sie sich schrittweise angleichen. Gute Sozialleistungen fördern eine bessere Verteilung des erwirtschafteten Reichtums und stabilisieren die Binnennachfrage. Den Rechtsextremen würde ein Ansatz dafür genommen, soziale Konflikte nationalistisch und rassistisch umzudeuten. Dies sind nur einige Argumente die dafür sprechen, die soziale Frage in den Mittelpunkt der Debatte um die Zukunft der EU zu stellen.

* Teil I siehe PB Nr. 2/2018, http://www.linkekritik.de/fileadmin/pb1802/pb18-02-i.pdf#page=16