Aus Politische Berichte Nr. 10/2018, S.22 InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

KALENDERBLATT – Schweiz – 20. Februar 1938

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01 -20.Februar 1938 – Das Schweizer Volk beschließt Rätoromanisch als vierte Landessprache

02 „Barbacor“, „Amur sinza fin“ – Moderne rätoromanische Kultur

03 Gewerkschaft UNIA und Mehrsprachigkeit

04 Abstimmung über Fremdsprachen in den Schulen

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20.Februar 1938 – Das Schweizer Volk beschließt Rätoromanisch als vierte Landessprache

Alfred Küstler, Stuttgart

Am 20. Februar 1938 sagten die Schweizer Männer mit 91,6 Prozent der Stimmen Ja zum Rätoromanischen als vierter Landessprache (die Frauen erhielten erst 1971 das Stimm- und Wahlrecht). Selten ist in einer Volksabstimmung ein höheres Ergebnis erzielt worden. Sicher auch ein Ergebnis der damals nicht nur in der Schweiz verbreiteten politischen Stimmung, die eigene Identität zu zelebrieren, wie es 80 Jahre nach dem Ereignis Rico Valär, Professor für Rätoromanische Literatur und Kultur an der Universität Zürich, Verfasser von „Weder Italiener noch Deutsche!“, in einem Beitrag fürs Schweizer Fernsehen formulierte.

Dieses sehr deutliche Resultat war ein kräftiger Ausdruck der politischen Stimmung in der Schweiz gegenüber den Bedrohungen aus dem Norden und Süden durch die faschistischen Regimes in Deutschland und Italien. Die demokratische Schweiz mit ihrer Vielfalt wurde als Gegenmodell gegen die völkisch-rassistischen großen Nachbarn behauptet. Dazu ein kleiner historischer Exkurs.

Zu Beginn des Ersten Weltkriegs war die Schweiz ziemlich gespalten. Der deutschsprachige Teil sympathisierte mit dem deutschen Kaiserreich; der französischsprachige Teil mit Frankreich. Einige Armeeführer kooperierten mit dem Deutschen Reich. Die Schweiz, abhängig von der Einfuhr bei Kohle und Nahrungsmitteln und dem Tourismus, litt unter den Kriegsfolgen, zumal seit 1914 große Teile der männlichen Bevölkerung in die Armee einberufen wurden zur Grenzsicherung. Sold gab es damals noch keinen, die bäuerliche Wirtschaft war sehr strapaziert. 1918 war die Versorgungslage katastrophal. Angeregt durch die internationalen Arbeiteraufstände riefen linke Parteien und Gewerkschaften zum Landesstreik auf, an dem sich 250 000 Arbeiter schweizweit beteiligten. Die Armeeführung überreagierte, der Streik wurde militärisch niedergeschlagen. Die Opferzahlen waren hoch, nicht in der direkten Auseinandersetzung, sondern durch die Ansteckung mit der Spanischen Grippe, 913 Soldaten starben daran, 22 000 Menschen insgesamt.

Die Stimmung vor dem Zweiten Weltkrieg war dann anders. Zwar gab es in den dreißiger Jahren Sympathisanten des Hitler-Regimes, die sogenannten Frontisten. Auch in den italienischsprachigen Teilen des Landes, im Tessin und den Bündner Südtälern, gab es Sympathisanten des italienischen Faschismus, vor allem unter frisch eingewanderten Italienern, aber das waren nur kleine Gruppen. Gefährlicher waren die Infiltrationen aus dem Norden. Nach der Machtergreifung Hitlers 1933 gründeten in der Schweiz niedergelassene Deutsche eine faschistische Landespartei. Deren Führer, Wilhelm Gustloff, wurde in Davos von einem deutschen Juden, der betroffen war von der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung in Deutschland, erschossen. Die Behörden hatten das Treiben Gustloffs toleriert, man wollte die Fremdenverkehrsinteressen nicht gefährden.

Auf die Rolle der Schweizer Regierung im Zweiten Weltkrieg soll hier aber nicht weiter eingegangen werden, je nach Kriegsverlauf gab es durchaus Tendenzen, dem Faschismus nachzugeben.

Die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung lehnte den Faschismus ab. Die sogenannte „Geistige Landesverteidigung“ propagierte den freiheitsliebenden, mit der Landschaft und dem Bauerntum verwurzelten Schweizer – vieles davon übertrieben, historisch hingebogen und aus heutiger Sicht manchmal eher komisch. Aber es war ein Gegenmodell gegen Gleichschaltung und Totalitarismus: die Schweiz in ihrer Vielfalt, mit ganz verschiedenen Facetten. In diesem Umfeld fand das Anliegen nach Anerkennung des Romanischen als vollgültiger vierter Landessprache breite Zustimmung, obwohl nur eine ganz kleine Minderheit diese Sprache benutzte (damals ca. 46 000, heute noch ca. 40 000). 1919 hatten Intellektuelle und Lehrer die Lia Rumantscha, den Dachverein zur Förderung der rätoromanischen Sprache und Kultur gegründet, vor allem mit dem Ziel, das Romanische als vierte Landessprache anzuerkennen. Dem Verein gelang es dann in den 1930er Jahren, auch in der Schweizer Bundespolitik Unterstützer zu finden. 1934 wurde im Bundesparlament ein entsprechender Antrag von Abgeordneter aller Sprachgruppen eingebracht und einstimmig befürwortet. Als dann auch noch bekannt wurde, dass Hitler und Mussolini Pläne hegten, die Schweiz unter sich aufzuteilen, und italienische Politiker das Rätoromanische als italienischen Dialekt bezeichneten, wurde unter der Parole „Weder Italiener noch Deutsche! Wir sind Rätoromanen und wollen es auch bleiben!“ die Volksabstimmung zum triumphalen Erfolg. Am 20. Februar 1938 stimmten 572.129 mit Ja bei 52.267 Nein. Auch in allen Ständen (Kantonen) gab es eine Mehrheit. In Graubünden, dem dreisprachigen Kanton, war mit nur 1.692 Nein und 21.566 Ja die Zustimmung noch höher.

Nun erfolgte auch eine deutliche finanzielle Förderung der Lia Rumantscha durch den Bund. Es dauerte allerdings noch geraume Zeit, bis die Bezeichnung von öffentlichen Einrichtungen in mehreren Sprachen durchgesetzt wurde. Heute ist das Rätoromanische in den entsprechenden Tälern Schulsprache, z.B. im Engadin (in der Schweiz entscheiden die Gemeinden darüber). Dass Rätoromanisch gefördert wird, dass es Fernsehen und Rundfunk in dieser Sprache gibt, das ist heute selbstverständlich und die staatliche Förderung wurde in mehreren Volksabstimmungen bestätigt. Das größte Problem ist heute, dass rund ein Drittel der Rätoromanisch Sprechenden nicht mehr in den Stammgebieten lebt. Aktuell gibt es z.B. in Zürich Diskussion über Rätoromanisch in entsprechenden Kindergärten und Schulen.

Peter Metz, Geschichte des Kantons Graubünden, hier vor allem Band III, seit 1914, Calven Verlag Chur, 1993

Abb. (PDF): Generalstreik 1918 in Zürich: Das Militär geht brutal vor, ein Toter und mehrere Verletzte

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„Barbacor“, „Amur sinza fin“ – Moderne rätoromanische Kultur

Die erste ausschließlich in Rätoromanisch gedrehte Komödie „Amur sinza fin“ schafft es, dass ein US-amerikanischer Vertrieb den Film weltweit vertreiben will – klar, dass die kleine rätoromanische Sprachgemeinde mächtig stolz ist. Möglich war das durch die Förderung durch Schweizer Rundfunk und Fernsehen (SRG). Auch viele andere Kulturproduktionen in Rätoromanisch wären nicht möglich ohne öffentliche Förderungen. Alleine, dass es im Fernsehen und Rundfunk Sendungen in Rätoromanisch gibt, sorgt bei vielen im Kulturbetrieb Tätigen für Beschäftigungsmöglichkeiten. Neben einer breiten Szene von Unterhaltungskultur – eher traditionell die vielen Laien-Chöre, die in den reformierten Kirchengemeinden verankert sind, eine jugendorientierte Pop-Musik in Rumantsch, einige Kriminalromane, oft zweisprachig – gibt es durchaus auch eine ambitionierte moderne Literatur.

Chatrina Josty (1984) war Radioredaktorin und Fernsehmoderatorin, jetzt Primarlehrerin. Sie hat unter dem Titel „Barbacor – Herzkater“ kurze Prosatexte veröffentlicht, mit Titeln von A bis Z.

Als Kostprobe hier zum Buchstaben Y:

„Generaziun why – Generaziun pertge?

Pertge cumbatter? Nus avain gea tut, noss genitur han cumbattì per tut.

Pertge sa decider? Tgi sa tge ch’è damaun? Tgi e tge che m’interessescha damaun?

Pertge spargnar? Nus vulain giudair la vita.

Pertge far carriera? Sch’ins chatta la ventira era senza lavur classica – genial.

Generation why?

Wofür kämpfen? Wir haben ja alles, unsere Eltern haben für alles gekämpft.

Wofür sich entscheiden? Wer weiss schon, was morgen ist? Wer weiss schon, was uns morgen interessiert?

Wofür sparen? Wir wollen das Leben geniessen.

Wozu Karriere machen? Wenn man auch ohne klassische Arbeit Erfolg haben kann? – Oder wenigstens glücklich ist.

Chatrina Josty, Barbacor. Herzkater, Chasa Editura Rumantscha, 2017, 18 CHF

Abb. (PDF): Cover Hartzkater

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Gewerkschaft UNIA und Mehrsprachigkeit

Rolf Gehring, Brüssel

Die Schweizer Gewerkschaft UNIA ist 2004 aus der Fusion von vier Branchen-Gewerkschaften der Privatwirtschaft, inklusive der Bau- und der Metallgewerkschaft, hervorgegangen. 56% ihrer Mitglieder sind heute keine Schweizer. Was sind ihre Erfahrungen bei der Organisation von Migranten?

War die Schweiz am Ende des 19. Jahrhunderts immer noch ein Emigrationsland, stoppte nach 1945 eine starke industrielle Entwicklung die Emigration. Ausländische Arbeiter strömten in die industriellen Sektoren. Hunderttausende von italienischen, spanischen sowie türkischen Arbeitern und später auch aus Jugoslawien und Portugal kamen in die Schweiz. In dieser Periode herrschte eine restriktivere Migrationspolitik, auch von den Gewerkschaften getragen. Migranten wurden als Gefahr für Löhne und Arbeitsplätze gesehen.

Es gab eine große Konzentration von Saisonbeschäftigten auf Baustellen. Ihre Arbeitsbedingungen und Lebensbedingungen waren oft miserabel. Tendenzen der Ausgrenzung waren damit angelegt und augenscheinlich. Auf der anderen Seite setzt aber die Kooperation im Arbeitsprozess auch Verständigung voraus. In diesem Klima versuchte die damalige Gewerkschaft Bau und Holz die ausländischen Arbeitskräfte zu organisieren und entwickelte ein Konzept der Integration.

Einige strategische Entscheidungen brachten den Durchbruch. Die erste war, Personen aus den Heimatländern der Migranten als Gewerkschaftsfunktionäre einzustellen. Die zweite war, innerhalb der Gewerkschaft spezielle Strukturen für Migranten zu schaffen. Sie konnten sich in eigenen Interessengruppen organisieren, entweder nach Nationalität, Sprachgruppe oder auf interkultureller Basis.

Informationen der Gewerkschaft werden seither in mehreren Sprachen verbreitet. Neben den Landessprachen sind dies meist vier oder fünf weitere Sprachen. Die Interessengruppen haben Antragsrecht an die Delegiertenversammlung und den Kongress der Gewerkschaft. Sie sind in allen Leitungsebenen vertreten. Was die gewerkschaftliche Bildung angeht, werden auch spezielle Kurse für Sprachgruppen angeboten.

Abb. (PDF): Ohne uns geht nichts

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Abstimmung über Fremdsprachen in den Schulen

Alfred Küstler, Stuttgart

Am 23. September fand in Graubünden eine Abstimmung statt, ob an den Primarschulen (Klassen 1 bis 5, also für ca. 6- bis 11jährige Kinder) weiterhin zwei Fremdsprachen unterrichtet werden sollen. Eine Initiative von Lehrern und Elternvertretern wollte das reduzieren auf eine Fremdsprache wegen angeblicher Überforderung der Kinder; die Kantonsregierung und vor allem die Vertreter der italienisch- und romanisch-sprechenden Minderheiten waren strikt dagegen.

Der heutige Zustand: in Deutschbünden wird als erste Fremdsprache ab Klasse 3 Italienisch oder Rätoromanisch unterrichtet, ab Klasse 5 kommt Englisch dazu. In Romanischbünden wird als erste Fremdsprache Deutsch und dann Englisch unterrichtet, ebenso in den italienischsprechenden Südtälern. Bei einem Ja zur Initiative wäre in diesen Landesteilen kein Englisch an den Primarschulen gelernt worden und in Deutschbünden nur noch Englisch und keine zweite Landessprache.

Die Abstimmung war deutlich: mit 65,8 Prozent Nein lehnten die Stimmbürger die Abschaffung der zwei Fremdsprachen ab. In den romanischen und italienischsprachigen Regionen sagten sogar 80 bis 90 Prozent Nein. Auch in anderen Schweizer Kantonen wurden seit 2010 Volksabstimmungen über Fremdsprachen an den Primarschulen abgehalten, nirgends konnten sich die Befürworter von nur einer Fremdsprache durchsetzen. Die Nein-Stimmen waren in Luzern: 58%; Zürich: 60,8%, Nidwalden: 61,7%, Baselland: 69%.

Der Sprachenfrieden hat für die Schweizer also nach wie vor eine hohe Bedeutung.