Aus Politische Berichte Nr. 6/2018, S. 20 • InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

„Neue Zeiten, neue Antworten“ - Bündnis90/Die Grünen haben einen neuen Programmprozess begonnen

Dr. Harald Pätzolt, Berlin, Mai 2018

Ablauf der Programmdebatte

Am 13./14.4.2018 haben die Grünen mit einem Startkonvent eine Programmdebatte eröffnet, die bis zum Frühjahr 2020 zu einem neuen Grundsatzprogramm führen soll. Im Herbst 2018 soll es auf der Bundesdelegiertenkonferenz eine programmatische Debatte geben, danach wird eine Schreibgruppe die Arbeit aufnehmen, die dann im Frühjahr 2019 einen ersten Entwurf des neuen Grundsatzprogrammes vorlegen soll. Es wird ein Jahr der Arbeit daran folgen. Dabei werden Mitglieder nach ihren Prioritäten für die Debatte befragt, Online-Beteiligungsformate genutzt und Regionalforen in Landes- und Kreisverbänden durchgeführt werden. Das soll bis zur BDK im Frühjahr 2020 laufen, auf der, pünktlich zum 40. Geburtstag der Partei, das neue Programm dann beschlossen werden soll.

Das aktuelle Grundsatzprogramm der Grünen „Die Zukunft ist grün“ ist, 2002 beschlossen, in die Jahre gekommen. Zum Vergleich: Das der Linken stammt von 2011, die von CDU, CSU und SPD von 2007, die FDP legte sich 2012 zuletzt programmatisch fest.

Es sei, so die Grünen „In dieser Zeit… viel geschehen, die Welt hat sich weiter gedreht. Neue Technologien sind entstanden, neue Fragen stellen sich. Darauf wollen wir grüne Antworten geben.“

Themenbereiche der Programmdebatte

Entsprechend der Beschlüsse des Bundesvorstandes vom 6.4.2018 und des Länderrates vom 14.4.2018 soll die Debatte zu sechs Themenbereichen eröffnet werden:

1. Der Mensch in der vom Mensch gemachten Umwelt: Neue Fragen der Ökologie

2. Der Mensch als Kapital oder das Kapital für die Menschen: Neue Fragen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik

3. Der Mensch und die Maschine oder der Mensch als Maschine: Neue Fragen in der Digitalisierung

4. Der Mensch und das Leben: Neue Fragen in der Wissensgesellschaft und Bioethik

5. Der Mensch in einer Welt in Unordnung: Neue Fragen für Europa, die Außen-, Sicherheits-, Entwicklungs- und Menschenrechtspolitik

6. Der Mensch und der Mensch und der Mensch: Neue Fragen einer vielfältigen Gesellschaft

Die Grünen 4.0?

Robert Habeck lieferte in seinem Buch „Wer wagt, beginnt. Die Politik und ich“ (S. 26f.) mit seinem Entwicklungsstufenmodell der Partei eine Art Entstehungs- und Entwicklungsmythos: Entstanden seien die Grünen (1) als eine Protestpartei, die dann (2) danach eine „Rot-Grüne Projektpartei“ wurde, um heute (3) eine Existenz als „Spagat-Partei“ führt, die je nach Wahlergebnis und Verhandlungserfolg Koalitionen mit der CDU oder der Linken eingeht.

Mit dem Programmprozess soll nun die 4. Entwicklungsstufe soll eingeleitet werden: „Seit 2005 regieren wir in den Ländern in verschiedenen Bündnissen, und waren im Bund in der Opposition. Es war, wenn wir ehrlich sind, eine Zeit wie ein Spagat, in der wir gelernt haben, aus uns selbst heraus stark zu sein. Aber im Spagat kommt man nicht voran. Und angesichts der Veränderungen in unserer Gesellschaft und in unserem Parteien-system, angesichts eines erstarkenden Rechtsnationalismus reicht ein Spagat für uns als Partei nicht mehr aus.“

Die die Grünen im letzten Bundestagswahlkampf auszeichnende Geschlossenheit soll so eine programmatische Basis bekommen. Aber das ist nicht alles. Wer Neues will, dass wissen Habeck & Co., der muss einen Strich ziehen unter das Gewesene, es dabei nicht verdammen, sondern ein positives Resümee ziehen. Und die neue Grünen-Führung will mehr. In den Milieus, in denen die Grünen heute stark sind, wählen Viele noch nicht grün, sondern SPD, FDP und auch Die Linke. Und die Milieus suchen nach guten politischen Adressen für ihre Wünsche und Interessen. Grün will breiter werden, will wachsen. Darum der Neubeginn.

Es ist bereits bemerkt und kommentiert worden, dass mit dem Generationenwechsel auch ein Stilwechsel bei den Grünen einhergeht. Die Sprache weniger politisch korrekt, dafür ungenauer, unschärfer die Begriffe, Vergleiche und Bilder lassen Spielräume für Interpretationen. Die Menschen sollen individuell angesprochen werden; Ziel ist ein kulturelles Crossover, positiv und ohne oberlehrerhafte Attitüde.

Erste inhaltliche Positionsbestimmungen

Beim Thema Ökologie klingt nicht Skepsis, aber doch Ernüchterung an. Man komme zu langsam voran. Alte Groß-Gewissheiten der Art, dass ohne Wachstum alles gut würde, werden, nachdenklich, mit Fragezeichen versehen, als unbedingt notwendig Erkanntes entschlossen, kämpferisch unterstrichen: Ein neues Welthandelssystem, Strukturwandelfonds, eine ökologische Steuerreform usw.

Das Muster widerholt sich bei den anderen Themen. Ruhig, sachlich und sehr nüchtern wird konstatiert, dass die Regeln der sozialen Marktwirtschaft von der Globalisierung außer Kraft gesetzt werden. Es wird die Frage gestellt, welche neuen Institutionen aber dann als Fundament einer neuen Gemeinschaftlichkeit geschaffen werden sollten. Wie soll mit öffentlichen Gütern einer alternden Einwanderungsgesellschaft künftig umgegangen werden? Entschieden werden Garantiesicherungen für alle Menschen gefordert, ohne die geht es nicht. Solidarität, Daseinsvorsorge und Allgemeinwohl, ja, der Begriff, vor Jahrzehnten abgelegt, kehrt zurück, sind künftig nur zu haben, wenn politische Macht, demokratisch genommen, stärker wird als es neue und alte Monopole sein werden.

Beim Thema Digitalisierung singen die Grünen weder das Loblied der schönen neuen Roboterwelt noch lassen sie allzu düstere Wolken über uns erscheinen. Es soll die Verantwortung dem Menschen bleiben, die Selbstbestimmung auch. Und ganz konkret verlangen die Grünen umgehende Aufwertung des Pflegeberufs, ordentliche Löhne. Wer Mensch-zu-Mensch-Beziehungen nicht menschlich regelt, der sollte über Mensch-Maschine-Beziehungen keine Verfügung bekommen. Es soll darüber diskutiert werden, ob „ob der effizientere Pflegeroboter mit seiner kalten Hand wirklich unserer Oma über die Wange streichen dürfen soll“.

Auf diese Art und Weise geht es dann auch durch die Themen der Wissenschaftsgesellschaft, der Welt-Unordnung und der pluralen, offenen Gesellschaft hindurch. Natürlich, möchte ich meinen, werden hier eben bestimmte Milieus angesprochen, die sogen. Kosmopoliten, die Modernisierungsbefürworter. Und ja, es kommen die Alltagssorgen und -nöte der kleinen Leute, kommt Armut in concreto nicht vor. Sicher, es werden Macht- und Eigentumsfragen nicht so gestellt, wie sie wohl aus unserer linken Sicht zwingend zu stellen wären. Und wie linke Grüne es auch weiterhin tun.

Linke bei den Grünen nicht mehr Flügel, sondern relevante Minderheit? Debatten im Umfeld Antje Vollmer und Ludger Volmer sehen die Grünen „kraft- und mutlos“. Sie attestierten ihrer Partei, dass ihre „einstigen Grundwerte zerbröselt, abgeschliffen und einige ganz verschwunden sind“. Eine „Neuformierung“ der Linken sei notwendig, da die „alten Modelle niemand mehr retten“ und „viele Grüne aus den Gründerjahren sich heute politisch heimatlos fühlen“.

Jürgen Trittin sieht in seinen zehn Thesen, er hatte sie bei einem Treffen linker Grünen vier Wochen vor dem Startkonvent vorgestellt, „die größte Baustelle dieser Gesellschaft“ im Thema der Gleichheit. „Der Kampf für mehr Gleichheit muss die Antwort auf eine Gesellschaft wachsender Ungleichheit, Ausgrenzung und Prekarisierung sein.“ Rechte Mehrheiten beruhen für ihn auf der „Ausgrenzung und Demobilisierung bestimmter Bevölkerungsschichten“. Daher ginge es darum, „die Demobilisierten wieder zu mobilisieren“, um mittelfristig zu einer „machtpolitischen Alternative links der Mitte“ zu kommen.

Diese Positionen finden sich in den bisher vorliegenden Beschlüssen so nicht, es könnte darum in der Programmdebatte auch gehen.

Fazit

Werden die Grünen sich also neu erfinden? Es bleibt abzuwarten. Das Parteiensystem ist instabil, die Umbrüche in der Gesellschaft, hier, in Europa und weltweit, sind epochal, es gibt viel neu zu bedenken.

Auch die SPD ist programmatisch auf der Suche, will sich erneuern, die Union ist im Kulturkampf und schließlich ist die AfD immer noch ein „gäriger Haufen“.

Für Die Linke sollte der alte Spruch gelten: Willst Du nicht wie ein Stein untergehen, dann fang an zu schwimmen!

info Beschlüsse und Texte zum Programmprozess der Grünen

„Neue Zeiten. Neue Antworten.“ Impulspapier des Bundesvorstandes zum Startkonvent für die Grundsatzprogrammdebatte von Bündnis 90/Die Grünen. Beschluss des Bundesvorstands vom 6.4.2018 URL: https://www.gruene.de/fileadmin/user_upload/Dokumente/Beschluesse/Beschluesse_BuVo/20180406_Beschluss_Neue_Zeiten._Neue_Antworten..pdf

„Neue Zeiten. Neue Antworten.“ Der Weg zum neuen Grundsatzprogramm. Beschluss des Länderrates vom 14.4.2018 URL: https://www.gruene.de/fileadmin/user_upload/Dokumente/Beschluesse_Laenderrat/GA-01_Beschluss_Neue_Zeiten__Neue_Antworten_Der_Weg_zum_neuen_Grundsatzprogramm_.pdf

Berichterstattung der Grünen zum Programmprozess URL: https://www.gruene.de/ueber-uns/2018/grundsatz-wird-programm.html

Robert Habeck: „Wer wagt, beginnt. Die Politik und ich“. Kiepenheuer, Köln, 2016

Jürgen Trittin: „Der progressive Pol werden – 10 Thesen für Linke in Mitte“ vom 18.3.2018, veröffentlicht am 26.3.2018 URL: https://www.trittin.de/2018/03/26/der-progressive-pol-werden-10-thesen-fuer-linke-in-mitte/

Antje Vollmer/Ludger Volmer: „Die Grünen? Sie sind kraftlos und mutlos“. Berliner Zeitung vom 12.04.2018 URL: https://www.berliner-zeitung.de/politik/meinung/gastbeitrag-die-gruenen--sie-sind-kraftlos-und-mutlos-30008570