Aus Politische Berichte Nr. 6/2018, S. 05a • InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

Wahlen in der Türkei: Das Ergebnis der HDP entscheidet

Rudolf Bürgel, Karlsruhe

Am 24. Juni finden die vorgezogenen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei statt. In Deutschland können die Wahlberechtigten vom 7. bis 19. Juni in den Konsulaten ihre Stimmen abgeben. Den Wahlen kommt eine hohe Bedeutung zu, sie entscheiden unter anderem über den Fortgang des Angriffskrieges gegen Syrien und den Irak und Krieg oder Frieden in den kurdischen Gebieten der Türkei.

Nach den derzeitigen Wahlumfragen zeichnet sich folgendes Bild ab:

Bei den Präsidentschaftswahlen erhält Recep Erdogan 42 % (Kandidat der AKP, MHP und BBP), Muharrem Ince (CHP) 22,5 %, Meral Aksem (Iyi Partei) 19 %, Selahattin Dermitas 8 bis 13 %. Damit wäre ein zweiter Wahlgang am 8. Juli nötig, dessen Ausgang auch knapp würde.

Bei den Parlamentswahlen könnte die regierende AKP/MHP, die zusammen mit der rechtsnationalen-islamistischen BBP als Volksallianz antreten, die parlamentarische Mehrheit von 301 Sitzen verfehlen. Die Umfragen sagen für AKP-MHP-BBP 48 % voraus. Das nationalistisch-kemalistische „Bündnis der Nation“ von CHP, Iyi Partei und Saadet Partei käme auf 40 bis 42 %, die HDP auf 10 bis 12 %.

Es besteht derzeit wohl eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass das derzeitige Regierungsbündnis die parlamentarische Mehrheit verliert, als dass Erdogan die Präsidentschaftswahl verlieren wird. Für diesen Fall hat Erdogan schon mit Neuwahlen gedroht, denn dann könnte das Parlament seine Entscheidungen revidieren. Die Verfassungsänderung, die das Präsidialregime in der Türkei einführt, tritt mit dem Amtsantritt des neuen Präsidenten in Kraft. Diese verbindet aber die Wahl von Präsident und Parlament. Würde Erdogan dann das Parlament auflösen, müsste er sich erneut zur Wahl stellen.

In beiden Wahlen hängt es also besonders von den Stimmen für Selahattin Demirtas und die HDP ab. Sollte die HDP unter 10 % bleiben, fallen die Stimmen zu ca. 90 Prozent der AKP zu und sie hat 54 bis 55 Abgeordnete mehr. Erreicht die HDP 10,5 %, macht das 65 bis 67 Abgeordnete aus. Dann hätte weder die Volksallianz noch das Bündnis der Nation eine Mehrheit im Parlament.

Entscheidend wird es auf die Auslandsstimmen ankommen. Von ihnen haben in den letzten Wahlen die AKP und die HDP profitiert. Die Auslandsstimmen werden anteilmäßig auf die Wahlkreise in der Türkei verteilt, was zu erheblichen Verschiebungen führt.

Beeinflusst werden die Wahlen auch durch die schlechte wirtschaftliche Situation der Menschen. Die Türkische Lira befindet sich auf einer rasanten Talfahrt, ca. 20 Prozent Verfall gegenüber Dollar oder Euro. Gleichzeitig haben sich die Lebensmittelpreise um bis zu 18 % verteuert. Das bedeutet, dass sich die soziale Lage drastisch verschlechtert und die Menschen selbst von einem durchschnittlichen Einkommen kaum über die Runden kommen. Erdogan sah sich genötigt aufzurufen, doch private Dollar- oder Eurobestände in Lira umzutauschen, um die Währung zu stützen.

Hinzu kommt, dass Hunderttausende im Zuge des Ausnahmezustands ihre Arbeit verloren haben. Sie wurden aus dem öffentlichen Dienst entlassen oder ihre Betriebe oder Einrichtungen wurden per Dekret zwangsgeschlossen.

Der UN-Menschenrechtskommissar Zeid Ra’ad al-Hussein forderte im Mai die Türkei auf, den andauernden Ausnahmezustand sofort aufzuheben. Er verurteilte die anhaltenden Einschränkungen von Menschenrechten, Meinungsfreiheit oder Versammlungsfreiheit. „Es sei schwer vorstellbar, wie glaubwürdige Wahlen abgehalten werden könnten, wenn regierungskritische Meinungsäußerungen ‚schwer bestraft‘ würden, erklärte Hussein. Die Regierung müsse den Bürgern ermöglichen, ‚vollständig und auf Augenhöhe‘ an den Staatsangelegenheiten teilnehmen und sowohl wählen, als auch gewählt werden zu können.“ (spiegel-online, 9.5.)

Die AKP-MHP-Regierung versucht alles, um ihre mögliche Abwahl abzuwenden. So wurde eine ganze Reihe von Änderungen im Wahlgesetz beschlossen. Die gravierendsten betreffen die Eindeutigkeit der Stimmzettel und die Auszählung. Jetzt können Stimmzettel ohne Stempel als gültige Stimmen gewertet werden, was der Manipulation Tür und Tor öffnet. Die Auszählung soll zentral stattfinden, nicht wie bisher in den einzelnen Wahllokalen. Dagegen sind Klagen anhängig. Weiter ist in vielen Regionen nun der Einsatz bewaffneter Kräfte in den Wahllokalen erlaubt. Die Hohe Wahlkommission (YSK) hat die Möglichkeit zum Wählen für viele Menschen in den kurdischen Gebieten und Hochburgen der HDP eingeschränkt. Die Wahllokale wurden aus vielen Dörfern abgezogen und zentralisiert. In der Erklärung des YSK heißt es dazu: „Aus Sicherheitsgründen haben wir entschieden, die Urnen für 144.000 Wählern zu verlegen.“ (ANF, 30.5.)

In vielen kurdischen Städten ist der HDP von den Zwangsverwaltungen untersagt worden, mit Plakaten oder Fahnen öffentlich Wahlwerbung zu machen. In den Städten der Westtürkei und Ankara werden immer wieder Informationsstände der HDP angegriffen. Täglich werden HDP-Wahlkomitees und -Wahlhelfer verhaftet – nicht einzelne, sondern möglichst an einem Ort alle, deren man habhaft werden kann.

Die Linke ruft zur Wahl und zur Unterstützung ihrer Schwesterpartei HDP auf. Zur Wahlbeobachtung werden Abgeordnete der Linken aus Landtagen, dem Bundestag und dem Europaparlament fahren. Die parlamentarische Versammlung des Europarats wird ebenfalls mit über 30 Abgeordneten die Wahlen beobachten.

Informationen über die Arbeit und mögliche Unterstützung können unter www.hdp-deutschland.org bezogen werden. Eine mögliche Unterstützungsaktion ist das Verschicken von Postkarten an Selahattin Dermitas in das Gefängnis von Edirne. Diese sind unter info@hdp-deutschland.org erhältlich.