Aus Politische Berichte Nr. 10/2018, S.08 InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

G 20: Abschlussbericht der Fraktion Die Linke*

* Hamburgische Bürgerschaft, Drucksache 21/9805, Sonderausschuss „Gewalttätige Ausschreitungen rund um den G20-Gipfel in Hamburg“ ein. Die Fraktion Die Linke war durch Christiane Schneider vertreten. Wir dokumentieren die Stellungnahme der Linken im Abschlussbericht.

Aus: http://buergerschaft-hh.de/parldok/dokument/63851/sonderausschuss_gewalttaetige_ausschreitungen_rund_um_den_g20_gipfel_in_hamburg_bericht_des_sonderausschusses_gewalttaetige_ausschreitungen_rund_um_de.pdf.

Der G20-Gipfel im Juli 2017 hat in der Stadtgesellschaft tiefe Spuren hinterlassen, aus durchaus unterschiedlichen Gründen:

• starke Beeinträchtigung des Alltagslebens, insbesondere durch Zusammenbruch des Verkehrs und tagelangen Hubschrauberlärm;

• Gewalteskalationen im Rahmen der Proteste, v.a. die zerstörerische Gewalt am Morgen des 7.7. in Altona und die Ausschreitungen am Abend des 7.7. im Schanzenviertel, sowie die Erfahrungen einer wenig versammlungsfreundlichen, eskalierenden Einsatzstrategie gegen Demonstrierende, oft aggressiver Polizeieinsätze sowie – bisher ungesühnter – rechtswidriger Polizeigewalt;

• Erfahrungen von Anwohner_innen im Schanzenviertel, die die Polizei eine Woche als „Besatzungsmacht“ erlebten, aber ohne Schutz blieben, als sie sich bedroht sahen;

• die offensichtliche physische und psychische Überforderung vieler Polizist_innen, die die fatale Entscheidung, den Gipfel in Hamburg durchzuführen, ausbaden mussten;

• ein (Ex-)Bürgermeister, dem auf die Frage, ob er Fehler gemacht habe, nichts einfiel und der nicht bereit war, politische Verantwortung für seine fatale Entscheidung zu übernehmen.

Unter dem Eindruck des Verlaufs des G20-Gipfels hat die Bürgerschaft am 19.7.2017 den Beschluss zur Einrichtung des Sonderausschusses „Gewalttätige Ausschreitungen rund um den G20-Gipfel in Hamburg“ verabschiedet. Die Aufarbeitung der gesamten Problematik war, wie Titel und Begründungstext deutlich machen, zu diesem Zeitpunkt nicht vorgesehen. Komplexe, die der kritischen Aufarbeitung staatlichen Handelns wenigstens Raum ließen, wurden erst später im „Fahrplan“ aufgenommen. Die Fraktion Die Linke sieht ihre Aufgabe als Teil der Legislative und als Oppositionsfraktion aber gerade in der Kontrolle staatlichen Handelns.

Aufgrund der unterschiedlichen Auffassungen der Fraktionen wurde ein gemeinsamer Abschlussbericht erst gar nicht ins Auge gefasst. Damit spiegelt sich im parlamentarischen Raum wider, dass die sehr verschiedenen „Erzählungen“, in denen die Erfahrungen von den verschiedenen Akteur_innen und in der Stadt verarbeitet wurden, in der Öffentlichkeit bis heute neben- oder gegeneinanderstehen. Der Ausschuss hat, weil er nach unserer Auffassung wenig an Aufklärung geleistet hat, nicht dazu beigetragen, die entstandenen Gräben in der Stadt zu überwinden und in Teilen der Stadt verlorenes Vertrauen in den Rechtsstaat zurückzugewinnen.

Ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss hätte andere Möglichkeiten der Aufklärung geboten. Im zahnlosen Sonderausschuss litt sie unter der fast ungebrochenen Dominanz der Innenbehörde. Diese hatte die Hoheit über die Informationen, die der Ausschuss erhielt. Deshalb und weil sie jeden beanspruchten Raum bekamen, sicherten sich Behördenleitung und Polizei, die selbst Konfliktpartei waren, die Deutungshoheit über das Geschehen. Als großes Problem sieht die Fraktion Die Linke hier auch eine wenig ausgeprägte selbstkritische Reflexion auf Seiten von Behörde und Polizei.

Ungeklärte Fragen

Vor allem zwei Geschehnisse von erheblicher Tragweite wurden nicht aufgeklärt.

Die Zerschlagung der „Welcome-to-hell“-Demonstration. Nicht umstritten ist, dass zu dem Zeitpunkt, an dem sich die Versammlung von 12 000 Menschen auf dem Fischmarkt zu einem Demonstrationszug formierte, ein erheblicher Teil der vorderen Blöcke vermummt war (darunter vier bekannte und wohl weit mehr unerkannte „Tatbeobachter_innen“) und gestoppt wurde und dass die Versammlungsleitung dafür sorgte, dass die Vermummung zumindest im vorderen Teil abgelegt wurde.

Die Begründung für den Einsatz, die Vermummung habe, weil sie eine Straftat darstellt, keine Alternative zugelassen, wurde nicht nur von dem von uns als Experte geladenen Polizeidirektor a.D. Behrendes in Frage gestellt. Auch in der Polizei Hamburg sah man das in der Vergangenheit schon anders (Wortprotokoll des Innenausschusses 20/25 vom 6.1.2014, S. 10). Der Polizeiangriff auf die bis dahin friedliche Versammlung gab der Gewalteskalation eine neue Dynamik.

Aus unserer Sicht spricht viel dafür, dass die Polizei den Plan, die Demonstration gar nicht erst losgehen zu lassen, von Anfang an verfolgte: etwa die Tatsache, dass ausgerechnet bei dieser lange vorher als gefährlich bezeichneten Versammlung keine Auflagen verhängt wurden, nicht einmal in Bezug auf den Ort der Abschlusskundgebung. Oder die Ausführungen des Leiters der EA Einsatzkräfte im Innenausschuss am 19.7., dass die Heraustrennung des „Schwarzen Blocks“ später sehr viel schwieriger geworden wäre. Oder die zielstrebige und offensichtlich vorbereitete Durchführung dieser nicht polizei-alltäglichen, komplexen Operation der „Heraustrennung“ Tausender Menschen.

Wir haben für diese von Augenzeugenberichten gestützte Sicht keine Beweise, sondern lediglich Indizien vortragen können. Die Darstellungen der Polizei haben unsere Fraktion nicht überzeugt.

Das ganze Schanzenviertel als Falle? Für die Behauptung der Polizei, das ganze Schanzenviertel sei zur Falle ausgebaut und auf den Dächern entlang des Schulterblatts warteten Gewalttäter_innen nur darauf, einrückende Polizei mit Molotowcocktails, Gehwegplatten, Eisenstangen zu empfangen, ohne Rücksicht auf ihr Leben, wurden im Ausschuss keine Beweise erbracht. Entsprechende Gegenstände wurden auf den Dächern nicht sichergestellt. Luftaufnahmen aus den Hubschraubern, die die Behauptung von den Dächern hätten belegen können, wurden nicht vorgelegt. Die Behauptung von der Falle auf den Dächern entlang des Schulterblattes dient aber als zentrale Legitimation für den Einsatz der paramilitärischen Spezialeinheiten, die u.a. mit schussbereiten Langwaffen und unter Einsatz von Gummigeschossen (zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik) die Häuser stürmten. Eigentlich hätte man ein Interesse der Polizei an beweissicherer Aufklärung erwarten können. Für unsere Fraktion ist die Aufklärung dieser Frage wichtig, weil der SEK-Einsatz einen großen Schritt in Richtung Militarisierung von Protest Policing bedeutet, wie das auch Ex-Bürgermeister Scholz im Sonderausschuss nahelegte.

Kritik und Dissens

Die Arbeit des Sonderausschusses hat zentrale Kritikpunkte am Umgang von Senat und Sicherheitsorganen mit dem Protest nicht ausgeräumt.

Kooperation fand nicht statt. Unbestritten ist, dass die angekündigten großen Proteste über eine ganze Woche hinweg die Polizei vor große Herausforderungen stellten, gerade auch angesichts eines heterogenen Protestbündnisses. Umso notwendiger wäre es gewesen, eine belastbare Dialog- und Vertrauenskultur zu entwickeln. Das geschah nicht. Der Forderung etwa der Anmelder_innen für den 8.7. nach Gesprächen verweigerte sich die Polizeiführung. Stattdessen arbeitete die Exekutive lange vorher an der Dämonisierung der Proteste und ihrer Träger_innen. Sie versuchte, die Deutungshoheit über Veranstaltungen zu gewinnen, indem sie z.B. vor der Teilnahme „warnte“. Die vom Bundesverfassungsgericht geforderte Kooperation fand nicht statt bzw. beschränkte sich im Wesentlichen auf versammlungstechnische Fragen.

Die Camp-Frage: 15 Monate vor G20 entschied Gesamteinsatzleiter Dudde, Camps nicht zuzulassen, um die für Gipfelproteste unverzichtbare Infrastruktur zu verhindern und auswärtige Protestteilnehmer_innen abzuschrecken. Die Veranstalter_innen wurden pauschal verdächtigt und diffamiert, jede Kooperation verweigert – eine versammlungsfeindliche Haltung, die sich bis fast zum Schluss fortsetzte. Mit dem rechtswidrigen, einen VG-Beschluss ignorierenden Polizeieinsatz verhinderte die Behörde am 2.7. den Aufbau des Camps in Entenwerder. Erst als das Oberverwaltungsgericht am 5.7. die am 28.6.17 ergangene, bis dahin von der Behörde ignorierte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bekräftigte, wurde der Aufbau von Schlafzelten gestattet. Da war es für viele zu spät.

Die Allgemeinverfügung. Entgegen der Ankündigung eines „Festivals der Demokratie“ richtete die Polizei mithilfe einer Allgemeinverfügung eine 38 qkm große Demonstrationsverbotszone ein und setzte sie vor Gericht unter Berufung auf den „polizeilichen Notstand“ durch. Die Diskussion im Sonderausschuss und die Ausführungen des eingeladenen Experten Dr. Ernst haben gezeigt, wie umstritten das Instrument der Allgemeinverfügung ist: Es ging darum, der Polizei möglichst freie Hand für die Bewältigung von Versammlungen zu geben, ohne dass die Betroffenen die Möglichkeit gehabt hätten, Grundrechtsschutz einzufordern – auch das ein verheerendes Signal an die Protestbewegung.

Polizeiliche Einsatzstrategie. Proteste unterliegen einer Dynamik, die durch viele Faktoren beeinflusst wird, nicht zuletzt durch die Einsatzstrategie der Polizei. Die „Hamburger Linie“ der niedrigen Einschreitschwelle hat in dem heterogenen Protestbündnis die Legitimationsbasis für Gewalt nicht geschwächt, sondern gestärkt. Der Polizeieinsatz am 2.7. in Entenwerder und die unprovozierte Räumung des durchweg friedlichen Massencornerns am 4.7. haben nicht nur nach unserer Auffassung zur späteren Gewalteskalation beigetragen. Ähnliches gilt für die vielfach aggressiven Polizeieinsätze auch gegen friedlich Protestierende oder Teilnehmer_innen an Aktionen des zivilen Ungehorsams, die zu einer nicht zu beziffernden, nach unseren Beobachtungen aber hohen Zahl von Verletzten, u.a. zu vielen Kopfverletzungen durch Polizeiknüppel, geführt haben.

Die zukünftige weitere Erörterung der Gewaltproblematik muss, wie im Bürgerschaftsbeschluss (Drs. 21/9805) eigentlich auch gefordert, im Sonderausschuss aber kaum ansatzweise umgesetzt, eine „ganzheitliche Betrachtung“ vornehmen.

Rechtsstaatliche Bindung der Sicherheitsbehörden

Die Träger des staatlichen Gewaltmonopols sind umfassend an das Recht gebunden. Nur aufgrund einer Ermächtigung durch Gesetze sind sie zu Eingriffen in Grundrechte befugt. Im Zusammenhang der G20-Einsätze kam es nach Auffassung der Fraktion Die Linke immer wieder zu Verletzungen dieses rechtsstaatlichen Prinzips und zu vielen Grundrechtsverletzungen, hier nur einige gravierende Beispiele.

Pressefreiheit. Nicht nur wurden Medienvertreter_innen immer wieder durch Polizeiattacken an ihrer Arbeit gehindert. Der Entzug der Akkreditierung von 32 Journalist_innen stellt nach einhelliger Auffassung ihrer Vertretungen einen Eingriff in die Presse- und Berufsfreiheit dar. Die Art und Weise des Entzugs machte es den Betroffenen unmöglich, die Zulassung zum G20 auf dem Rechtsweg zu erstreiten.

GeSa. Die von Rechtsanwält_innen des RAV und des Anwaltlichen Notdienstes vorgetragene Kritik an Rechtsverstößen in der Gefangenensammelstelle wurde von der Innenbehörde weitgehend vom Tisch gefegt: Kritik etwa an der immer wieder erfahrenen Vereitelung des Zugangs von in Gewahrsahm Genommenen zu rechtlichem Beistand; Schlafentzug durch 24 Stunden Licht und ständige Lebendkontrollen; beobachtete Toilettengänge und weitere unwürdige Behandlung u.ä.m. Die Polizei gestand ein, dass in 66% der Fälle die Durchsuchung der in Gewahrsam Genommenen bei vollständiger Entkleidung stattfand, ein besorgniserregend hoher Anteil.

Gesichtserkennung. Die Polizei hat im Zusammenhang mit G20 ein Verfahren zur Gesichtserkennung eingesetzt, das der Polizei eine neue Dimension staatlicher Ermittlungs- und Kontrollmöglichkeiten erschließt. Das Verfahren greift tief in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ein. Es wird ohne gesetzliche Ermächtigung angewandt, sein Einsatz auch nach und trotz der Beanstandung durch den Hamburgischen Beauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit fortgesetzt.

Unter weiteren (Grund-)Rechtsverletzungen sollen hier drei genannt werden: die rechtswidrige Ingewahrsamnahme einer Gruppe von Italiener_innen am 8.7., die einem (zurzeit noch nicht rechtskräftigen) VG-Urteil zufolge unter dem Schutz des Versammlungsrechts standen. Das lesenswerte Urteil (17 K 1823/18) enthält eine Kritik an vielen problematischen Aspekten des Polizeieinsatzes. Weiter der Einsatz der Mehrzweckpistole vom Typ HK 69 bzw. HK 169 beim G20-Gipfel. Diese less-letale Waffe von Heckler&Koch ist laut Kriegswaffenkontrollgesetz eine Granatpistole aus der Kategorie der Granatwerfer. Der Waffenkatalog des § 18 Abs. 4 SOG ist abschließend und sieht den Einsatz von Granatpistolen nicht vor. Das gilt auch für die in Hamburg eingesetzten Einheiten anderer Länder. Der Abschuss von mindestens 68 Tränengasgranaten und 15 Gummigeschossen war deshalb rechtswidrig. Schließlich die unverhältnismäßige, eingriffsintensive massenhafte Öffentlichkeitsfahndung.

Schlussfolgerungen

Die Aufarbeitung der G20-Gipfel-Ereignisse und ihrer Folgen für die Stadtgesellschaft ist mit dem Ende des Sonderausschusses nicht abgeschlossen.

Die Fraktion Die Linke setzt sich dafür ein, dass

– die Bürgerschaft sich in geeigneter Weise mit den Ereignissen rund um G20 und daraus zu ziehenden Konsequenzen weiter auseinandersetzt. Dabei soll das sozialwissenschaftliche Forschungsprojekt „Mapping #NoG20. Dokumentation und Analyse der Gewaltdynamik im Kontext der Proteste gegen den G20-Gipfel in Hamburg 2017“, das jetzt vorliegt, in die weitere Debatte einbezogen werden kann;

– die Diskussion über das Leitbild einer modernen, bürgernahen, transparenten, demokratischen Großstadtpolizei geführt wird;

– ein versammlungsfreundliches Versammlungsgesetz erarbeitet wird, in dem u.a. Vermummung zur Ordnungswidrigkeit herabgestuft wird;

– dass eine unabhängige Polizeibeschwerdestelle neben dem Die eingerichtet wird; damit soll auch dem Umstand Rechnung getragen werden, dass viele Geschädigte von Polizeigewalt aus Angst vor Repression davor zurückschrecken, Strafanzeige zu erstatten oder zeugenschaftliche Angaben beim Die zu tätigen; dass bis zur Einrichtung einer solchen Beschwerdestelle bzw. dem Abschluss der Ermittlungen die Sonderkommission G20 im Die personell und technisch verstärkt wird;

– die demokratische Protestkultur weiterentwickelt wird. Dazu gehört nicht zuletzt die Entwicklung einer belastbaren Dialog- und Vertrauenskultur, zu der die Exekutive einen erheblichen Beitrag zu leisten hat;

– die Rote Flora bleibt. Die Rote Flora ist als autonomes Stadtteilzentrum nicht wegzudenken. Sie ist Teil einer widerständigen Kultur und ein Raum, der für den Austausch zwischen Lebensweisen und Anschauungen, für die Entwicklung von Alternativen von vielen Menschen benötigt wird;

– durch den Senat überprüft und der Bürgerschaft berichtet wird, welche Vor- und Nachteile im Sinne der Stärkung der Versammlungsfreiheit die Versammlungsbehörde als Teil der Vollzugspolizei gegenüber anderen Lösungen hat, vergleichbar den kommunalen Versammlungsbehörden in Flächenländern;

– der Senat / die Innenbehörde aufgefordert wird, das vom HmbGfD als rechtswidrig beanstandete Verfahren zur Gesichtserkennung zu stoppen und die durch das Verfahren bereits erlangten Erkenntnisse zu löschen.

Abb. (PDF): Schlüsselszene: Am 6.7. stoppt die Polizei schon bei der Aufstellung die 12 000 Teilnehmer der „Welcome-to-hell“-Demonstration auf, die Eskalation der Gewalt ist in Gang gesetzt.