Aus Politische Berichte Nr. 11/2018, S.03 InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

Wahlen in Hessen und Bayern, Folgen im Bund, Vorbereitung EU-Wahlen

Wahlen verwandeln Meinungen der Wahlberechtigten in Macht der Repräsentanten. Zum einen folgt aus Wahlergebnissen etwas für die Regierungsprogramme, die für Bayern soeben vorgelegt werden und für Hessen in Arbeit sind. Zum anderen entstehen sehr starke Rückwirkungen auf die Diskurse, die öffentliche Meinung bilden, und auf die Strategiediskussion der Parteien. Dazu die folgenden Beiträge aus Hessen, Berlin, Bayern sowie ein Bericht von einer Regionalkonferenz der Linken zu den anstehenden Europawahlen.

Landtagswahl in Hessen: Sondierung der politischen Lager

Rosemarie Steffens, Langen, Olaf Argens, Schmitten

Die Volkspartei CDU sei „von beiden Seiten angenagt worden“, beklagt Spitzenkandidat Volker Bouffier, denn jeweils über 90 000 Wählerinnen und Wähler wechselten zur AfD und zu den Grünen. Viele bisherige CDU-Wähler, die keine rechtspopulistische Politik à la Seehofer wollen, haben diesmal Grüne gewählt und die Merkel-Kritiker sind zur AfD abgewandert. Nach wie vor hat die CDU in 40 von 55 Wahlbezirken Direktmandate bekommen, ihre Basis liegt in ländlichen Gemeinden. Die SPD verliert über 142 000 Wahlstimmen an die Grünen, aber auch beträchtlich an Nichtwähler. „Wir hatten keine Chance in Hessen“, durch die Querelen in der GroKo sei der Wahlkampf überlagert worden, da waren sich die Wahlverlierer Bouffier (CDU: 27%, -11,4 Prozentpunkte) und Schäfer-Gümbel (SPD: 19,5%, -10,9) einig.

Gründe, die in Hessen liegen könnten, sind folgende: Der Wahlkampf wurde stark zu den Themen „bessere Bildungspolitik“ und „bezahlbare Wohnungen“ geführt. Die CDU hatte die Forderungen nach mehr Lehrkräften und guten Beschäftigungsverhältnissen beantwortet, im „starken Hessen“ gäbe es „so viel Lehrer und Arbeitsplätze … wie noch nie!“. Das hat wahrscheinlich viele Lehrkräfte, Eltern, Schüler*innen, die vielen Minijobberinnen und prekär Beschäftigten in Hessen vor den Kopf gestoßen.

Mit der Landesregierung waren 60 % der Befragten zufrieden, was vor allem an der Politik der Grünen lag, die mit 19,5% der Stimmen das beste Wahlergebnis bisher in Hessen erhielten (+8,3 Prozentpunkte). Die Grünen gewannen vor allem in den größeren Städten wie in Kassel, Darmstadt, Wiesbaden, Offenbach und Frankfurt mehrere Direktmandate und sie wurde von vielen jungen Leuten gewählt.

Zu prüfen wäre, ob dem Wahlerfolg der Grünen auch wirtschaftliche Strukturveränderungen, die schon länger andauern, zu Grunde liegen. Der Anteil der Erwerbstätigen in der Verarbeitenden Industrie in Hessen sank von 18,6% 2008 bis 2016 auf 14,9%. Der Sektor der Finanz- und Unternehmensdienstleister und der Immobilienwirtschaft legte von 18,2% auf 20,8% zu und derjenige der öffentlichen und privaten, personenorientierten Dienstleister von 27,0% auf 29,6%. Das kann von der Regierungskoalition, besonders von den Grünen mit ihrem Ziel der Energiewende, als Erfolg verbucht werden. Im Bereich erneuerbare Energien tun sich auch bedeutende Investitions- und Tätigkeitsfelder auf.

Viele Menschen sorgen sich um eine weitere – soziale wie politische – Polarisierung und Fragmentierung der Gesellschaft und vor der von recht(sextrem)en Kräften ausgehenden Verrohung der politischen Sitten. Gewählt wurden die Grünen als Garant gegen diese Tendenz, nämlich für das Eintreten für eine offene und tolerante Gesellschaft und für eine humane Asylpolitik.

Tarek Al Wazir, grüner Spitzenkandidat und seit 2014 Wirtschafts- und Verkehrsminister, tritt pragmatisch, seriös, sachorientiert und solide auf. Er schaffte es, mit dieser „Politik der kleinen Schritte“ liberal-konservative Wählerschichten für die Grünen zu gewinnen und ideologische Vorbehalte abzubauen. Dies funktioniert aber nicht ohne politische Tribute.

52 % der befragten Wählerinnen und Wähler sagen, die Grünen hätten zu viele ihrer ursprünglichen Ziele aufgegeben. Von der Linken und vielen politisch Betroffenen wird heftig kritisiert, dass die hessischen Grünen Abschiebungen nach Afghanistan mittragen, dass sie dem hessischen Polizeigesetz zustimmten, das der Polizei das Mithören und -lesen von Smartphones und Computerinhalten erlaubt, und ihr verschleppendes Verhalten im hessischen NSU-Untersuchungsausschuss bezüglich der Verstrickung des ehemaligen Innenministers Bouffier und des Landesamts für Verfassungsschutz in die NSU-Mordserie.

Die AfD hatte ihr Wahlziel von 15 % + x mit 13,1 % nicht ganz erreicht. Sie hielt etwa 80 Wahlveranstaltungen in Hessen ab, die meist durch Gegenveranstaltungen vieler Bündnisse unter Beteiligung der Linken, des DGB, der VVN-BdA, der Jusos, und den Grünen beantwortet wurden. Die AfD zieht mit 19 Sitzen zum ersten Mal in den hessischen Landtag ein. Was die SPD nicht getan hat, das machte die AfD im Wahlkampf, sie polarisierte und trat als Anwalt der „Menschen in Sozialwohnungen“ auf. Sie sei keine Partei für die „Globalisierungsgewinner im Penthouse“. Sie erhielt viele Stimmen von Menschen mit einfacher Bildung. Die Spitzenkandidaten, Rainer Rahn und Robert Lambrou, treten bürgerlich-seriös auf und betonten, dass sie zukünftige Mitglieder auf Verbindungen zum rechten Spektrum untersuchen und gegebenenfalls nicht aufnehmen würden. Rahn kündigt konstruktive Oppositionspolitik an. Lambrou sagt: „Wir sind die CDU der 80er Jahre“ (Dregger, Kanther, Koch). Die „Frankfurter Rundschau“ kommentiert: „Die AfD will nicht nach rechts außen“. Andererseits hat die AfD viele Stimmen von der NPD abgezogen, die diesmal nur 0,2 % (2013: 1,1 %) in Hessen erhalten hat. Mit Andreas Lichert zieht ein Vertreter in den Landtag ein, der aktive Beziehungen zu den Identitären pflegt. Landessprecher Lambrou will diesen „weiter rechtsstehenden Flügel“ befrieden, und damit „das reibungslose Arbeiten der Partei sichern“. Gegen Rechtsaußen grenzen sie sich nicht ab!

Die Linkspartei hat ein hohes Ansehen in Hessen dafür, dass sie die Probleme beim Namen nennt und die befragten Wählerinnen und Wähler attestieren ihr beim Thema „sozialer Ausgleich“ mehr Bemühen als der SPD. Sie zieht mit 6,3 % und 9 (+3) Sitzen in den Landtag ein. Die Linken haben viele Anliegen aus der Gewerkschafts- und demokratischen Bewegung in den Landtag eingebracht. Ihr Werk ist die Abschaffung der Studiengebühren, worauf sie als Opposition stolz sein können. Ihr Wahlprogramm, das sie auch in kurdischer, russischer, arabischer und leichter Sprache angeboten hatte, bringt eindeutige Vorschläge, wie soziale Gerechtigkeit umzusetzen ist: Aktionsplan gegen Kinderarmut, Verbot von Wohnungsspekulation, Bau von 10 000 Sozialwohnungen! Linke Themen wurden auch von anderen Parteien aufgegriffen. Hauptziel der Linken, so sagt Spitzenkandidatin Janine Wissler, wird jetzt der Kampf gegen die AfD sein.

Der SPD wünschen viele, dass sie sich von ihrem Tief erholt. Ihr Programm richtete sich sowohl an besser Verdienende als auch an Ärmere. Eine konsequente Parteinahme für sozial Benachteiligte wird angemahnt. Der Frankfurter SPD-Vorsitzende Mike Josef ist der Meinung, dass die SPD über die Kommunen wiederaufgebaut werde müsse. Der Wahlerfolg von OB Feldmann in Frankfurt am Main ist noch gut in Erinnerung.

Thorsten Schäfer-Gümbel kann sich vorstellen, dass die SPD Juniorpartnerin in einer Ampelkoalition mit den Grünen und der FDP wird – wenn die Inhalte stimmen! Allerdings sieht es derzeit nicht so aus, dass die FDP als nationalliberaler Faktor, die mit 7,5 % (+2,5%) wieder in den Landtag einzieht, mit dem Spitzenkandidat René Rock die grünen Inhalte mitträgt. Schwarzgrün hätte allerdings nur eine hauchdünne Mehrheit von einem Sitz!

Quellen: Wahlnachtbericht von Horst Kahrs (RLS) mit Erhebungsergebnissen von Infratest dimap, (FR 31.10.)

Abb (PDF): Sitzverteilung im Landtag Hessens