Aus Politische Berichte Nr. 11/2018, S.04 InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

Wahlen in Hessen und Bayern, Folgen im Bund, Vorbereitung EU-Wahlen

Wahlen verwandeln Meinungen der Wahlberechtigten in Macht der Repräsentanten. Zum einen folgt aus Wahlergebnissen etwas für die Regierungsprogramme, die für Bayern soeben vorgelegt werden und für Hessen in Arbeit sind. Zum anderen entstehen sehr starke Rückwirkungen auf die Diskurse, die öffentliche Meinung bilden, und auf die Strategiediskussion der Parteien. Dazu die folgenden Beiträge aus Hessen, Berlin, Bayern sowie ein Bericht von einer Regionalkonferenz der Linken zu den anstehenden Europawahlen.

Bayern: Wahlergebnis, Regierungsbildung, Repräsentationslücken

Martin Fochler, München

Vor der bayerischen Landtagwahl war absehbar, dass die CSU trotz starker Verluste größte Partei bleiben wird, sicher war auch, dass die Grünen an der SPD vorbeiziehen und zur zweitstärksten Kraft werden würden, und hochwahrscheinlich, dass die bayerischen Linke in dieser Konstellation an der 5%-Hürde scheitern würde. Schwer vorherzusehen war, wie sich die Verhältnisse rechts von der Mitte gestalten würden. Es wären auch Konstellationen denkbar gewesen, die eine schwarz-grüne Regierungsbildung nahegelegt hätten. Dazu ist es nicht gekommen.

Eine Koalition aus CSU und Freien Wählern

Die CSU, deren Umfragewerte schon unter 35 Prozent gefallen war, konnte den Abwärtstrend brechen, die Wahlforschung meint, durch Mobilisierung eigentlich verdrossener, CSU-geneigter Nicht-Wähler. Damit wurde eine Koalition aus CSU und Freien Wählern (85 + 27 = 112 von 205 Abgeordneten) möglich. Rechts von der Mitte gäbe es zudem noch die FDP mit elf Mandaten als Reserve, und ganz rechts stehen 22 von der AfD, die Stimmung machen können.

Für so gut wie alle – professionelle Beobachter, Wahlkämpfer, Wähler, die breite Öffentlichkeit – überraschend war das Absacken der SPD auf bloß 9,7%. Bitter ist das auch für die Grünen, denen im Land die Alternative zu Schwarz-Grün verloren ging. Sind die Stimmenverluste der SPD eine Folge der Regierungsbeteiligung in Berlin? Dafür spricht, dass auch die CSU über zehn Prozent verlor. Söder kann jedoch eine stabile Regierung bilden, während die SPD ins Kielwasser der Grünen geraten ist, einer Partei, die dringend an die Regierung wollte, aber weiter Opposition bleibt. Unbestreitbar hat das bayerische Wahlergebnis Ursachen in der und Folgen für die Regierung im Bund. Aber zu dieser Erklärung passt der Erfolg der Freien Wähler nicht.

Die Freien Wähler wachsen in einer Repräsentationslücke

Wahlen führen in einem mehrstufigen Prozess zur Verwandlung von öffentlicher Meinung in politische Macht: Zuerst Auswahl der Kandidat/innen durch die Parteien, dann Mandatsverteilung durch die Wählerschaft, schließlich Koalitionsverhandlungen im Parlament, endlich die Regierungsbildung. Es kommt zu Verschiebungen bei den Ausgabenschwerpunkten und den Vorhaben der Gesetzgebung. Ganz zum Schluss ändert sich auch etwas im Verwaltungshandeln, denn die Bewegungen im Ermessensspielraum richten sich an den neuen Spitzen aus.

Das Leitmotiv der Landtagswahl war die überall gefühlte Notwendigkeit, die Palette der öffentlichen Dienste und Leistungen an gewandelte Bedürfnisse der Wirtschaft wie der Lebensführung anzupassen. IT-Anbindung, Mobilität, Ballung, Verdichtung, Flächenfraß, Ansiedlung, Bildungswesen, Gesundheit, alles im Fluss, stabil und wacklig zugleich. Wer soll das richten und wie?

Die CSU operiert seit Jahr und Tag in Tuchfühlung mit den Spitzenorganisationen und Personen der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Kultur, des Sports, bis hin zur schulterklopfenden Integration hauptberuflicher Lästermäuler. Stimmen für die CSU bestätigen auch diese Autoritäten. Diese Stimmung ist stark geblieben, aber nicht mehr in der Mehrheit.

Das Führungspersonal lebt und wirkt in den Zentren des kleinen, in die Weltwirtschaft eingebetteten Landes, vergleicht sich und den Standort mit den Großen der Welt, wäre auch gerne groß und sieht das Land als bloßes Umland der bestimmenden Metropole. Weil die Stärken des Bundeslandes auf geschickter Kombination von Stadt und Land, Wissenschaft und Gewerbe, Tradition und Innovation fußen, ist die Metropole der falsche Maßstab der Staatspolitik. Politisch ausgeblendet finden sich Menschen, die sich selbst als einfache oder auch kleine Leute bezeichnen, Selbstbestimmung im Familienleben und dem eigenen Heim mit Garten suchen, Anerkennung und gutes Geld für gute und harte Arbeit erwarten, im ländlichen Raum Handwerk, Landwirtschaft und andere flächenintensive Gewerbe betreiben. Solche Leute misstrauen hochfliegenden Visionären und suchen politische Repräsentation durch Menschen ihres Schlages. So kam es zu einer Repräsentationslücke, die sich in dem Unterschied von 60,7 Prozent (2003) und 37,2 Prozent (2018) ausdrückt, und so entstanden die Freien Wähler, die ihr politische Können in der Kommunalpolitik und bei verschiedenen Volksbegehren unter Beweis stellten und sich im Landtag als herbe Kritiker großmannssüchtiger Auftritte profilieren konnten. Hinreichend viele Wählerinnen und Wähler trauten dieser Partei zu, „den Söder auf die Spur zu setzen“. Zusammen steht eine Mehrheit, nächste Woche wird die Regierungsbildung vollzogen sein. „Alles bleibt anders“, kommentierte lächelnd die Moderatorin vom BR.

Die Grünen bleiben Opposition

Den Grünen sind aus einer Kritik der Maßlosigkeit des modernen Kapitalismus entstanden. Forderungen und Kampagnen zur dessen Eingrenzung führten zu einer Strategie des Verhinderns mit politischen Mitteln. Im Lauf der Jahrzehnte traten eigene Ideen und Praktiken wirtschaftlicher Entwicklung hinzu. Ganzheitliche & alternative Medizin, Gleichberechtigung in der Familienorganisation, Abbau autoritärer Strukturen im Erziehungswesen, ökologische Landwirtschaft, umweltverträgliche Lebensgestaltung, Nachhaltigkeit beim Haus- und Siedlungsbau, Energieproduktion und Verteilung; alles Strategien, die in höchstem Maß auf ideelles und materielles Entgegenkommen von Gesetzgebung und Staatsverwaltung angewiesen sind. Das bayerische Wahlergebnis spiegelt die wachsende Bedeutung dieser Gestaltungsideen wieder, will sie aber nicht herrschen lassen. Als erstarkte Opposition können die Grünen im Landtag für ihre Vorschläge von Fall zu Fall eine Mehrheit suchen, und wenn sie da nicht durchdringen, bleibt ihnen als Machtmittel der Weg des Volksbegehrens, und da braucht es dann linke Bündnisse.

Die Repräsentationslücke Links von der Mitte

Die SPD hat sich im Wahlkampf ausdrücklich als „Partei des Sozialstaates“ dargestellt. Das liegt nahe, denn die Sozialdemokratie stellt für die Gestaltung der öffentlichen Dienste und Leistungen tragende Theorien und engagierte Praktiker. Als „Partei der Arbeit“ ist die SPD nicht aufgetreten. Sie hat dafür auch nicht mehr das Personal, die Kombination von kritischer Intelligenz und Arbeiterbewegung, die vormals das Parteileben kennzeichnete, ist nicht mehr da. Auch dieses Defizit hat sich langsam, im Verlauf von Jahrzehnten, aufgebaut. 1994 hatte die SPD noch 30% erreicht. Dann setzte ein Niedergang ein, den auch der außerordentlich beliebte und als langjähriger Oberbürgermeister Münchens verdienstvolle Christian Ude 2013 als Spitzenkandidat der Landtagswahlen (20,6 Prozent für die SPD) nicht aufhalten konnte. Damals konnte man das noch als Stadt/Land-Differenz interpretieren. Jetzt nicht mehr, denn die 2018 im ganzen Land erzielten 9,7 Prozent wurden auch in München nicht wesentlich überschritten. Hier fiel die SPD gegenüber 2013 um 19,3 Prozentpunkte auf jetzt 12,8 Prozent zurück.

Die Städte Bayerns, auch München, sind nicht nur von Herrschaftsfunktionen geprägt, sondern auch gewachsene Industrie- und Gewerbestädte. Der Vertrauensverlust in die SPD ereignet sich bei Leuten, die ihren Lebensunterhalt in Arbeit für die große Industrie und für die von deren Gedeihen weitgehend abhängigen kleineren Betriebe und Gewerbe finden. Es geht dabei nicht um soziale Hilfen und Notlagen. Die z.B. bei BMW oder Audi erzielten Löhne und Gehälter sind keineswegs dürftig. Die SPD hat eine weit zurückreichende Tradition, in der die Idee des sozialen Fortschritts durch vom Staat eingehegte, beeinflusste oder sogar direkt gelenkte wirtschaftliche Entwicklung eine Konstante ist.

Diesen strategischen Ansatz haben die Grünen aufgegriffen, aber nur für die Entwicklung des schmalen Sektors ökologisch bestimmten Wirtschaftens ausformuliert. Die Sozialdemokratie hingegen ist mit dem großen Plan gescheitert, auf dem Wege der betrieblichen Interessenvertretung und der Mitbestimmung den arbeitenden Menschen Mitwirkung bei den strategischen Weichenstellungen der Unternehmen zu ermöglichen und Missbrauch wirtschaftlicher Macht zu kontern. Ein weltweit sichtbares Monument dieses Scheiterns ist der Betrug in Sachen Abgaswerte. Praktisch bedeutet das: Die Diskussion von Fragen der industriellen Entwicklung – von der Entwicklung der Berufsbilder bis hin zu technologischen Strategien – die in den Belegschaften der großen Industrie und in den Gewerkschaften vorhanden ist, muss politisch aufgegriffen werden. Gegenwärtig ist Adresse dieser Diskussionen das Spitzenmanagement die CSU und für den ökologischen Sektor die Grünen. Als Partei des Sozialstaates kommt die Partei nur noch als Rettungsdienst in Betracht. Die Besorgnis, dass wertlos wird, was man in Ausbildung und Berufspraxis gelernt hat, dass umgeworfen wird, wie man sich das Leben eingerichtet hat, die Verbitterung, die entsteht, wenn man dem Niedergang eine Firma oder eines Gewerbes einfach nur zusehen muss, all diese Kräfte treiben die Leute, Parteien zu wählen, die Kontakt zum Führungspersonal der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Kultur usw. haben. Das erzeugt eine autoritäre Grundstimmung, und wenn es hochkocht, den Ruf nach neuer Führung.

Die Vorgänge Rechtsaußen und die linken Gegenbewegungen

Außerordentlich beeindruckend waren im Bayern der letzten Monate die Demonstrationen zur Verteidigung von Menschenrechten und sozialen Standards. Die SPD, die Grünen, aber auch die Linkspartei und ein breites Spektrum zivilgesellschaftlich engagierter Menschen haben diese Aktivitäten getragen. Die öffentliche Meinung hat sich gleichwohl nicht nach links verschoben, die CSU wurde nicht in die Koalition mit den Grünen gezwungen, die Linke blieb weit unter den fünf Prozent und die SPD landete unter zehn Prozent.

Die linken Bewegungen und Parteien (auch die SPD) haben zwar Mitglieder gewonnen, in der öffentlichen Meinung durchdringen konnten sie nicht. Tatsache ist, dass die linke Kritik, was Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung angeht, zum Mitläufer der Grünen abgesunken ist. Die Diskussionen, die um solche Fragen in den Gewerkschaften, aber auch in den Belegschaften und ihren Betriebsräten geführt werden, beachten sie kaum. Dieses Defizit muss getilgt werden. Das ist zuallererst eine Frage des guten Willens.

Kommunale Selbstverwaltung

Aber wenn es um wirtschaftliche Probleme geht, orientieren sich die Leute an Ergebnissen. Das bayerische Wählervotum hat die SPD und die Linke zur Bewährung in der Kommunalpolitik verdonnert. Die gute Botschaft ist, dass auf diesem Feld Koalitionen links von der Mitte, mit den Grünen, mit kleineren Parteien und Wählervereinigungen rechnerisch und auch inhaltlich möglich sind. Zum Beispiel in München, hier eine kleine Tabelle, in der kleine Parteien wie die ÖDP und andere gar nicht mitgerechnet sind:

Landtagswahlen (LW), Kommunalwahlen (KW), Europawahlen (EU), Bundestagswahlen (BW) im Stadtgebiet München:

Jahr

SPD

Grüne

Linke

Summe

2013 (LW)

32,1

12,1

2,3

46,5

2014 (KW)

30,8

16,6

2,4

49,8

2014 (EU)

26,9

19,6

4,0

50,5

2017 (BW)

16,2

17,2

8,3

41,7

2018 (LW)

12,8

31,1

4,7

48,6

Abrupte Verschiebungen zwischen den Parteien können ein Potential links von der Mitte nicht verdecken. Wahrscheinlich entsteht es, weil in den Städten unübersehbar ist, dass die moderne, in weltweite Arbeitsteilung eingebettete Wirtschaft das Zusammenwirkungen von Menschen verschiedener Herkunft und Orientierung voraussetzt, und auch, dass der ganz auf Beruf und Lohn fixierte moderne Arbeitsmensch ohne soziale Sicherungssysteme nicht bestehen kann. Damit ist ein Gestaltungsprinzip für die öffentlichen Dienste und Einrichtungen da, das in der städtischen Verwaltungspraxis eindrucksvoll verwirklicht oder krachend misslingen kann. Umwelt- und Naturschutz können hier Gestalt annehmen. Das gefestigte Leitbild „solidarische Stadt“ kann mit dem Leitbild „Nachhaltigkeit“ verbunden werden. Das ist viel, aber nicht alles.

Ein Leitbild, das Ziele wirtschaftlicher Entwicklung positiv bestimmt, muss entwickelt werden, und es kann, so wie die Dinge liegen, nur im Dialog der Parteien links von der Mitte und zusammen mit den Gewerkschaften und Sozialverbänden entstehen. Es gibt viele Anhaltspunkte, die nahelegen, dass auf diesem Wege auch linke, besser sollte man sagen, links-alternative Politik in den Landgebieten gefördert wird.

Die Abwehr des Nationalismus

Die Kultur der Solidarität und des kollegialen Miteinander-Auskommens ist in der Geschichte der Bundesrepublik durch den Einsatz der Gewerkschaften in den Betrieben und, vermittelt über die SPD, durch die Gesetzgebung entwickelt worden. Diese Entwicklung war in die Herausbildung der EU eingebettet und hatte die Festigung der Vereinten Nationen als Bezugspunkt und die sogenannte Entwicklungspolitik als Hoffnung. Diese auf die Idee der Völkerverständigung gegründeten Institutionen erodieren, am Beispiel der BRD zeigt sich, wie Abweichungen vom Pfad der Völkerverständigung die Verständigung im Land gefährden. Die Tendenz, Probleme auf Kosten anderer zu bewältigen, erstarkt. Haltung, politische Moral oder, wie die Spitzenkandidatin der SPD immer wieder sagte, Anstand stehen dagegen. Sie stehen auf verlorenem Posten, wenn die politische Linke nicht ausbuchstabieren lernt, was solche Werte etwa für die Arbeitsmarktfreizügigkeit in Europa oder für die Gestaltung der weltweiten Migrationsprozesse oder für Abrüstungsvorhaben bedeuten. Wer in die Veranstaltungskalender einer beliebigen großen Stadt schaut, wird anerkennen, dass öffentliches Interesse an solchen Fragen gegeben ist.

Abb (PDF): Sitzverteilung im Landtag Bayerns