Aus Politische Berichte Nr. 5/2018, S. 22 • InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

Kalenderblatt: 19.april - 1973 - Italien - Recht auf Bildung

01 Die „Hundertfünfzig Stunden“ – eine einzigartige italienische Besonderheit

02 Più polvere in casa – Meno polvere nel cervello. (Mehr Staub zuhause, weniger Staub im Kopf;

03 Abb. (PDF): ... sollen wir den Arbeitern jetzt auch noch Cembalounterricht bezahlen“

04 Öffnung des Theaters

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Die „Hundertfünfzig Stunden“ – eine einzigartige italienische Besonderheit

Paola Giaculli, Berlin

Zu den Errungenschaften aus erfolgreichen Kämpfen der Arbeiterbewegung Ende der 1960er und 70er Jahre in Italien gehören die so genannten „Hundertfünfzig Stunden“ – „150 Ore“, eine Freistellung zwecks (Weiter)bildung, etwas, was es zu dieser Zeit im kapitalistischen Westen nur in Italien gab. Dabei handelt sich nicht einfach um ein hart erkämpftes Arbeiterrecht, sondern um einen außerordentlichen Durchbruch der Arbeiterbewegung, die zu einem neuen Bewusstsein der Arbeiter über deren Rolle in der kapitalistischen Gesellschaft und zu einer nachhaltigen Veränderung der Gesellschaft führte. Außerdem brachte dies eine tiefe Veränderung der Bildungsinstitutionen und deren Rolle bei der Umsetzung von Grundrechten mit sich, die in der italienischen Verfassung verankert sind.

Am 19. April 1973 setzten die italienischen Gewerkschaften CGIL, CISL und UIL im flächendeckenden Tarifvertrag – zuerst für den Metallbereich und dann für alle Bereiche (zwischen Juni 1973 und Oktober 1974) – das Recht auf Bildung für alle Arbeiter*innen durch. Dieses bestand aus bezahlten 150 Stunden innerhalb von drei Jahren (einklagbar auch in einem einzigen Jahr) kombiniert mit 150 Stunden der eigenen Freizeit. Damals hatten über zwei Drittel der Arbeiter*innen noch keinen Schulabschluss, insbesondere keinen Realschulabschluss (Pflichtschule bis zur 8. Klasse). Was am Anfang eine zweitrangige Forderung schien, stellte sich als ein echter Durchbruch heraus, dem sich die Arbeitgeberverbände heftig, aber vergebens widersetzten. Bis dahin waren nur „Erleichterungen“ für arbeitende Schüler*innen bzw. Studierende vorgesehen. Diese bestanden lediglich in einer Freistellung, damit sie ihre Klausuren bzw. Prüfungen vorbereiten bzw. durchführen konnten.

„Zum ersten Mal in der Geschichte der Gewerkschaften sind die Betriebe und die öffentliche Schule zu gemeinsamen Zielorten einer und derselben Kampfstrategie geworden.“[1] Das heißt, zum ersten Mal wurde die Ambition der kulturellen Hegemonie von Seiten der subalternen Klassen in der kapitalistischen Gesellschaft in einem Tarifvertrag konkretisiert. Auf diese Weise sollte die Fortbildung der Arbeitnehmer*innen nicht mehr nach den Interessen der Wirtschaft bzw. nach der „Produktionslogik des Kapitals“ erfolgen, sondern nach eigenen Interessen. Es handelte sich um das Recht aufs unabhängige Lernen, das anerkannt und im Tarifvertrag verankert wurde. Die Arbeitergeber versuchten vergebens auf die „Absurdität“ der Forderung mit der Frage hinzuweisen, ob die Arbeiter jetzt auch noch das Recht auf Cembalounterricht hätten (siehe Bild). Selbstverständlich!, lautete die Antwort der Gewerkschaften .[2]

Hunderttausende Arbeiter nutzten dieses Recht auf Zugang zu Bildung. Neben der Nachholung des Schulabschlusses war das „kulturelle Wachstum der Arbeiterklasse und ihre Geschlossenheit“ das Hauptziel. „Ich wollte nicht durch den Schulabschluss Lohngewinne erreichen oder Abteilungsleiter werden“, meint einer der Betroffenen, „sondern ich hatte ein kulturelles Bedürfnis, das ich wegen Mangel an finanziellen Mitteln nicht befriedigen konnte, denn ich komme aus einer Arbeiterfamilie.“ Dann wird den Arbeitern klar, dass sie selbst Akteure der Bildung seien, denn die traditionelle Lehre vertrete die herrschende Klasse, wie eine Lehrerin betont. Sie wollten aus ihrer eigenen konkreten Erfahrung ausgehen, um zu verstehen, wie die Realität bzw. die kapitalistische Gesellschaft funktioniert. Dadurch entsteht eine wechselseitige Beziehung mit den Lehrern und den Bildungsinstitutionen, deren Rolle und Programme in Frage gestellt werden. „Die Fabrik und die kapitalistische Organisation werden zum Schulfach der Arbeiter, die durch die Aneignung von Kenntnissen die Bindung zwischen Wissenschaft und technischer Aufteilung der Arbeit brechen.“

Bildungsinstitutionen und Gebietskörperschaften standen in der Pflicht, in Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften, in den öffentlichen Schulgebäuden Kurse zu organisieren. Zusätzliche Lehrer wurden eingestellt. Die Inhalte der Kurse wurden durch die Teilnehmenden mitbestimmt. Für diese war es wichtig, unter anderem etwas über die gesundheitlichen Gefahren ihrer Arbeit zu erfahren und möglichst Mediziner als Verbündete im Kampf für ihre Rechte zu gewinnen.

Das Recht auf die 150 Stunden stellt eine Brücke zwischen Arbeit und Schule dar. Das führte zu einer neuen Vorstellung des Wissens und der Überwindung der Trennung zwischen formal und nicht formal erworbenem Wissen. Durch die Demokratisierung des Zugangs zur Bildung kam es zu einem Gesellschaftswandel. Intellektuelle und Uniprofessoren selbst öffneten ihre Kurse den Arbeitern und ließen Gewerkschaften unterrichten. Ehemalige Studierende, die früher mit den Arbeitern auf Demos marschiert waren, wurden selbst Lehrer der 150-Stunden-Kurse. „Die 150 Stunden waren eine Arbeiterschule, deren Protagonisten zuerst die Arbeiter und dann die Frauen wurden, gemeinsam mit den Avantgarden der Studierenden und der Feministinnen (…). Es handelte sich dabei nicht um Bildung für Erwachsene nach angelsächsischem Muster. Es war ein kulturelles Experiment der Gewerkschaftsavantgarden.“[3]

Wichtige Voraussetzungen der 150 Stunden waren einerseits die einheitliche Tarifeinstufung („inquadramento unico“ durch die Metallgewerkschaften 1972) bzw. Abschaffung der Trennung zwischen Arbeitern und Angestellten (und sogenannten Technikern) und andererseits dezentrale Tarifverhandlungen. Die erste stellte die hierarchische Arbeitsorganisation in Frage. Letztere ermöglichte Gewerkschaftern und Unternehmen die gemeinsame Planung der Arbeitsorganisation vor Ort (Schichten usw.), um das individuelle Arbeiterrecht auf die 150 Stunden zu gewährleisten.

1 Zitate aus dem Dokumentationsfilm „Le 150 ore“ (1974) zu den Tarifverhandlungen mit Dialogen und Interviews mit Gewerkschaftern und Arbeitern, Erfahrungen im Austausch (in ital. Sprache) http://patrimonio.aamod.it/aamod-web/film/detail/IL8600001490/22/le-150-ore.html?startPage=0&idFondo=

2 Die Zeitschrift „FAbb. (PDF): rica e Stato -Inchiesta“ titelte (Juli-August 1973) ironisch: „150 ore -Suonata per i padroni“, „150 Stunden, eine Sonate für die Bosse“ – Wortspiel für: die Bosse in die Pfanne hauen.

3 Paola Melchiori, „Le 150 ore, un esperimento di vita e di cultura“, http://www.universitadelledonne.it/le_150_ore.htm

Zusätzlicher Literaturhinweis: Piero Causarano, Unire la classe, valorizzare la persona (2015). https://www.researchgate.net/profile/Pietro_Causarano/publication/282201276_Unire_la_classe_valorizzare_la_persona_L%27inquadramento_unico_operai-impiegati_e_le_150_ore_per_il_diritto_allo_studio/links/563b2de408ae337ef298aacd/Unire-la-classe-valorizzare-la-persona-Linquadramento-unico-operai-impiegati-e-le-150-ore-per-il-diritto-allo-studio.pdf?origin=publication_detail (alle Publikationen nur in italienisch verfügbar)

02

Più polvere in casa – Meno polvere nel cervello. (Mehr Staub zuhause, weniger Staub im Kopf;
Losung einer Hausfrau in einem Flugblatt)

Die Feministin Lea Melandri (selbst Lehrerin der 150 ore) erzählt von ihrem Erstaunen darüber, dass, als sie in einer Klasse in der Vorstadt Mailands ankam, nur Frauen – Hausfrauen! – auffand! Das Recht auf Zugang zu Bildung war eigentlich nur für Beschäftigte vorgesehen, aber da die Kurse für alle offen waren, waren plötzlich auch Hausfrauen dabei. Fotos eines 150-Stunden-Kurses (Lea Melandri)

Quelle: http://www.hotpotatoes.it/2018/04/25/piu-polvere-in-casa-meno-polvere-nel-cervello-di-marcella-toscani/

Abb. (PDF): Fotos

03

Abb. (PDF): Das haben die Arbeitgeber dann davon gehabt. Ihre Äußerung „sollen wir den Arbeitern jetzt auch noch Cembalounterricht bezahlen“ wurde zu einer Metapher für die erfolgreiche Etablierung einer Facette des Rechts auf einen Zugang zu Bildung. (Titelbild einer Spezialausgabe der Zeitschriften Inchiesta und FAbb. (PDF): rica e stato vom Juli/August 1973).

04

Öffnung des Theaters

Rolf Gehring, Brüssel

Piere Paolo Passolini hinterliess ein umfangreiches Oeuvre, das zuallererst mit seinem filmischen Schaffen verbunden wird. Seine Auseinandersetzung mit den Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft, den sie beherbergenden Charakteren, dem Zerfall gesellschaftlicher Strukturen, den er im Italien der sechziger und siebziger Jahre sah oder seine Auseinandersetzung mit faschistoiden Tendenzen, die er als eine neue Form sah, gerichtet auf die Auslöschung des Andersseins und der kulturellen Differenzen, vor allem aber seine Befassung mit dem harten Leben am Rande der Gesellschaft, finden sich allerdings sowohl in seinem literarischem Schaffen, dem filmischen, aber auch dem Theaterschaffen.

Ende der sechziger Jahre skizzierte er eine ganze Reihe von Theaterstücken und legte einen Ansatz für eine neue Form von Theater vor, das sich, anders als Buch oder Film, nicht von den Massenmedien vereinnahmen ließe. 1968 legt er ein 43 Punkte umfassendes Manifest für ein neues Theater vor. Interessant dabei ist, dass er dem Theater seine (durchaus elitäre) Funktion in der Gesellschaft lässt, sie aber neu ausdeutet. Theater könne ein Austausch zwischen Intellektuellen und der Arbeiterschaft sein, Theaterstücke könnten in Fabriken, Schulen oder Kulturzirkeln aufgeführt werden. Es brauche ein Theater der Worte (teatro di parola), das keine Lösungen anbiete, sondern die Probleme erschließe. Das Szenische solle zurücktreten und das Für und Wider, also die Auseinandersetzung in den Vordergrund treten. Didaktisch gewissermaßen Theater als Diskussionsforum oder doch zumindest als Anregung fürs eigene Weiterdenken, aus der eigenen Position heraus.

Unabhängig davon, ob man Pasolinis theoretische Ableitungen nachvollziehen mag, hat er ein weiteres Tor geöffnet, das Bildungszugänge in gesellschaftlichen Bereichen öffnete, die vormals eher geschlossen waren. Ohne das Theater sozusagen aufzuheben sollte auch dieses Medium für die einfachen Menschen zugänglich werden. Der 150 Stunden Tarifvertrag wurde dann gewissermaßen eine der erschwinglichen Eintrittskarten.

Quelle: Italienisches Theater des 20. Jahrhunderts in Einzelinterpretationen. Berlin 2008

Abb. (PDF): Pier Paolo Pasolini (* 5. März 1922 in Bologna; † 2. November 1975 in Ostia)