Aus Politische Berichte Nr. 6/2018, S. 22 • InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

Kalenderblatt --- 10. Oktober 1903 - Grossbritannien

01 Gründung der WSPU – Die soziale und politische Union der britischen Frauen. Bill Lawrence, Newcastle Upon Tyne

02 1903 – Mary Macarthur & die Gründung von Frauengewerkschaften. Bill Lawrence, Newcastle

03 Film: „Suffragetten – Taten statt Worte“ brachte die britische Regisseurin Sarah Gavron 2015 in die Kinos. Eva Detscher, Karlsruhe

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Gründung der WSPU – Die soziale und politische Union der britischen Frauen

Bill Lawrence, Newcastle Upon Tyne

In Großbritannien war 1903 der Schrei „Votes for Women“ (Wahlrecht für Frauen) unüberhörbar geworden, und auf dem Labour-Parteitag im Jahr davor hatte Emmeline Pankhurst für heftige Kontroversen gesorgt, als sie vorschlug: „Um die wirtschaftliche und soziale Lage der Frauen zu verbessern, ist es notwendig, unverzüglich Maßnahmen zu ergreifen, um die Gewährung des Wahlrechts für Frauen zu den gleichen Bedingungen wie für Männer sicherzustellen.“ Der Parteitag akzeptierte dies nicht, stattdessen wurde eine Resolution, die ein „Erwachsenenwahlrecht“ forderte, zur Parteipolitik.

Pankhurst wurde für ihre Ansichten heftig angegriffen. Sie verließ nach ihrer Niederlage die Labour Party und gründete die „Women‘s Social and Political Union“ (WSPU), deren Hauptziel es war, arbeitende Frauen zum Kampf für das Wahlrecht zu bewegen. Sie beschloss, die Mitgliedschaft auf Frauen zu beschränken und gab den Leitspruch aus: „Taten, nicht Worte sollten unser ständiges Motto sein.“

Die Gründung der WSPU hat nicht nur die Labour Party erschüttert, damals die einzige Partei, die das allgemeine Wahlrecht unterstützte, sondern auch die National Union of Women‘s Suffrage Societies (NUWSS). Diese hatte bereits im Jahr 1897 17 Frauengruppen vereinigt, die sich um die Frage des Stimmrechts herum gegründet hatten und sich daher „Suffragettes“ (Wahlstimmen) nannten. Einige waren schon lange in dieser Sache aktiv, hatten schon die Abstimmung gefordert, bevor das Parlament 1870 das erste Frauenwahlrecht überhaupt einmal diskutiert hatte.

Emmeline Pankhurst war 1872 zur Kampagne gekommen, als sie sich als 14-jährige Schülerin mit ihrer Mutter einer Suffragette-Kundgebung in Manchester anschloss. In der neu gegründeten WSPU kamen nun auch ihre eigenen Töchter Christabel, Sylvia und Adele hinzu. Frauen aus wohlhabenden und angesehenen Familien stießen zur Bewegung. Darunter war z.B. auch Octavia Wilberforce, Urenkelin von William Wilberforce: sie hatte die Kampagne zur Beendigung der Sklaverei im britischen Empire angeführt.

An der WSPU kam von allen Seiten Kritik, denn viele sahen sie als eine Gruppe, die das Wahlrecht nur für wohlhabende Frauen durchsetzen würde, während die große Gruppe von Frauen, die nicht wohlhabend waren, sondern arbeiteten oder sich sonst durchs Leben schlagen mussten, ohne Wahlrecht bleiben sollten. Es war tatsächlich eine Schwäche der WSPU, dass sie nur wenige Arbeiterinnen in ihrer Mitgliedschaft hatte.

Eine dieser wenigen war Annie Kenney, die im Alter von zehn Jahren begonnen hatte, in einer Baumwollfabrik in Oldham bei Manchester zu arbeiten. Zum Lesen ermutigt durch ihre Mutter, entwickelte sie als Teenager ein starkes Interesse an der Literatur. Inspiriert von radikalen Zeitschriften trat sie der Independent Labour Party (ILP) – die Unabhängige Partei der Arbeit – bei und hörte gemeinsam mit ihrer Schwester Jessie 1905 bei einem ILP-Treffen Christabel Pankhurst über Frauenrechte sprechen. Sie war so beeindruckt, dass sie der WSPU beitrat.

Als die WSPU eine Niederlassung im Londoner East End – in den Docklands – eröffnete, verließ Annie die Fabrik im Norden des Landes und arbeitete zusammen mit Sylvia Pankhurst für die Organisation.

Elizabeth Crawford, Autorin der „Geschichte der Suffragetten-Bewegung“ – The Suffragette Movement (1999) schreibt über Annie: „Mit 21 Jahren war sie die jüngste Organisatorin der WSPU und organisierte Treffen, Werbekampagnen, Störungen von Kabinettssitzungen und – im Laufe der Zeit – auch militante Aktionen.“

Am 13. Oktober 1905 nahmen Annie Kenney und Christabel Pankhurst an einem Treffen zur Anhörung eines Regierungsministers teil. Während er sprach, riefen die beiden Frauen ständig: „Wird die Regierung den Frauen eine Stimme geben?“ Als die Frauen sich weigerten, mit dem Skandieren aufzuhören, wurde die Polizei gerufen, um sie aus der Versammlung zu entfernen. Kenney und Pankhurst weigerten sich zu gehen und während des Kampfes behauptete ein Polizist, die beiden Frauen hätten ihn getreten und bespuckt. Sie wurden verhaftet und wegen Körperverletzung angeklagt. Annie und Christabel wurden der Körperverletzung für schuldig befunden und mit einer Geldstrafe von je fünf Schilling belegt. Als die Frauen sich weigerten, die Strafe zu zahlen, wurden sie ins Gefängnis gesteckt. Der Fall schockierte die Nation. Zum ersten Mal in Großbritannien hatten Frauen mit Gewalt versucht, das Wahlrecht durchzusetzen.

Im Mai 1906 führte Annie, verkleidet als stereotypes Fabrikmädchen in Holzschuhen und mit Umschlagtuch, eine Gruppe von Frauen ins Haus des Schatzkanzlers. Nachdem sie ununterbrochen geklingelt hatte, wurde sie verhaftet und zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt.

Kenney sollte in den nächsten sechs Jahren mehrmals ins Gefängnis gehen.

Als Christabel Pankhurst 1912, um der Verhaftung zu entgehen, nach Frankreich floh, wurde Annie die Leitung der WSPU in London übertragen. Jede Woche reiste Annie nach Paris, um Christabels neueste Anweisungen entgegenzunehmen – welcher Organisator sollte wo platziert werden, Rundschreiben, Fundraising, Lobbying-Abgeordnete usw. Es war der Beginn einer mehr als zwei Jahre währenden Mantel-und-Degen-Existenz. Freitags nahm Anni in abenteuerlicher Verkleidung das Boot nach Le Havre, während der Woche arbeitete Annie den ganzen Tag im Hauptquartier der Gewerkschaft und traf dann um Mitternacht Aktivisten in ihrer Wohnung, um über illegale Aktionen zu sprechen. Christabel hatte die Eskalation der militanten Aktionen angeordnet, einschließlich der Verbrennung leerer Häuser, und es fiel Annie zu, diese Überfälle zu organisieren. 1912 begann die WSPU eine Kampagne zur Zerstörung des Inhalts von Briefkästen. Bis Dezember – so meldete die die Regierung – seien über 5 000 Briefe von der WSPU beschädigt worden. Die WSPU startete auch eine weitere Brandstiftungskampagne. Sie versuchten die Häuser von zwei Regierungsmitgliedern niederzubrennen, die sich gegen das Frauenwahlrecht ausgesprochen hatten.

Annie Kenney wurde im April 1913 wegen „Aufruhrs“ angeklagt, für schuldig befunden und zu achtzehn Monaten Gefängnis verurteilt. Annie ging sofort in den Hungerstreik.

Der Ausbruch des Großen Krieges 1914 beendete die militante Kampagne der WSPU. Emmeline Pankhurst verkündete, dass alle Kämpfer „für ihr Land kämpfen müssten wie sie für das Wahlrecht gekämpft hatten“. Sie führte eine Rekrutierungskampagne unter Männern durch. Dieser autokratische Schritt wurde von vielen Mitgliedern nicht verstanden oder sogar verurteilt. Sie waren durchaus bereit, Anweisungen für den Kampf um das Wahlrecht entgegenzunehmen und auch auszuführen, aber sie waren nicht damit einverstanden, auf Befehl in einem Weltkrieg mitzumischen.

Nach der Verabschiedung des Qualification of Women Act 1918, der einigen Frauen erstmals das Wahlrecht einräumte, unterstützte Annie Kenney Christabel Pankhurst in ihrem Wahlkampf in Smethwick, Birmingham. Trotz der Tatsache, dass der Kandidat der Konservativen Partei seinen Rücktritt erklärte, verlor Christabel den direkten Kampf mit dem Vertreter der Labour Party.

Übersetzung Eva Detscher, Karlsruhe.

Abb. (PDF): Annie Kenney,

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1903 – Mary Macarthur & die Gründung von Frauengewerkschaften

Bill Lawrence, Newcastle

Die erste Frauengewerkschaft in Großbritannien wurde 1875 gegründet und brachte Schneider, Polsterer, Buchbinder, Tabak-, Marmeladen- und Pökelarbeiter, Schreibkräfte und Verkäuferinnen zusammen. Im späten 19. Jahrhundert konzentrierte sich die Gewerkschaftsbewegung auf die Bedürfnisse und Sorgen der männlichen Arbeitnehmer. Versuche von Frauen, sich kollektive zu organisieren, wurden als ernsthafte Bedrohung für den sozialen Zusammenhalt angesehen.

Auf dem Gewerkschaftskongress (TUC) 1875 forderte ein Gewerkschaftsfunktionär die Delegierten auf, „dafür zu sorgen, dass Frauen in ihrer eigenen Sphäre zu Hause sind, anstatt in die Konkurrenz um den Lebensunterhalt gegen die großen und starken Männer der Welt hineingezogen zu werden.“

Es war die Werkstattarbeit, die Mary Macarthur zur Suffragette und Gewerkschafterin machte. Als Tochter eines schottischen Tuchhändlers wurde sie geschickt, um die örtlichen Gewerkschaftstreffen der Ladenarbeiter auszuspionieren, aber nachdem sie 1901 von deren erbärmlicher Notlage gehört hatte, schloss sie sich dem Kampf um kürzere Arbeitszeiten und bessere Bezahlung an. Dies sollte zur Rolle ihres Lebens werden.

Zuerst wurde sie Vorsitzende der örtlichen Ladenarbeitergruppe und engagierte sich in sozialistischen Gruppen, was zum Bruch mit ihrem Vater, einem überzeugten Konservativen, führte. Sie wurde von Margaret Bondfield, der stellvertretenden Generalsekretärin der Gewerkschaft der Ladenarbeiter (die später die erste Ministerin einer britischen Regierung wurde) ermutigt, an der nationalen Gewerkschaftskonferenz teilzunehmen. 1902 wurde Mary Macarthur in den nationalen Vorstand gewählt.

Mary zog 1903 nach London und wurde Sekretärin der Women‘s Trades Union League: Diese Union vereinte sowohl Gewerkschaften, denen nur aus Frauen verschiedener Berufe angehörten, als auch solche mit gemischter Mitgliedschaft. Die widersprüchlichen Ziele von Aktivisten, welche sich unterschiedlichen Klassen und Organisationen zurechneten, verhinderte einen Beitritt zum TUC.

Um dieses Problem zu lösen, gründete Macarthur 1906 die National Federation of Women Workers (NFWWW) als allgemeine Gewerkschaft, „offen für alle Frauen in nicht-organisierten Berufen oder die nicht in ihre entsprechende Gewerkschaft aufgenommen wurden“.

Sie war 1906 an der Gründung der „Anti-Sweating-League“ – übersetzt ungefähr: eine Liga gegen schweißtreibende Arbeit. Dies betraf annähernd ungefähr 2 Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter. Im folgenden Jahr gründete sie die „Women Worker“ – Frauen als Arbeiter -, eine Zeitung für Gewerkschafterinnen. (Sie wollte schon immer Vollzeitschriftstellerin werden, zunächst als Redakteurin eines Schulmagazins. Nach ihrer Schulzeit in Glasgow studierte sie in Deutschland, bevor sie als Buchhalterin ihres Vaters zurückkehrte.)

1910 gewannen die Kettenmacherinnen in den westlichen Midlands ‚Black Country‘ nach einem zehnwöchigen Streik unter der Führung von Macarthur einen berühmten Sieg für faire Löhne.

Während des Ersten Weltkrieges 1914 bis 18 florierte die NFWW vor allem in der Munitions-, Fertigungs- und Transportindustrie. Ein Streit zwischen 8000 Munitionsarbeitern in Newcastle brachte sie 1916 in Konflikt mit Winston Churchill, dem damaligen Munitionsminister. Es ging darum, dass sich das Unternehmen nicht an einen Gerichtsbeschluss zur Erhöhung der Löhne der Frauen hielt. Die Frauen inszenierten ein „Sit-in“ an den Maschinen und strickten Socken und andere nützliche Sachen für die Soldaten an der Front.

Eines Morgens wurde Macarthur von einem wütenden Churchill angerufen, der sie fragte, ob ihr klar wäre, was sie eigentlich tue, indem sie den Frauen erlaube, ihre Arbeit niederzulegen. Sie antwortete, dass sie geduldig auf die Löhne gewartet hätten, die sie drei Monate zuvor hätten erhalten sollen. Sie hatte den Arbeiterinnen nicht geraten, die Arbeit einzustellen, und sie sagte Churchill, dass sie ihnen jetzt ebenfalls nicht raten würde, die Arbeit wieder aufzunehmen, bis das Unternehmen nicht alles bezahlt habe.

Es dauerte weitere 24 Stunden – die Frauen saßen strickend da -, bis die Firma bezahlte – jetzt von Churchill dazu angewiesen.

Wie andere Suffragetten kandidierte Macarthur bei den Parlamentswahlen 1919 – die erste Wahl, bei der Frauen wählen konnten. Sie unterlag wie viele andere, die sich dem Krieg widersetzt hatten.

Macarthur starb 1921, aber ihr Vermächtnis lebt weiter durch die vom TUC verwalteten Stipendiengelder und einen nach ihr benannten Bildungsfonds, „um die Bildungschancen berufstätiger Frauen zu fördern“.

Übersetzung: Eva Detscher, Karlsruhe

Abb. (PDF): Mary MacArthur

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Film: „Suffragetten – Taten statt Worte“ brachte die britische Regisseurin Sarah Gavron 2015 in die Kinos

Eva Detscher, Karlsruhe

Eindrücklich zeigt er den gesellschaftlichen Rahmen für Frauen aus unterschiedlichen Schichten. Es war die Frage des Wahlrechts, die die Initialzündung für den Weg zur Gleichberechtigung hergab. Der Film ist um die Geschichte der Wäscherin Maud Watts aufgebaut. Sie kommt, weil sie als Zeugin vor einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss aussagt, ins Gefängnis und schließt sich gegen den Willen ihres Ehemanns der Frauenrechtsbewegung an. Das erfordert große Opfer. Im Film kommen die weithin bekannten Akteurinnen – siehe die beiden Artikel auf diesen Seiten – im Kontext vor. Fokus ist allerdings auf den vielen, denen die Versagung von Würde, Selbstbestimmung und Gleichheit vor dem Recht lange genug gedauert hat. Der Film sympathisiert und trägt zum Verständnis aus der Zeit heraus bei.

Von www.suffragette-film.de/home/ kann Material auch z.B. für die Befassung im Unterricht heruntergeladen werden. Lohnenswert.

Abb. (PDF): Plakat für die Wochenzeitung „Suffragette“, 1912 . Künstler: Hilda Dallas. Museum of London/Heritage Images/Getty Images