Aus Politische Berichte Nr. 5/2018, S. 05 • InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

Den Unterschied begreifen

01 info: Kommunalwahlen verschaffen den Tories Luft

Eva Detscher, Karlsruhe

Gelingt den Briten das Kunststück, trotz des Brexit-Grabens handlungsfähig zu bleiben?

Es scheint seltsam ruhig geworden um das Thema Brexit. Es ist fast so, als ob es etwas Irrationales wäre, was sich da abspielt. So wirklich eine Vorstellung davon, wie es sein wird, wenn Ende März 2019 das Vereinigte Königreich (UK) nicht mehr zum politischen und Wirtschaftsraum der Europäischen Union gehören wird, scheint keiner zu haben. Aus den Verhandlungsrunden zwischen EU und UK tauchen nur noch ab und an Meldungen auf. Am 30. April und 1. Mai war der Verhandlungsführer der EU, Barnier, in Irland und Nordirland und hielt eine Rede auf dem „4th All-Island Civic Dialogue, Dundalk“ (4. Bürgerdialog für die ganze Insel) und stellt dabei erneut klar, dass entweder die Irische See oder die Landgrenze auf der irischen Insel die EU-Außengrenze wird. Und auch die Regierung in London, die freie Hand für eigene Zollabkommen haben möchte und am liebsten ohne Zölle innerhalb der irischen Insel operieren möchte, will keine Infrastruktur an einer Grenze durch Wahlbezirke haben, in welchen die Sinn Fein die Mehrheit hat. Gerade hat Theresa May für ihre Idee einer neuen Zollpartnerschaft mit der EU eine Ohrfeige von ihrem „war cabinet“ („Kriegskabinett“) bekommen, die Brexiters feierten ihren „Sieg“ und Mays „Niederlage“. Der britische Verhandlungsführer Davis versicherte den „Leavers“– denjenigen Konservativen, die hinter jeder Verhandlungslösung einen Verrat und eine Unterwerfung des Königreichs unter die EU wittern –, dass er „100%“ zuversichtlich sei, die Zollunion zu verlassen. Ein Abgeordneter, Peter Bone, warnte jedoch, dass die Öffentlichkeit es satthabe, wie lange der Prozess dauere. Wenn die Minister auf eine rasche Einigung hoffen, müssten sie sich bald auf eine Vision für den Post-Brexit-Zoll einigen.

„Britain ‚will not be able to leave customs union until 2023‘, ministers told“ – die Schlagzeile des Telegraph Brexit Bulletins vom 4. Mai bringt weitere Szenarien ins Spiel auf: Experten haben der Ministerrunde vorgerechnet, dass es noch mindestens fünf Jahre brauche, um die Technologie für wie immer auch geartete Nach-Brexit-Beziehungen zwischen UK und EU sowie für das Management der Grenzen zur Verfügung zu haben. Das würde bedeuten, dass die nächsten Parlamentswahlen (2022) unter dem Stigma stehen würden: die Tories haben den Brexit nicht bewältigt, das Land habe in keiner Weise von dem Austrittsbeschluss profitiert.

Eine Fifty-Fifty-Gesellschaft

Die stimmenmäßige knappe Mehrheit 2016 im Referendum über den Austritt ihres Landes aus der EU war das erste deutliche Anzeichen dafür, dass Großbritannien die Handlungsfähigkeit im Sinne einer good Governance einzubüßen droht. Historisch gesehen hat es in Britannien schon immer eine Zweiwertigkeit in der Zielsetzung gegeben. Diese offene Situation zu beherrschen ist ein Kennzeichen der britischen Gesellschaft. Durch das Brexit-Referendum wird auf einmal jeder Frage dieses „bist Du dafür oder dagegen“ übergestülpt, und es stehen sich auf vielen Feldern der britischen Gesellschaft unversöhnliche Lager gegenüber. Die jetzige Situation, dass die praktischen Korridore für die Einordnung in die Weltwirtschaft geschlossen scheinen und die Schnittstellen noch nicht gefunden sind, erscheinen als Patt. Zum drohenden Chaos wird es angesichts der weltweiten Risiken. Die Illusion, dass Britannien über Britannien entscheiden kann, wie sie von den Brexitern als Gift in die Welt gestreut wird, ist brandgefährlich. Sie konnte entstehen, weil mit tradierten Normen und dem gesellschaftlichen Konsens über Verfassung und Rolle der Parlamente gebrochen worden ist. Der Konsens, dass der 1975 von einem Referendum unterstützte Beitritt Britanniens zur EU eine Entscheidung für alle Zeiten sei und sich alle auf die Ausgestaltung – mit etlichen Spezialregelungen für Großbritannien seitens der Gesamt-EU – eingelassen hatten: dieser Konsens ist attackiert worden – mit noch unabsehbaren Folgen.

Eine Verfassungsdiskussion in UK

„Zwar meint man allgemein, Britannien habe keine Verfassung, weil die Regierung jederzeit die Gesetze ändern kann, doch widerspricht dem eine Fülle von Ordnungen und Dokumenten, angefangen von der Magna Carta von 1215 und der Bill of Rights von 1688 bis zur Reform Bill aus dem Jahre 1832. Man muss zu einer Fülle von Texten greifen, um die Verfassung aufzuspüren, aber dann findet man sie.“ (Jeremy Adler*, SZ, 8.1.2018). Und weiter: „Dem Begründer des britischen Konservatismus, Edmund Burke, verdanken wir etwa die Definition der Rolle eines Abgeordneten. Er betont, ein „Abgeordneter“ sei kein „Deputierter“: Jener darf nicht den Willen seiner Wähler exekutieren, er muss stets nach dem eigenen Gewissen handeln. In seiner „Rede an die Wähler Bristols“ meinte Burke 1774, der Abgeordnete darf nicht „seine vorurteilslose Meinung, sein reifes Urteil, sein aufgeklärtes Bewusstsein“ dem Wähler opfern. Wer das tut, „verrät“ die Wählerschaft. Dieses Prinzip ist tief in der Struktur des Lebens Britanniens verankert. Die jetzige Regierung hat mit dem Grundsatz gebrochen. May beschwört stets „den Willen des Volkes“. Damit maßt sie sich etwas an, was als „Tyrannei der Majorität“ bezeichnet wurde, anstatt eine gewissenhafte Legislative zu leiten. Ihr Begriff des „allgemeinen Willens“ widerspricht dem britischen System. Die im Gewissen des Einzelnen verankerte Macht verlagert sich dadurch auf den schwer zu definierenden Willen des Volkes.“

Tatsache ist aber auch, dass gegen dieses populistische Vorgehen die britische Verfassung nicht geholfen hat. „Denn um die verfassungsrechtliche Problematik zu umgehen, hatte man entschieden, dass die britischen Referenda nur „beratende“ Funktion haben. Keiner weiß aber, was das heißt. Ohne dass man die Entscheidung im Parlament auch nur debattiert hätte, behauptete die neue Premierministerin in einer lächerlichen Tautologie: „Brexit means Brexit.“ Über Nacht hatte sich die modisch gekleidete Befürworterin Europas ohne jegliche Erklärung in eine Brexiterin verwandelt. Was sagte ihr Gewissen, das – so Burke – sie leiten sollte? Weder definierte sie, was „Brexit“ heißt, noch hatte sie für ihr Vorgehen ein Mandat, noch beachtete sie die Interessen derer, immerhin sechzehn Millionen, die sie kurz zuvor als erklärte Anti-Brexiterin repräsentiert hatte. Nach einer Wahl vertrauen die Verlierer darauf, dass die Opposition ihre Interessen verfolgen wird. Nach dem Referendum blieb aber niemand, der für die überstimmte Hälfte der Wähler hätte Partei ergreifen können.“ (ebenfalls Jeremy Adler, dieses Mal FAZ, 8.8.2016!)

Hausaufgaben für die EU

Es ist nichts Neues oder Besonderes, dass es in der britischen Bevölkerung viele und verschiedene Ansichten über die Bedeutung Großbritanniens in der Welt gibt. Auf einer Veranstaltung der deutsch-britischen Gesellschaft in Berlin berichteten die Referenten z.B. darüber, dass es auf der britischen Insel noch Bezirke gibt, die keine Fremdsprachen unterrichten, oder dass die USA in vielen Köpfen noch als Anhängsel an England betrachtet werden. Die Burgmentalität einer Inselbevölkerung, aufgeheizt mit Wiederauferstehungsphantasien eines britischen Weltreichs – das macht die Einhegung der Differenzen immer komplizierter. Ein Problem ist, die Zeit spielt denen in die Hände, die auf das Chaos setzen. Als nach dem Referendum der UKIP-Chef Nigel Farage in einem Interview beschuldigt wurde, das Chaos herbeigeführt zu haben, lachte er laut auf und behauptete, es könne „gar nicht genug Chaos“ in Großbritannien geben. Dass es diesen Kräften gelingen konnte, eine Mehrheit für den Brexit zu mobilisieren, ist schwer auszuhalten. Und es wäre sehr einfältig, die Vorgänge um den Brexit nur unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu sehen. In allen Ländern der EU gibt es die kontrafaktische Erzählung von der EU als Ursache allen Übels und von der Alternative des Rückzugs auf den Nationalstaat. Und es wäre fatal zu glauben, dass man darauf mit einer einheitlichen, für alle Länder gleichen Erzählung antworten oder gegensteuern könnte: es braucht den Blick auf die historischen gewachsenen tradierten Befindlichkeiten –ergänzend zum Verständnis der gewachsenen Realität weltumspannender Zusammenarbeit und Beziehungen. Das Austarieren von Schaffung eines einheitlichen Wirtschafts- und Rechtsraumes mit den notwendigen und gewachsenen Strukturen der Selbstverwaltung und Steuerung muss für die EU auf der ständigen Tagesordnung stehen – und tatsächlich sind die Gestaltungsspielräume ständiges Thema auf den vielen Ebenen der Zusammenarbeit der EU-Staaten. Dass vielen dies nicht bekannt ist, und dass hier ganz andere Kaliber an Informationspflicht und Beteiligungsphilosophie aufgefahren werden müssen, ist allen deutlich vor Augen, die dem zerstörerischen Angriff der Nationalisten auf die EU entgegentreten.

Der Riss quer durch die Konservative Partei

Spekulationen darüber, wann Theresa May von ihren eigenen Konservativen gestürzt würde, haben sich in der Vergangenheit als müßig erwiesen. Wenn sie fiele, wäre dies für die Tories insgesamt ein sehr hohes Risiko. Es musste denn auch nicht May, sondern die Innenministerin Amber Rudd zurücktreten wegen des sogenannten Windrush-Skandals. Dabei ging es um den Umgang mit Einwanderern aus Karibikstaaten, die nach dem Zweiten Weltkrieg legal nach Großbritannien gekommen waren. Ihnen wurde 1971 das Bleiberecht zugesprochen. Viele machten ihren Status aber nie offiziell, häufig weil sie als Kinder mit ihren Eltern nach Großbritannien gekommen waren. Im Zuge von Gesetzesverschärfungen der britischen Regierung gegen illegale Einwanderung waren zuletzt auch diese Migranten und ihre Nachfahren in den Fokus geraten. Ohne gültige Papiere drohte ihnen die Abschiebung – außer sie konnten Belege für jedes Jahr vorweisen, das sie in Großbritannien lebten. Unter den Einwanderern aus der Karibik hatten die Maßnahmen Ängste ausgelöst, einige verloren ihre Arbeit oder verschuldeten sich, als sie versuchten, ihren Status nachzuweisen. May hat sich bei den Karibikstaaten aus dem Commonwealth entschuldigt – für die Betroffenen bleibt die Unsicherheit, welchen Schaden für das komplizierte Auskommen unterschiedlichster Milieus in der britischen Gesellschaft entstanden ist, ist kaum abzuschätzen. Die aufgehetzten und sich im Recht wähnenden Nationalisten und Rassisten haben seit Beginne der Brexit-Kampagne 2015 zahlreiche Straftaten begangen, bis hin zum Mord 2016 an der Abgeordneten Jo Cox durch einen Nationalisten, der bei der Tat ausrief: „Britain first“. Neuer Innenminister ist übrigens der ehemalige Deutsche-Bank-Manager und Euroskeptiker Sajid Javid geworden, der sich für einen Austritt Großbritanniens aus der Zollunion einsetzt.

* Anmerkungen zu Jeremy Adler: Der Autor ist Professor Emeritus für Germanistik am King‘s College in London. Zuletzt erschien von ihm „Das absolut Böse: Zur Neuedition von Mein Kampf“ (Donat Verlag).

01

info: Kommunalwahlen verschaffen den Tories Luft

Labour hatte sich für die Kommunalwahlen in England ein eindeutiges Signal gegen die Tories versprochen – und hat dieses Ziel krachend verfehlt. Die Personalie Jeremy Corbyn als Hoffnungsträger hat unter den Antisemitismus-Vorwürfen Federn gelassen – und der linke Flügel der Partei sieht sich nicht nur unter dem Druck der rechten Presse, sondern vor allem auch unter dem Feuer des pragmatischen Flügels. Die Tories verbuchten die Ergebnisse als positiv. „Mit dem Kommunalwahlergebnis ist nun wieder Raum entstanden, um in internen Debatten eine Lösung für die Quadratur des Kreises zu finden,“ schreibt die FAZ am 5. Mai. UKIP – in den Wahlen 2014 triumphierend – ist von der Landkarte verschwunden (die englische Presse spricht von „ausradiert“), die einst gehaltenen Mandate sind gleichermaßen an die Tories und an Labour gegangen. Die Kommunalwahlen zeigen die Probleme, die beide großen Parteien beim Aufbau einer nationalen Mehrheit haben werden: Labour wird in der Provinz einfach nicht vertraut, während die Tories in großen, liberalen Städten unter scharfer Beobachtung stehen. Beide Parteien hatten bei den Parlamentswahlen im Juni letzten Jahres riesige Stimmenanteile erzielt, von denen sie im Moment meilenweit entfernt sind.