Aus Politische Berichte Nr. 4/2018, S. 19 • InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

Them:a Der Große Krieg

01 Einleitung

02 Dr. Thomas Falkner, Versagen in Verantwortung. Fragen an und Thesen zur Geschichte – 100 Jahre nach dem Ersten Weltkrieg.[7] (Textauszüge)

03 Lektürebericht: Richard Müller, Eine Geschichte der Novemberrevolution

01

I n den PB Nr. 12/2017 brachten wir den Vorschlag an Die Linke, sich mit dem Jubiläum zum Ende des Großen Krieges ernsthaft zu befassen..[1] In PB 2/2018 erschien der Lektürebericht: Herfried Münkler, Der Große Krieg – Die Welt 1914 bis 1918.[2] Im Arge Rundschreiben Nr. 20,[3] das der Ausgabe beilag, war die Entwicklung des Nationalismus und der zwischenstaatlichen Beziehungen entstehenden Nationalstaaten Europas des 19ten Jahrhunderts Thema. Die Sommerschule der ArGe wird unter dem Arbeitstitel: Staatsbildung und Friedenspolitik in der Theorienbildung der Arbeiterbewegung vorbereitet.[4]

Solche Themen liegen auf dem Tisch, weil die tradierten Ansätze linker Politik gegen Nationalismus und Kriegsgefahr nicht greifen. Wo liegen die Defizite? Woran muss und kann man festhalten? Gibt es handlungsleitende Irrtümer, die bereinigt werden müssen?

Dazu wollen wir in den nächsten Monaten aus unserem Diskussionszusammenhang Meinungen, Lektüreberichte, Thesen etc. einsammeln. In dieser Ausgabe bringen wir einen knappen Auszug des umfangreichen und im Original mit vielen Fußnoten versehenen Vortrags[7] von Thomas Falkner mit einen Hinweis auf die Historische Kommission der Linken,[5] und die vom Parteivorstand im Februar 2018 einberufenen Konferenz zum Thema Epochenbruch 1914–1923. Krieg, Frieden, soziale Revolution[6]. Auf Seite 20 dieser Ausgabe schließt daran ein Lektürebericht zu Richard Müller, Geschichte der Räterevolution, von PB-Leser Andreas Adrians an.

Wer zu dieser Diskussion in den nächsten Ausgaben etwas beisteuern will, melde sich bitte bei der Redaktion, am besten gleich beim zuständigen Redakteur. Vielleicht kommt im Lauf des Jahres so viel Stoff zusammen, dass wir bei der nächsten Jahresversammlung des Vereins im April 2019 das eine oder andere Ergebnis festhalten oder wenigstens das Problem einkreisen könne.

Bei www.linkekritik.de werden diesbezügliche Beiträge unter dem Schlagwort „Epochenbruch 1914–23“ erfasst.[8]
Martin Fochler, München, fochlermuenchengmail.com

[1] http://www.linkekritik.de/fileadmin/pb1712/pb17-12-i.pdf#page=20 [2] http://www.linkekritik.de/fileadmin/pb1802/pb18-02-i.pdf#page=20 [3] http://www.linkekritik.de/uploads/media/20180215_ArGe_RS_20.pdf [4] ebd. S.1, Protokoll [5] https://www.die-linke.de/partei/parteistruktur/kommissionen/historische-kommission/ [6] https://www.die-linke.de/fileadmin/download/kommissionen/historische_kommission/epochenbruch/2018-02-24_flyer_konferenz_epochenbruch_neu.pdf [7] https://www.die-linke.de/partei/parteistruktur/kommissionen/historische-kommission/konferenz-epochenbruch-1914-1923/news-default-detailseite/news/1918-2018-nachdenken-ueber-ein-europaeisches-jubilaeum/ [8] Direkt-Link: http://www.linkekritik.de/index.php?id=1015

02

Dr. Thomas Falkner, Versagen in Verantwortung. Fragen an und Thesen
zur Geschichte – 100 Jahre nach dem Ersten Weltkrieg.[7] (Textauszüge)

Die historische Kommission der heutigen Linken[5] geht auf den Gründungsprozess der PDS (Partei des Demokratischen Sozialismus) zurück. Zugespitzt ginge es um den Stalinismus, zukunftweisend um die Verpflichtung sozialistischer politischer Strategie auf Menschenrechte und demokratische Regeln. Von ähnlicher Bedeutung wie jener Klärungsprozess, der in seiner tief ins persönliche greifenden Härte vor allem jene traf, die selbst an der Ausübung politischer Macht beteiligt waren, ist der jetzt einsetzende. Thomas Falkner entwickelt das interessante Kriterium: „Versagen in der Verantwortung“. Im Folgenden werden kurze Auszüge dokumentiert.

„… europäische Perspektive (Hervorhebung PB) beim Gedenken an das Ende des Ersten Weltkriegs … Einfach ist das für uns Deutsche freilich nicht.

Wir können nicht einfach die Sicht einzelner unserer Nachbarn übernehmen: Natürlich ist der Erste Weltkrieg für Frankreich oder Großbritannien bis heute der „Große Krieg“ – sie hatten dort auch höhere Opferzahlen als im Zweiten Weltkrieg zu verzeichnen. Würden wir das zu unserer Sicht machen, würden wir – zu recht – den Eindruck erwecken, wir wollten Zweiten Weltkrieg und Holocaust dahinter verstecken und geschichtspolitischer Verantwortung ausweichen. Dass das nicht geht, macht schon ein Blick nach Osten deutlich: Für Russland, für viele Staaten der früheren Sowjetunion war der Zweite Weltkrieg der „Große Vaterländische Krieg“. Für die Staaten des Baltikums hingegen bedeutete dies den Verlust der Eigenständigkeit infolge des Hitler-Stalin-Paktes, während für unsere polnischen Nachbarn der Ausgang des Ersten Weltkrieges die Wiedererlangung der Staatlichkeit bedeutete – die Freiheit von nationaler Unterdrückung durch Deutschland, die Hitler wiederum kaum zwanzig Jahre später wiederherstellen wollte.

Auf nichts also kann man sich von Deutschland aus einseitig beziehen, ohne dann nicht an anderer Stelle alte Wunden aufzureißen und neue Besorgnis zu wecken. Und das gilt in gewisser Weise auch innenpolitisch.

Ich bin mir all dessen bewusst – und dennoch sehe ich eine ganz Reihe von Fragen, die, denke ich, auch aus politischer Sicht heute präziser gestellt und facettenreicher beantwortet werden müssen.“

Nach Hinweisen auf zunehmende Spannungen und abnehmende Dialogfähigkeit im internationalen Geschehen sieht Falkner „eine verstörende Parallelität“ zur Zeit des Großen Krieges:

„Und gerade angesichts dessen bewegen einen eine ganze Menge von Frage, wenn man im politischen Raum tätig ist. Blicken wir auf die Geschichte: Was hat sich denn damals vollzogen in den Kanzleien, Amtsstuben und Kaminzimmern der damaligen Eliten? Was haben Menschen denn gemacht und gedacht, wie konnten ihre Abwägungen so in die Irre gehen? Abwägungen, die wir nicht teilen müssen, die die Entscheider damals doch aber staatsmännisch wie privat für verantwortungsbewusst gehalten haben? Wie konnten aus solchen Abwägungen so gravierende Fehlentscheidungen entstehen – und wie konnte es sein, dass offenkundige Fehlentscheidungen von solchem Ausmaß nicht einmal mehr korrigiert wurden? Gab es also eine eigene Rationalität, die diesen Entwicklungen zugrunde lag, und von der sich die handelnden Akteure nicht befreien konnten?

Also: Versagen in Verantwortung, seine Ursachen, seine Folgen – das ist ein großes Thema beim Rückblick auf den Ersten Weltkrieg und die Nachkriegszeit. Aber, wie sich zeigt, es ist auch ein sehr aktuelles Thema: Wenn sich Umstände und Muster wiederholen, unter denen die Welt in ihre “Urkatastrophe“ schlitterte, was bedeutet das dann für Linke heute? Was tun wir? Wo intervenieren wir? Wie? Womit? An wessen Seite?“

Die Sozialdemokratie. Auch hier scheint eigentlich alles klar. 1914 fällt die Sozialdemokratie spontan vom Glauben an die proletarische Internationale ab und stimmt ein in das nationalistische Kriegsgeheul – wovon sie sich eigentlich bis heute nicht frei gemacht hat. Es sei denn, man blickt auf ihre Abspaltungen – die USPD, die Spartakisten, die KPD … Was in dieser Geschichtssicht der Gewissheiten stets etwa untergeht: Diese Abspaltungen, die eigentlich mehr oder weniger die Dinge „richtig“ gemacht haben, waren stets kleiner als die sozialdemokratische Stammpartei. Natürlich: An diesem Versagen in Verantwortung, von dem hier die Rede ist, war sie seither maßgeblich beteiligt – und doch besteht diese Sozialdemokratie über Jahrzehnte als starke, manchmal stärkste Partei weiter. Unterschätzen wir vielleicht die lang anhaltende Wirksamkeit einer bestimmten politischen Rationalität, die sich bewährt, die nachvollziehbar ist, die aber auch politische Ungeheuer gebiert?

Was war denn los in der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion und in der sozialdemokratischen Partei im November 1914, als man den Kriegskrediten zustimmte – mit der Stimme Karl Liebknechts damals noch?!“

Falkner vermutet, dass angesichts der Generalmobilmachung des zaristischen Russlands die friedenspolitischen Strategie der Internationale – Blockade von Mobilisierung und Kriegführung durch Generalstreik – die Streikbereitschaft versagt blieb. Eine These die anhand zeitgenössischer Dokumente zu prüfen wäre. Falkner fährt fort:

„Wie auch immer: das eindimensionale, aus einer in große Klassen gespaltenen Gesellschaft erwachsene Kalkül hatte sich als nicht belastbar erwiesen. Es war eben nicht so einfach: die da oben, wir da unten, und wenn die da oben sich in die Haare kriegen, dann ist das genau der richtige Zeitpunkt für uns, sie allesamt einfach davon zu jagen. Plötzlich, in der Realität, erwies sich der Konflikt der da oben auch als ein Konflikt, in dem die da unten viel zu verlieren hatten. Und das wiederum hatte das Potenzial, alle politischen und ideologischen Gewissheiten aus der Zeit davor außer Kraft zu setzen. War das ein Teil jener schwierigen, aber nachhaltigen Rationalität, nach der oben gefragt wurde?

Und was bedeutet das für linke Friedenspolitik heute? Eben nicht nur die Treue zu den eigenen Beschlüssen, zu vordergründig klaren, angesichts komplexer Realitäten jedoch zu eindimensionalen Strategien. Strategien entwickeln – das heißt eben auch, Optionen zu entwickeln und Abwägungen vorzunehmen. Wer es sich dabei im Vorfeld von Entscheidungen zu einfach macht, läuft eben auch Gefahr, bei der Entscheidung, wenn es ernst wird, in die Irre zu laufen. Wer das vermeiden will, muss eben auch weitere Lehren von 1914 wach halten: Nicht mit groben Feindbildern hantieren, die „den Feind“ auf einen Feind reduzieren und diesen dann auch noch veräußerlichen. Die Lehre, dass der Kampf für sozialen Fortschritt in einem Land auch immer verbunden werden muss mit dem Kampf für eine sozial gerechte, auf friedliche Regelungsmechanismen, auf Konfliktprävention ausgerichtete internationale Ordnung.“

(Auszüge, Orignal 13 S. A4, Wir danken für die Genehmigung zur Verwendung.)

03

Lektürebericht: Richard Müller, Eine Geschichte der Novemberrevolution

Andreas Adrians, Hamburg

Ende Oktober 1918 beginnen Matrosen und Heizer der deutschen Kriegsflotte gegen die Marineleitung zu meutern und organisieren sich in Räten. Kieler Werftarbeiter streiken und bilden ebenfalls Räte. Im Verlauf weniger Tage dehnt sich diese Bewegung im gesamten Deutschen Reich aus.

Als dann am 9. November die Berliner Arbeiter nach der Frühstückspause die Fabriken verlassen, sich gewaltige Demonstrationszüge formieren und Hundertausende in die Berliner Innenstadt ziehen, ist das Kaiserreich am Ende. Reichskanzler Prinz von Baden übergibt am Mittag sein Amt dem Sozialdemokraten Ebert.

Einer der Initiatoren des Generalstreiks der Arbeiter Berlins am 9. November war R. Müller. 1924/25 veröffentlichte er das hier besprochene Buch. Es war viele Jahre vergriffen und wurde 2011 von dem Berliner Verlag „Die Buchmacherei“ neu herausgebracht. Es ist eine ungemein spannende und lehrreiche Darstellung der Revolution als Geschichte sozialer Kämpfe. Zahlreiche Zeitdokumente, die Müller seinem Bericht hinzufügte, unterstützen seine Erzählung.

Müller war Branchenleiter der Berliner Dreher im „Deutschen Metallarbeiterverband“. Dreher waren wichtige Facharbeiter in der Metallindustrie, wie überhaupt die gut ausgebildeten Facharbeiter das Rückgrat der Revolution waren. Müller war Mitbegründer der „Revolutionären Obleute“, die in den Fabriken ein illegales Widerstandsnetzwerk gegen Ausbeutung und Krieg organisierten. Etwa 80-100 Obleute vertraten Tausende Arbeiter.

Während des Krieges organisierten die Obleute drei große Streiks, in denen die Berliner Arbeiter wirtschaftliche und politische Forderungen erhoben. Davon überrascht, standen die Führer der Gewerkschaften und der SPD ratlos vor dieser unerhörten Tatsache und begriffen sie nicht. Sie begaben sich nicht auf die Suche nach den Ursachen, sondern den Urhebern der Streiks und halfen dabei, deren Initiatoren den Militärbehörden ans Messer zu liefern.

Die Revolutionären Obleute waren auch maßgeblich beteiligt an der Vorbereitung des Generalstreiks der Berliner Arbeiter am 9. November.

Der 9. November in Berlin

Dem Aufstand in Berlin stand die Bourgeoisie zunächst machtlos gegenüber. Zwar verlegte die Regierung zusammen mit der Obersten Heeresleitung ( OHL ) noch am Abend des 8. November Truppen nach Berlin, die als absolut zuverlässig galten. Die Soldaten aber weigerten sich Dienst zu tun, wählten Räte und verbrüderten sich mit den Berliner Arbeiter. Die Regierung verfügte über keine bewaffnete Macht mehr, da auch die Polizei passiv blieb.

Im Verlauf des Vormittags wurden Gefängnisse gestürmt und Gefangene freigelassen. Das Polizeipräsidium, armiert wie eine Festung wurde den Aufständischen kampflos übergeben, Reichstag und Regierungsgebäude besetzt. Am Nachmittag glich das Zentrum Berlins einem gewaltigen Heerlager. Am Abend des 9. November hatte das Deutsche Reich keinen Kaiser mehr. Ebert war Reichskanzler.

Wenige Stunden hatten genügt, eine Macht zu stürzen, deren Herrschaft über alle Zeiten hinaus gesichert schien. Die siegreichen Arbeiter und Soldaten beklagten 15 Tote. Die Opfer der Gegenseite waren geringer.

Der Aufstand hatte keine zentrale Leitung. Seine elementare Wucht verdankte er der Initiative, dem Handeln Hunderttausender Arbeiter und Soldaten. Die Vorbereitung durch die Revolutionären Obleute war sicherlich ein wichtiger Faktor, am Ende handelten viele Menschen entschlossen, mutig und spürten ihre Macht.

Räterepublik oder Nationalversammlung

Richard Müller schildert dann minutiös die Entwicklung der Ereignisse in Berlin vom Abend des 9.11.1918 bis zur Wahl der Nationalversammlung am 19.1.1919. Er berichtet auch über die Vorgänge in anderen Teilen des Deutschen Reiches.

Am Abend des 9. November begann die Auseinandersetzung darüber, was angesichts des geglückten Umsturzes zu tun sei. Die Hauptakteure waren der am 10. November auf einer Vollversammlung der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte gewählte „Vollzugsrat der Arbeiter- und Soldatenräte von Groß-Berlin“, deren Vorsitzender R. Müller wurde und der sechsköpfige „Rat der Volksbeauftragten“, die provisorische Regierung mit Ebert und Scheidemann an der Spitze.

Es war ein erbitterter Kampf zwischen den Kräften, die diese Revolution nicht gewollt hatten, nun buchstäblich alles unternahmen, um wieder Ruhe und Ordnung herzustellen und die jetzt in der „Stunde der Gefahr die Rettung des Vaterlandes“ in der Wahl der Nationalversammlung sahen. Der Vollzugsrat dagegen führte einen verzweifelten Kampf um die Fortführung der Revolution.

Der Vollzugsrat hatte sein Mandat von den Arbeiter- und Soldatenräten erhalten. Er war eine Körperschaft Kraft revolutionären Rechts. „Er hatte alle Rechte und er hatte keine Rechte“, schrieb Müller. Wille und Tatkraft der Arbeiter- und Soldatenräte bestimmten den Umfang seiner Rechte und Macht. Diese reichten, wie sich dann zeigte, nicht aus, um erfolgreich zu sein. Während sich der Vollzugsrat unsicher auf unbekanntem Terrain bewegte, handelten die Volksbeauftragten. Sie organisierten die Regierung mit den kaiserlichen Staatssekretären und weiteren bürgerlichen Kräften. Sie übergaben die Wirtschaft einem Vertrauensmann der Schwerindustrie. Sie gaben den Offizieren die Befehlsgewalt zurück und paktierten im Hintergrund mit der Obersten Heeresleitung, die am 13. November ihren Sitz von Spa in Belgien nach Kassel verlegte.

Als vom 16.–21.Dezember in Berlin der 1. Reichskongress der Arbeiter- und Soldatenräte zusammentrat, hatte sich die SPD an die Spitze der Bewegung setzen können. Von 490 stimmberechtigten Delegierten waren 298 Mitglieder der SPD, 101 der USPD. Bei wichtigen Abstimmungen wurde deutlich, dass sich nur rund 100 Delegierte zum Rätesystem bekannten. Der Kongress entschied sich klar für die Wahl der Nationalversammlung am 19.1.1919 und übertrug die gesetzgebende und vollziehende Gewalt dem Rat der Volksbeauftragten. Zwei Beschlüsse, mit der „Sozialisierung der dafür reifen Industrien“ zu beginnen und das Heer zu demokratisieren, blieben wirkungslos.

R. Müller schreibt, dass der Organisationsapparat der SPD, ergänzt von dem der Gewerkschaften, und die weitverbreitete Parteipresse der SPD den Weg für die Nationalversammlung freimachte. Über Jahrzehnte war die sozialdemokratisch geführte Arbeiterbewegung am Ziel der demokratischen Republik und des allgemeinen und gleichen Wahlrechts orientiert gewesen. Gepflogenheiten des Parlamentarismus machten sich auch in den Apparaten von SPD und Gewerkschaft breit. Eine Monopolisierung der Macht in den Räten konnte aus dieser Sicht wie eine Usurpation erscheinen.

Nun bildeten sich aber innerhalb von Tagen Hunderte, wenn nicht Tausende Arbeiter- und Soldatenräte im Deutschen Reich! Die Fabrik, die Kaserne waren Orte, wo große Massen unter dem gleichen Druck standen. Ungeachtet politischer oder religiöser Überzeugung konnten sich Arbeiter und Soldaten organisieren. Sie wählten Vertreter, standen in engster Beziehung zu diesen und kontrollierten sie. Die Räte wurden nicht auf Zeit, sondern auf jederzeitigen Abruf gewählt. Die Menschen waren nicht mehr „abstrakte Staatsbürger“, wie Karl Marx das in einer seiner frühen Schriften bezeichnete, die hin und wieder ihren staatsbürgerlichen Verpflichtungen nachkamen. Jetzt handelten sie in einem geschichtlichen Moment und erkannten ihre individuelle Kraft als gesellschaftliche Kraft. Ohne diesen Schritt sind revolutionäre Erhebungen gar nicht denkbar und deshalb bildeten sich auch bei anderen Gelegenheiten Räte oder vergleichbare Kampforganisationen. Die Geschichte zeigt, dass die herrschenden Klassen Gewerkschaften oder politische Parteiorganisationen der Arbeiter unterdrücken konnten. Organisationsgebilde der Arbeiter in den Großbetrieben konnten nicht unterdrückt werden. In der Revolution 1918/19 waren diese aber nicht stark genug, mit der Konterrevolution fertig zu werden.

Müller schreibt weiter, dass „die Bewegung vom 9. November ohne Stillstand weitergetrieben“ werden musste. Es bleibt offen, ob entschlosseneres Handeln, in dem sehr kurzen Zeitraum als Throne stürzten und die Bourgeoisie mit dem Rücken zur Wand stand und mit dem Schlimmsten rechnete, ausgereicht hätte, sie sich endgültig vom Hals zu schaffen.

Die Konterrevolution siegt

Unmittelbar nach dem Rätekongress ging die SPD am 24. Dezember zur offenen Gewalt über. Darüber berichtet Müller im letzten Teil seines Buches. Bis zum 2. Mai, dem Ende der Münchener Räterepublik zogen sich die Kämpfe von regulären Truppen und den Freikorps unter Führung des Oberbefehlshaber Noske, dem „Bluthund“, gegen streikende Arbeiter und die Räte hin. Am Ende siegte die SPD über die Revolution. Es war ein Pyrrhussieg. Das zeigte sich spätestens am 30. Januar 1933. Die SPD hatte ihre Schuldigkeit getan, die Faschisten übernahmen die Macht und die Bourgeoisie triumphierte.

Richard Müller, Eine Geschichte der Novemberrevolution, Berlin 2011,
788 Seiten, 24 Euro