Aus Politische Berichte Nr. 5/2018, S. 16 • InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

lektürebericht Branko Milanovic: Die ungleiche Welt

Rüdiger Lötzer, Berlin

Der Verfasser des hier rezensierten Werkes ist in dieser Zeitschrift schon einmal zitiert worden, im Zusammenhang mit der Diskussion um den globalen Freihandel, seine Folgen auf verschiedene Regionen der Erde und auf verschiedene Einkommensmilieus in den Regionen dieser Welt. Der 1953 in Belgrad in Jugoslawien geborene Wirtschaftswissenschaftler zählt zu den weltweit angesehensten Experten auf dem Gebiet der Ungleichheitsforschung und der Forschung über Einkommensverteilung. Er war viele Jahre leitender Ökonom der Forschungsabteilung der Weltbank und ist jetzt als Professor in Luxemburg und New York tätig.

Der Untertitel des Buches macht die drei Anliegen des Verfassers deutlich: „MIGRATION, das EINE PROZENT und die ZUKUNFT der MITTELSCHICHT.“ Es geht Milanovic um eine Untersuchung der Triebkräfte der internationalen Migrationsbewegungen. Armut und Perspektivlosigkeit sind für ihn noch immer treibende Kräfte dabei. Er ist besorgt über den enormen Wohlstand der reichsten Familien in der Welt, und über die von ihnen ausgehenden Bestrebungen, den, wie er es nennt, „demokratischen Kapitalismus“ durch ein plutokratisches System zu ersetzen. Und er macht sich Sorgen über die Zukunft der schwächer werdenden Mittelschicht, sowohl global wie in den einzelnen Staaten.

Milanovic erweitert die heute zumeist innerstaatlich geführte „Ungleichheitsdebatte“ um eine globale Perspektive und knüpft dabei in mancher Hinsicht an den französischen Ökonomen Thomas Piketty und dessen Studien zur langfristigen Entwicklung von Ungleichheit an („Das Kapital im 21. Jahrhundert“), ebenso an Überlegungen des US-Philosophen John Rawls und dessen (leider nur innerstaatlich gemeinte) Theorie der Fairness. Als langjähriger Weltbank-Ökonom hat Milanovic Zugang zu einer Fülle von Daten, die in den letzten Jahren in fast allen Ländern der Erde über die Entwicklung von Haushaltseinkommen erhoben worden sind. Zusätzlich verwendet er für seine Vergleiche die „Kaufkraftparitäten“ von Weltbank und anderen internationalen Einrichtungen. Dabei werden Einkommen in verschiedenen Ländern nicht nach den zwischen ihnen geltenden Devisenkursen, sondern anhand der tatsächlichen Preisunterschiede für vergleichbare Waren und Warenkörbe verglichen.

Hier noch einmal das Schaubild, mit dem Milanovic darstellt, wie in den 20 Jahren von 1988 bis 2008, also faktisch seit der Auflösung des RGW und der Öffnung Chinas für den Weltmarkt, sich die Realeinkommen aller Haushalte in der Welt, sortiert nach Dezilen bzw. Perzentilen (also Prozenten) des globalen Einkommensniveaus, entwickelt haben. Bis auf das ärmste Zehntel der Weltbevölkerung – zumeist in Afrika – und die unteren Einkommenszonen der westlichen Industriestaaten (das 8. und 9. Dezil in der globalen Einkommensverteilung) haben fast alle Haushalte in diesem Zeitraum, d.h. bis zur Finanzkrise der westlichen Welt in den Jahren 2008/2009, ihr reales Einkommen erhöhen können. Angetrieben wurde diese Entwicklung lange Zeit durch die enormen Einkommenszuwächse in China, später durch das wirtschaftliche Aufholen weiterer Staaten wie Indien, Rußland, Brasilien, Südafrika, Vietnam, Indonesien.

Diese Perspektive erweitert nicht nur den Blick in der Freihandelsdebatte, sie erweitert auch den Blick auf die Geschichte. Milanovic geht wie inzwischen viele Ökonomen auf der Welt davon aus, dass – vorausgesetzt, keine Katastrophen wie Kriege unterbrechen die derzeitigen Trends – etwa im Jahr 2050 der eurasische Kontinent wieder eine Einkommensverteilung erreicht haben wird, wie sie strukturell schon einmal, im 15. und 16. Jahrhundert, bestanden hat, allerdings auf einem sehr viel höheren Einkommensniveau als damals.

Eher „küstennahe“ große Regionen wie China, Vietnam, Indonesien, Indien auf dem asiatischen Kontinent werden in etwa gleich hohe Einkommen und Lebensstandards erreicht haben wie Westeuropa und die USA, während die Einkommen von eher „küstenfernen“ Regionen wie Rußland, die asiatischen Staaten entlang der „neuen Seidenstraße“, aber auch Rumänien, Bulgarien usw. zwar auch gestiegen sein werden, aber weniger als die der „küstennahen“ Gebiete.

Dieses Wieder-Aufholen von China, Indien, Vietnam, Indonesien usw. gegenüber Westeuropa und den USA beendet, so Milanovic, eine durch die englische und später angelsächsische Industrialisierung ausgelöste lange Periode der „nordatlantischen“ Vorherrschaft Westeuropas und der USA über den Rest der Welt. Sie geht aber – und das ist ein ziemlicher Wermutstropfen – mit einer dramatischen Vertiefung der sozialen Spaltung und der Ungleichheit in allen diesen Ländern einher. Auch diese analysiert und dokumentiert das Buch – und liefert damit wichtige Hinweise für die Gefahren einer Oligarchisierung und einer plutokratischen Entwicklung nicht nur in Rußland, USA, Türkei oder China, wie wir sie jetzt schon beobachten können, sondern auch in vielen anderen Ländern.

Lesenswert ist das Buch auch in anderer Hinsicht. So erweitert Milanovic die klassische und neoklassische ökonomische Theorie, indem er deren begrifflichen „Handwerkskasten“ um den Hinweis auf die sog. „Ortsrente“ erweitert. „Noch immer ist das Geburtsland eines Kindes der entscheidende Faktor für die Höhe seines zukünftigen Einkommens“, stellt schon der Klappentext fest, eine Beobachtung, die man schon bei einer einfachen Wanderung von Bayern über die bayerisch-tschechische Grenze sehen kann, die aber mit den Instrumenten der klassischen und neoklassischen Theorie bis heute nicht erklärt werden kann, aber in jeder Migrationsdebatte mit der Forderung nach Abschottung sofort auf den Tisch kommt.

Milanovic plädiert für eine liberale, weltoffene Migrationspolitik. Er warnt vor der plutokratischen Entwicklung der USA ebenso wie vor der wachsenden Fremdenfeindlichkeit und damit einhergehenden Abschottung in Europa. Gegen beide Tendenzen hofft er darauf, dass die Mittelschicht Mittel der Gegenwehr findet und damit erfolgreich ist.

Man muss nicht alle seine Vorschläge und Argumente zur Reform des Steuerrechts, des Staatsbürgerrechts oder für eine liberale Migrationspolitik teilen. Aber verglichen mit dem öden Nationalismus in der deutschen Ökonomie, vertreten durch Prof. Sinn und seine Gefolgsleute unter deutschen Wirtschaftsprofessoren, und dem ebenso öden Nationalismus in der Migrationsdebatte – bis hin zu Sahra W. und ihrer Gefolgschaft in der Linken – ist sein Buch erfrischend, anregend und lesenswert.

Abb. (PDF): Branko Milanovic, Die ungleiche Welt. Migration, das eine Prozent und die Zukunft der Mittelschicht. Erschienen im Suhrkamp Verlag Berlin. 312 S., 25 Euro.