Aus Politische Berichte Nr. 10/2018, S.03 InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

Bundesregierung und Diktator – Verletzung von Menschenrechten und Demokratieabbau stören nicht bei intensiven Geschäften

Rudolf Bürgel, Karlsruhe

.

01 Dok: Serhat Varto, Mitglied des Diplomatiekomitees der KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans), über die Beziehungen der Demokratischen Föderation Nordsyriens zum syrischen Regime und mögliche Szenarien der anstehenden Idlib-Operation, 18.9.2018

.

Der Einbruch der türkischen Wirtschaft hat sich Anfang Oktober noch einmal verschärft. Die Preissteigerungsrate stieg im Vergleich zum Vorjahr auf 24,52 Prozent, die türkische Lira verlor seit Jahresbeginn 40 Prozent ihres Außenwertes. Kleine und mittlerer Betriebe sind durch den Kurseinbruch gefährdet, da wichtige Bauteile aus dem Ausland kommen. Die Automobilproduktion ist um 42 Prozent eingebrochen.

Der jahrelange Wirtschaftsaufschwung auf Pump, d.h. durch Kredite von den internationalen Finanzmärkten, macht die Lage immer schwieriger. Diese Kredite müssen in Dollar bzw. Euro getilgt werden. Die großen türkischen Banken kommen aber derzeit kaum an das nötige Geld ran.

Die staatliche Regulierungsbehörde erhöhte zum vierten Mal in den letzten vier Monaten die Tarife für Strom und Gas. Sie steigen um neun Prozent für Privathaushalte und 18,6 Prozent für gewerbliche Kunden. Die Produktions- und Lebenshaltungskosten steigen unaufhaltsam. Im September erließ die AKP-Regierung eine Verordnung, wonach ausländische Unternehmen 80 Prozent ihrer Exporterlöse in türkische Lira zwangskonvertieren müssen.

Mehr als 6.500 deutsche Firmen mit 120.000 Beschäftigten sind in der Türkei aktiv. Die deutschen Direktinvestitionen lagen mit 295 Millionen Dollar deutlich unter dem Vorjahreswert. Für die türkischen Exporte ist Deutschland der wichtigste Absatzmarkt.

Der Krieg in Syrien und im Irak sowie in den kurdischen Gebieten der Türkei verschlingt Milliarden. Erdogans Ankündigung vor der UN-Vollversammlung, den syrischen Norden vom Mittelmeer bis zum Irak „von Terroristen zu säubern“ und die gewaltige Aufrüstung des Repressionsapparates in der Türkei verdeutlichen den weiteren Kurs des AKP-Regimes.

Das waren die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen bei dem Besuch Erdogans in Deutschland. Bei allen auch in der Öffentlichkeit zu Tage getretenen Differenzen, die Interessen der Bundesregierung und der deutschen Wirtschaft liegen auf der Hand: an einer instabilen Türkei besteht kein Interesse. Das wird an den wenigen bekannt gewordenen verabredeten Geschäften deutlich. Menschenrechte oder Demokratie spielen dabei keine Rolle, wenn Geschäfte locken.

Für 35 Milliarden Euro soll das Bahnnetz der Türkei modernisiert werden, mit finanzieller Unterstützung aus Deutschland. Unter Führung von Siemens sollen Deutsche Bahn und weitere Firmen neue Strecken planen, alte sanieren und moderne Signaltechnik installieren. Schon im April hatte Siemens einen Großauftrag von der türkischen Staatsbahn über 340 Millionen Euro für den Bau von zehn neuen Hochgeschwindigkeitszügen erhalten, einschließlich der Wartung über mehrere Jahre. Damit ist der Vertrag über Siemens-Velaro-Züge seit 2009 auf 17 angewachsen. Ende letzten Jahres hatte Siemens zudem den Zuschlag für den über eine Milliarde umfassenden Auftrag für eine Windturbinenfabrik und den Bau von fünf Windparks mit 1.000 Megawatt-Leistung erhalten.

Kein Wunder also, dass Erdogan sich mit Siemens-Chef Kaeser in Berlin traf und dort auch noch den Aufbau einer Produktion für medizinische Geräte besprach.

Unter Dach und Fach gebracht werden sollen der 35-Milliarden-Deal und weitere Geschäfte bei dem Besuch von Bundeswirtschaftsminister Altmeier am 25. Oktober in der Türkei.

Dass die Bundesregierung und deutsche Firmen im Syrienkrieg aktiv mitmischen, haben wir mehrfach in den „Politischen Berichten“ dokumentiert. Auch nach der völkerrechtswidrigen Besetzung Afrins gehen die von der Regierung genehmigten Waffenverkäufe an die Türkei weiter. Das kam bei einer Anfrage der Linksfraktion im Bundestag heraus. So genehmigte das Wirtschaftsministerium der Firma TDW aus Bayern den Verkauf von Bauplänen und der Produktionslizenz an das türkische Unternehmen Roketsan zum Bau von Raketensystemen und Gefechtsköpfen, die sowohl terrestrisch als auch von Drohnen abgefeuert werden können.

Zwischen dem 14. März und 30. Juni stimmte die Bundesregierung fünf Waffenverkäufen im Wert von 420.000 Euro zu. Während des Kampfes um Afrin vom 1. Januar bis 13. März wurden 34 Waffenverkäufe für 10 Millionen Euro genehmigt. 2017 waren es 138 für 34 Millionen, 2016 für 83,9 Millionen.

Zur Gewährleistung des Flüchtlingsdeals mit Ankara finanziert die EU mit 80 Millionen Euro den Bau des Grenzzaunes zu Syrien und die Überwachungstechnologie. 35,6 Millionen Euro gehen an die Firma Otokar zum Bau der Panzer Cora II. Diese werden an der Grenze – aber auch im Landesinnern – eingesetzt. Für weitere 30 Millionen von der EU baut die Rüstungsfirma Aselsan gepanzerte Überwachungsfahrzeuge.

Wie Hohn kommt dann die notwendige Streichung von 70 Millionen Euro an Beitrittshilfe wegen mangelhaften demokratischen Fortschritts durch EU-Kommission und -Parlamentsbeschluss von Anfang Oktober daher.

Bundeskanzlerin Merkel hat sich auf der Pressekonferenz mit Erdogan in Berlin für einen Syriengipfel über die Situation in Idlib noch im Oktober ausgesprochen. Teilnehmer sollen Russland, Frankreich, Deutschland und die Türkei sein. Sollte der Gipfel stattfinden, ist Deutschland direkt in Syrien involviert und verquickt sich im Falle von Idlib mit der Situation von Tausenden Kämpfern von Al-Qaida und IS. Das wäre eine neue Qualität, mit der Deutschland in den Syrienkrieg einsteigt.

Wirtschaftswoche 27.09.2018; Westfälische Rundschau 04.10.2018; Welt 04.10.2018; Euroactive 27.09.2018; Tagesspiegel 02.10.2018, Focus online 11.09.2018 und 19.10.2018, Nex24news 14.04.2018, ANF 17.09.2018, 26.09.2018 und 02.10.2018, mena-watch Naher Osten 08.07.2018

01

Dok: Serhat Varto, Mitglied des Diplomatiekomitees der KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans), über die Beziehungen der Demokratischen Föderation Nordsyriens zum syrischen Regime und mögliche Szenarien der anstehenden Idlib-Operation, 18.9.2018

Warum kam es genau jetzt zu den Angriffen syrischer Regimekräfte in Qamislo gegen die lokalen Sicherheitskräfte der Asayis? Geschah das auf Grundlage von Anweisungen aus Damaskus?

Aus den Erklärungen der Asayis-Kräfte bezüglich der jüngsten Angriffe wird deutlich, dass das syrische Regime versucht, den eigenen Einfluss in Nordsyrien auszuweiten. Den Auseinandersetzungen ging der Versuch regimenaher Kräfte voraus, einige Jugendliche zum Militärdienst zu zwingen. Damit versucht das syrische Regime dem eigenen Anspruch Ausdruck zu verleihen, ganz Syrien zu kontrollieren und im ganzen Land nach eigenem Ermessen zu handeln. Es unternimmt dementsprechende Schritte und wartet dann ab, wie darauf reagiert wird. Ohne Zweifel wird das die Probleme nur vertiefen.

Seit acht Jahren findet in Syrien ein brutaler Krieg statt, unter dem alle Bevölkerungsgruppen zu leiden haben. Syrien wird niemals in den Zustand des Jahres 2011 zurückkehren können. Niemand sollte sich derartige Illusionen machen. Für den heutigen Zustand in Syrien ist insbesondere die Türkei verantwortlich. Wer also die Unabhängigkeit, Einheit und Stabilität Syriens fordert, der muss der türkischen Besatzung in Syrien ein Ende setzen. Dafür bedarf es einer Einigung mit den nordsyrischen Kräften. Auf eine Einigung zu verzichten und stattdessen Angriffe wie jüngst in Qamislo durchzuführen ist eine reine Provokation. Wir können nicht sagen, ob die Entscheidung dafür aus Damaskus kam. Doch wer sich für Stabilität und Frieden in Syrien einsetzt, sollte keine derartige Haltung einnehmen. Militärisch lassen sich die Probleme nicht lösen. Es bedarf eines Dialoges und rechtlicher Absprachen zwischen der syrischen Regierung und Nordsyrien, um alle Fragen auf Grundlage der gemeinsamen Absprachen zu lösen.

Trotz der zahlreichen Treffen mit Vertretern der Demokratischen Föderation Nordsyrien spricht die syrische Regierung davon, man stehe nicht in gesonderten Gesprächen und behandle die nordsyrischen Kräfte genauso, wie alle Syrerinnen und Syrer. Warum nimmt das Regime eine derartige Position ein?

Es ist ganz deutlich, dass sich die Mentalität des Regimes nicht sonderlich verändert hat. Das Regime möchte seine Macht in ganz Syrien wiederherstellen und die Teile der Bevölkerung bestrafen, die sich für Freiheit, Demokratie und Frieden einsetzen. Sie waren bisher nicht in der Lage anzuerkennen, dass es keinen Weg zurück in die Vergangenheit gibt. Es ist nicht nur zweifelhaft, ob das Regime seine alte Stärke zurückerlangt. Selbst das Weiterbestehen des Regimes ist keinesfalls sicher. Es gibt nur eine Möglichkeit für das Weiterbestehen des Regimes: eine Einigung mit den Völkern Syriens und der Demokratischen Föderation Nordsyrien. Ohne eine Einigung wird das Regime sich nicht auf den Beinen halten können. Ich kann ohne Zögern sagen, dass die Kräfte der Demokratischen Föderation Nordsyrien die Interessen ganz Syriens vertreten. Das syrische Regime denkt, es könne durch die Zerschlagung Nordsyriens alle Forderungen der syrischen Revolution zunichtemachen. Doch das ist schlichtweg unmöglich. Die nordsyrischen Kräfte verfügen über eine politische und militärische Stärke, große Gebiete mit Millionen von Menschen und auch über internationale Anerkennung. Die Aussagen der Regimevertreter genießen keinerlei Legitimität. Von nordsyrischer Seite ist auch gar nicht die Rede von eine Spaltung Syriens. Stattdessen fordert man ein demokratisches System für ganz Syrien. Was man für Nord- und Ostsyrien fordert, gilt auch für Damaskus, Latakia und Aleppo. Es wurde ein demokratisches System vorgeschlagen, dass sich nach den Interessen der Bevölkerung richtet. Genau deshalb setzten sich auch alle verschiedenen Bevölkerungsgruppen Syriens für dieses System ein. Dem Regime bleibt dementsprechend nur die Aufgabe, diesen Forderungen mit Respekt zu begegnen. Nur wenn es das tut, wird es sich auf den Beinen halten können.

Kann das syrische Regime auf die Durchsetzung der eigenen Interessen mit militärischen Mitteln pochen?

In dem Fall, dass das syrische Regime auf militärische Mittel setzt, wird Syrien gespalten werden und auch das Regime selbst ins Wanken geraten. Auf eine militärische Lösung zu pochen wäre also weder für Syrien noch für das Regime eine positive Option. Der vielversprechendste Weg ist eine demokratische Einigung.

Brauchen die Großmächte, die in Syrien aktiv sind, Assad überhaupt noch?

Heute sind es die ausländischen Mächte, in deren Händen die Macht in Syrien wirklich liegt. Russland und der Iran sind sehr einflussreich. Für das syrische Regime wäre es das Beste, die Probleme in Syrien zu lösen. Solange dies nicht geschieht, ist es ein Leichtes für die ausländischen Mächte, über Syrien zu verfügen und das Land zu spalten. Wenn dem syrischen Regime wirklich etwas an Syrien gelegen ist, muss es sich noch stärker für eine Lösung einsetzen. Wenn Syrien die eigenen Probleme nicht selbst löst, wird keine ausländische Kraft das Land verlassen. Wenn es dem Regime gelegen kommt, vertieft es die Krise vielmehr. Dann sorgt es ein anderes Mal für Entspannung. Aber der Beendigung der Krise in Syrien widmet sich Damaskus nicht. Es gibt nur eine Lösung für all die Probleme und die Krise im Allgemeinen: Die demokratische Lösung der syrischen Probleme gemeinsam mit Nordsyrien und allen anderen Völkern Syriens.

Was genau geschah während des jüngsten Treffens Russlands, des Irans und der Türkei in Teheran? In wie fern sind die Folgen des Treffens in der Region spürbar?

Bis es zur aktuellen Lage in Idlib kam, bestand ein Abkommen zwischen der Türkei, dem Iran und Russland. Die Türkei ging auf dieses Abkommen auf der Grundlage der eigenen kurdenfeindlichen Politik ein. Sie verfolgt das Ziel, alle Errungenschaften der Kurdinnen und Kurden zu zerschlagen und auf diesem Weg den eigenen Einfluss in Syrien auszubauen. Doch diese türkische Politik blieb erfolglos.

Die Probleme in Syrien werden nicht ohne einen Krieg gelöst werden. Der Krieg in Idlib wird definitiv stattfinden. Die Interessen Russlands, des Irans und der Türkei unterscheiden sich voneinander, doch zugleich brauchen die drei Länder sich gegenseitig. Russland versucht zum einen die Herrschaft des syrischen Regimes in ganz Syrien – abgesehen von den Regionen östlich des Euphrats – wiederherzustellen, möchte aber zugleich die Türkei nicht als Partnerin verlieren. Das ist sehr schwer. Der Iran befindet sich in einer ähnlichen Lage. Er möchte zwar die Türkei aus Syrien vertreiben, versucht aber zur gleichen Zeit gemeinsam mit der Türkei einen Block gegen die USA zu bilden. Die Türkei wiederum möchte sowohl in Syrien bleiben, also in Idlib, Cerablus, Bab und Afrin, aber auch die Beziehungen mit Syrien, dem Iran und Russland fortsetzen. Auch das gestaltet sich als sehr schwierig. Die Akteure können diese Politik nicht endlos fortsetzen. Einige Kräfte werden an gewissen Punkten Verluste in Kauf nehmen müssen. In diesem Rahmen hat Idlib für Russland und Syrien eine strategische Bedeutung. Sie können der Türkei bezüglich Idlib keine großen Zugeständnisse machen, denn Idlib ist entscheidend für die Verteidigung Aleppos. Zwischen Idlib und Aleppo, aber auch zwischen Afrin und Aleppo liegen nur 30 bis 40 Kilometer. An einigen Orten ist die Distanz sogar noch geringer. All das stellt eine Bedrohung für Aleppo dar. Alle islamistischen Gruppen wurden in die Region gebracht. In Idlib, Cerablus, Bab und Afrin befinden sich ca. 100.000 bewaffneten Islamisten. Sie stellen eine große Bedrohung für die Region dar. Wenn Aleppo fällt, wird sich auch Damaskus nicht halten können. Um in Syrien zu siegen, müssen Syrien, der Iran und Russland Idlib zurückerobern. Sie können der Türkei an dieser Stelle also keine Zugeständnisse machen. Das Abkommen zwischen dem Iran, Syrien und der Türkei ist also mittlerweile an einen Punkt geraten, an dem es nicht mehr viel länger tragbar ist.

Wird die Türkei sich an dem Krieg in Idlib beteiligen? Wenn ja, was wären mögliche Szenarien?

Die Türkei beansprucht das Gebiet von Idlib bis Cerablus als eigene Einflusszone. In diesem Gebiet halten sich Ableger von al-Nusra und al-Kaida auf, die international als Terrororganisationen gelistet werden und dementsprechend über keinerlei Legitimität verfügen. In Idlib wird es auf jeden Fall zu einem Krieg kommen. Sollte die Türkei sich daran beteiligen, wird sich der Krieg deutlich intensiver gestalten. Wenn die Staaten sich direkt und aktiv an dem Krieg beteiligen, wird es schwer sein, ihn unter Kontrolle zu halten und die Ereignisse werden unvorhergesehene Folgen mit sich bringen. In dem Fall, dass die Türkei sich nicht am Krieg beteiligt, werden Russland, der Iran und das syrische Regime zuallererst Tahrir Al-Sham bekämpfen wollen. Bis Tahrir Al-Sham zerschlagen ist, wird man eine direkte Konfrontation mit der Türkei in Bezug auf Afrin und Cerablus vermeiden. Doch sobald diese Gruppe nicht mehr existiert, wird man die Frage von Afrin, Cerablus und Bab wieder auf die Tagesordnung setzen. Das steht schon lange fest. Zuerst wurden in vier Regionen Waffenstillstände verkündet. Alle islamistischen Gruppen aus Gebieten, die das Regime eroberte, wurden dann nach Idlib gebracht. Jetzt ist es realistisch, Idlib zurückzuerobern. Die Türkei würde dann die restlichen islamistischen Gruppen in ihre Einflussgebiete zurückziehen. Doch die Türkei weiß auch, dass sie im Falle ihrer Niederlage in Idlib über keinerlei Einfluss mehr in Syrien verfügen wird.

Mächte, die angesichts der Menschenrechtsverbrechen in Afrin schweigen, warnen nun vor den humanitären Folgen einer Idlib-Operation. Wie bewerten Sie diesen Doppelstandard?

Die Türkei warnt derzeit vor den Folgen für Zivilistinnen und Zivilisten, spricht von humanitärer Hilfe und beklagt das absehbare Grauen. Doch als die Türkei selbst Afrin angriff, war Afrin eine stabile und ruhige Region. Aus allen Teilen Syriens waren Menschen nach Afrin geflohen und lebten dort in Sicherheit. Die Türkei griff Afrin trotzdem an, verübte Massaker, besetzte die Region und beachtete dabei die Menschenrechte nicht im Geringsten. Auch die internationalen Mächte blieben weitgehend still. Afrin stellt für die USA und Russland noch immer einzig und allein einen Verhandlungsgegenstand dar.

Wie die Beziehungen der USA und der Internationalen Koalition zu den Gruppen in Idlib aussehen, ist eine ganz andere Frage. Zweifellos bestehen Kontakte, doch wahrscheinlich nicht auf höchster Ebene. Die Position der USA in Idlib hängt eher mit der türkischen Position zusammen.

In wie fern?

Die USA könnte versuchen, sich hinter die Türkei zu stellen und auf diesem Weg eine neue Phase in Syrien einzuleiten. Denn es ist keineswegs sicher, dass ein Angriff des Regimes auf Idlib auch von Erfolg gekrönt sein wird. Davon sollte man nicht ausgehen. Das Regime verfügt nicht wirklich über viel Kraft. Die islamistischen Gruppen, die dem Regime gegenüberstehen und zu denen auch die von der Türkei unterstützten Gruppen zählen, besitzen durchaus Kraft. Die Idlib-Operation ist aus Sicht des Regimes also durchaus mit Risiken verbunden. Das bedeutet, dass im Falle einer Niederlage des Regimes in Idlib eine völlig neue Phase in Syrien beginnen könnte. Vielleicht würde sogar eine Wende stattfinden. Wenn die Türkei sich mit all ihrer Kraft hinter die islamistischen Gruppen in Idlib stellt, könnte dies die ganze Situation in der Region verändern.

Möchte die USA den Spielraum Russlands, des Irans und des Regimes einengen, indem sie sich deutlich hinter die Türkei stellt?

Das ist durchaus möglich. Daher lohnt es sich über diese Szenarien nachzudenken. Die USA und Europa werden versuchen, den Krieg in Idlib zu nutzen, um ihre eigenen politischen Ziele zu verfolgen. Der Kriegsverlauf wird zeigen, ob und wie die jeweiligen politischen Ziele sich tatsächlich umsetzen lassen.

Die Türkei verfolgte in Syrien von Anfang an eine eigene Politik und eigene Ziele. Nach der Niederlage des IS in Kobane verlor die Türkei ihren Status als einflussreichen Akteur in dem Land. Die Türkei ist seither nicht mehr in der Lage, eigene politische Ziele in Syrien zu verfolgen. Vielmehr rennt das Land den Ereignissen in Syrien hinterher. Daher ist es auch schwer abzusehen, was genau in Idlib passieren wird. Die Türkei ist in gewisser Weise eine Getriebene der Situation in Idlib. Die türkische Politik verfolgt nur noch das Ziel zu verhindern, dass die Kurdinnen und Kurden sich Errungenschaften sichern. Sie kreist einzig und allein um dieses Ziel. Großartig anderweitige oder alternative politische Ziele verfolgt sie nicht. Deshalb taumelt die Türkei angesichts der Entwicklungen in Syrien mal in die eine und mal in die andere Richtung. Mal nähert sie sich den USA an, nur um plötzlich wieder die Nähe zu Russland und dem Iran zu suchen.

Die USA könnte auch versucht sein, die Türkei nicht sonderlich zu unterstützen und von Russland zu fordern, dass der Iran in Syrien geschwächt wird. Es ist durchaus möglich, dass die USA Syrien den Russen überlassen. Dafür würden die Amerikaner aber Zugeständnisse in Bezug auf den Iran und die Ukraine fordern. All dies könnte im Rahmen des Ringens um die weltweite Hegemonie stattfinden. Dessen müssen wir uns bewusst sein.

Wie wird die anstehende Idlib-Operation Afrin und die türkische Präsenz in dem Kanton beeinflussen?

Die Entwicklungen in Afrin hängen in gewisser Weise von dem Verlauf der Idlib-Operation ab. Die Widersprüche bezüglich Idlib zwischen Russland, dem Regime und dem Iran auf der einen Seite und der Türkei auf der anderen Seite werden zunehmen. Das wird günstigerer Voraussetzungen für die Ausweitung des Widerstandes in Idlib mit sich bringen. Die Türkei würde sich als Gegenleistung für Idlib auf die Region zwischen Afrin, Cerablus und Şehba konzentrieren. Diese Lösung wäre aber nur vorübergehend. Eines ist sicher: Syrien und der Iran wollen die Türkei vollständig aus Syrien verdrängen. Wenn die Türkei aus Idlib vertrieben ist, wird es auch möglich sein, sie in Bezug auf Orte wie Afrin und Cerablus unter Druck zu setzen. Wenn die türkische Politik in Idlib eine Niederlage erfährt, wird es der Türkei sowieso nicht möglich sein, ihre Ziele in Afrin und den anderen Regionen Syriens durchzusetzen. All das bietet günstige Voraussetzungen für die Kräfte aus Afrin. Ohne Zweifel sehen die Kräfte Nordsyriens diese Möglichkeiten und unternehmen dementsprechende Maßnahmen.

Im Original erschien der Artikel am 13.9.2018 unter dem Titel „Varto: İdlib, Türkiye’nin varlığını belirleyecek“ auf der Homepage der Nachrichtenagentur Firatnews (ANF).

Abb. (PDF): Mauer an der syrisch-türkischen Grenze