Aus Politische Berichte Nr. 11/2018, S.08 InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

Italien: Der „Haushalt des Volkes“

01 info: Der „Fall Italien“ – einige Bemerkungen, Paola Giaculli, Berlin 26. Oktober 2018

Paola Giaculli, Berlin 2. November 2018

Der Bruch mit der EU-Austeritätspolitik muss nicht unbedingt zu einer Abkehr von der neoliberalen Politik führen. Deshalb sollte die „Rebellion“ der italienischen Regierung gegen den Zwang des Fiskalpaktes aus linker Sicht nicht als Befreiungsschlag oder als Sieg der Politik über die Märkte gefeiert werden. Der Fiskalpakt muss im Namen einer konsequenten Investitions- und Beschäftigungspolitik bzw. sozial gerechten Steuerpolitik überwunden werden. Dazu braucht es außerdem eine andere Wirtschafts- und Industriepolitik. Davon fehlt jegliche Spur im aktuellen italienischen Haushaltsentwurf und in diesem Sinne unterscheidet sich die jetzige Regierung von den früheren kaum. Die einzelnen Posten sind noch nicht bekannt, aber von den 36,7 Milliarden Euro (ca. 22 Milliarden Neuverschuldung) sollen ca. 9 Milliarden für die Einführung eines so genannten Bürgereinkommens bzw. eine Aufstockung von Mindestrenten bzw. Niedriglöhnen auf 780 Euro verwendet werden. Weitere sieben Milliarden werden eingestellt, um die Rentenreform (Regierung Monti 2012) nachzubessern. Angekündigt ist eine Frühverrentung mit 62 Jahren bei 38 Beitragsjahren. Ungefähr 150 000 Beschäftigte im öffentlichen Dienst könnten dies 2019 nutzen. Da fehlt aber ein Plan für eine rasche Einstellung von neuen Arbeitskräften, um einen Kollaps vor Ort zu verhindern.

Steuersystem

Natürlich wäre die Einführung einer Flat Tax, bzw. eines nicht progressiven Steuersystems, weder verfassungskonform noch aus linker Sicht akzeptabel. In den letzten 25 Jahren wurden die Steuersätze für Kapitalgesellschaften und höhere Einkommen systematisch reduziert, für niedrigere Einkommen aber zugunsten von Finanzrenditen und Reichen erhöht.

Zwar muss es den Klein- und Mittelunternehmen (KMU), die unter der Wirtschaftskrise besonders gelitten haben, geholfen werden (mitverantwortlich für ihr Leiden ist übrigens der Staat selbst, der den KMU 57 Milliarden für ihre Aufträge schuldet). Aber es kann nicht sein, dass die umfangreiche Steuerhinterziehung von geschätzt 110 bis 130 Milliarden pro Jahr geduldet und aufgrund eines Steuererlasses Steuerhinterzieher geschont werden.

Investitionen

Im Haushaltentwurf werden nur 3,5 Milliarden für Investitionen eingestellt. Details über diesen Posten bleiben bis dato unbekannt. Trotz des Alarmzustandes im Lande angesichts maroder Infrastrukturen, einstürzender Schulen, Brücken und Straßen, der alarmierenden Bodenerosion, die eine wilde Bauspekulation im Laufe der letzten Jahrzehnte zum großen Teil zu verantworten hat, den Verwüstungen von Erdbeben und schließlich des Klimawandels haben sich öffentliche Investitionen in den Jahren 2008 bis 2018 unglaublicherweise um 30 Prozent reduziert. Auch diese Regierung sieht hier keinen Handlungsbedarf. Bildung und Kultur gehen (wieder) leer aus. Die Schüler*innen waren neulich auf den Straßen mit dem Motto „wir wollen die acht Milliarden zurück, die uns Berlusconi vor zehn Jahren weggenommen hat!“.

Bürgereinkommen

Das „Bürgereinkommen“ ist ein italianisiertes Hartz IV. Sozial- und Wirtschaftsminister Luigi Di Maio (5Sterne) war Anfang Oktober nicht zufällig zu Besuch bei den deutschen Kollegen Hubertus Heil und Peter Altmaier, die laut Di Maio Verständnis und Kooperationswillen gezeigt haben. Das „Bürgereinkommen“ soll wie in Deutschland [1] ein institutionalisiertes Überwachungssystem werden, in dem die Leistungsbezieher*innen nicht frei über das erhaltene Geld verfügen können. Dies kann kaum noch als sozialstaatliche Politik definiert werden. Nur elektronische Zahlungen sollen erlaubt und die Leistung muss monatlich aufgebraucht werden. Bis zu drei Arbeitsangeboten dürfen abgelehnt werden, Fortbildungskurse und acht Stunden „gesellschaftlich nützliche“ Arbeit sind Pflicht. Auch nichtitalienische Bürger*innen, die zumindest fünf Jahre in Italien angemeldet sind, dürfen immerhin die Leistung beziehen. Sozialbetrüger*innen sollen mit bis zu sechs Jahren Haft bestraft werden. „Unmoralisches Einkaufen wird nicht erlaubt“, mahnt Di Maio. Noch unklar ist, was die Leistungsempfänger*innen nicht kaufen werden dürfen (abgesehen von Alkohol, Tabak, und Spielen) und wie sie überwacht werden sollen. Für die Errichtung bzw. Umgestaltung von Arbeitsagenturen wird eine Milliarde Euro vorgesehen. Aktuell gibt es 552 solcher Zentren mit knapp 8000 Beschäftigten, die bisher nicht einmal 3 Prozent der eingetragenen Arbeitssuchenden einen Job vermitteln konnten. Die Hälfte davon verfügt nicht einmal über ein aktualisiertes Informationssystem. Die Zahl der möglichen Empfänger*innen wird auf um fünf Millionen geschätzt. Sie leben vor allem im Süden, wo die Arbeitsagenturen technologisch noch schlechter (72 Prozent) ausgestattet sind. Um die Sozialleistungen überweisen zu können, müssten sie aber in der Lage sein, Anspruchsvoraussetzungen zu überprüfen und deshalb sich mit Finanzamt, Banken, Zoll zu koordinieren. Wie das bis April 2019 geschehen soll, bleibt für viele Experten noch ein Rätsel.

Mittel für Integrationsaufgaben

Gleichzeitig werden Integrationsmittel gekürzt. Öffentliche Flüchtlingszentren vor Ort sollen dichtgemacht werden. Schon protestieren Kommunen dagegen, denn gerade diese Zentren sind gute Beispiele für gelungene Integration. Aber Innenminister Matteo Salvini (Lega) wollte mit seinem Kampf gegen den Integrationsbürgermeister von Riace ausgerechnet in der Region Kalabrien, Hochburg einer der mächtigsten kriminellen Organisationen der Welt, der N’drangheta, ein Exempel statuieren. Gegen die Abwanderung (geschätzt 250 000 bis 300 000 Menschen pro Jahr seit 2013), anders als die Einwanderung ein alarmierendes Problem besonders in Süditalien, wird übrigens nichts unternommen. Zum Verteidigungsetat (aktuell 1,15 Prozent des BIP) sagte Verteidigungsministerin Elisabetta Trenta (5Sterne) der Nato-Forderung nach dem Anstieg auf zwei Prozent bis 2024 zu. Anders als von der 5Sterne-Bewegung versprochen wird Italien die umstrittenen Jagdbomber F-35 von den USA für zehn Milliarden kaufen. Die im Haushaltsentwurf enthaltenen Kürzungen (60 Mio. für 2019 bzw. 531 Mio. für die Jahre 2019 bis 2031) stellen eher organisatorische Korrekturen dar.

„Dekret der Würde“

Die Versuche, durch ein so genanntes Dekret der Würde (August 2018), Arbeitsprekarisierung und Deindustrialisierung zu bekämpfen, sind zwar im Prinzip lobenswert, aber weit ungenügend. Unternehmen, die öffentliche finanzielle Unterstützung erhalten haben, dürfen fünf Jahre lang nicht verlagert werden. Befristete Arbeitsverträge ab zwölf Monate dürfen nur mit Sachgrund bis auf 24 Monate verlängert werden. Alle anderen dürfen bis viermal (statt fünf) verlängert werden. Diese Maßnahmen könnten freilich auch zu mehr Scheinselbstständigkeit führen. Anzeichen dafür gibt es: In den letzten Monaten ist die Zahl sowohl der unbefristeten als auch der befristeten Arbeitsverträge im Vergleich zur gleichen Periode 2017 gesunken, die der Selbständigen gleichzeitig gestiegen.

Ob all dies die Entwicklung in Italien positiv beeinflussen kann, scheint fraglich. Die 5Sterne-Bewegung hat sich von der Lega vereinnahmen lassen, einer fremdenfeindlichen Partei, die ihr Agieren auf Hetze gegen Süditalien und Südländer*innen fundiert und vor kurzem aus opportunistischen Gründen eine „nationale“ Partei geworden ist. Staatspräsident Mattarella wollte keinen EU-skeptischen Finanzminister, aber hat erstaunlicherweise das verfassungswidrige Sicherheitspaket unterschrieben, wenn auch mit Bedenken.

Was wäre nötig

Was Italien braucht ist, neben einen großen Investitionsplan, eine Wirtschafts- und Industriestrategie, um Beschäftigung zu schaffen und das enorme Ungleichgewicht zwischen Nord und Süd zu überwinden. Neben dem, was auf nationale Ebene möglich ist, sollte eine EU-koordinierte Wirtschafts-, Steuer-, und Lohnpolitik durch die Einführung von Mindestsozialstandards dem Fiskalpakt und dem Wettbewerb innerhalb der EU ein Ende setzen. Das würde die Verlagerung von Betrieben in Niedriglohnmitgliedsstaaten mit Niedrigsteuern eindämmen, die für den massiven Verlust von Arbeitsplätzen verantwortlich ist und dazu beitragen, Beschäftigung und Knowhow vor Ort zu behalten und zu differenzieren. Die linke Alternative zur aktuellen Europäische Union sollte der Aufbau eines Raums der sozialen Menschenrechte sein, der dezidiert gegen den lebensbedrohlichen Klimawandel kämpft und der gleichzeitig enorme Chancen für die Beschäftigung eröffnen könnte.

Der Streit zwischen EU-Austerität und „Volkssouveränität“ ist eine Zwickmühle, der sich linke Politik entziehen sollte. Die bestehenden EU-Regierungen, die sich auf diese Souveränität berufen, betreiben eine neoliberale Politik und beschneiden die Rechte aller, die als „volksfremd“ angesehen werden. Die sozialen Rechte werden zu Zugeständnissen eines autoritären Staates, der die „Fremden“ bzw. Anderslebenden und Armen stigmatisiert und noch größere Ungerechtigkeit schafft. Ausgrenzung, Beschneidung von Bürgerrechten und Überwachungswahn stellen eine verschärfte Stufe des antisozialen Neoliberalismus der letzten 30 Jahre dar. Auch Italien mit seiner jetzigen Regierung scheint diesen Weg mit dem von Di Maio genannten „Haushaltsgesetz des Volkes“ (manovra del popolo) einzuschlagen.

[1] Hubertus Heil soll in seinem Gespräch mit Di Maio gesagt haben: „Endlich habe ich verstanden, dass es nicht um eine Transferleistung handelt, sondern um eine Maßnahme der aktiven Arbeitsmarktpolitik wie das deutsche Hartz IV“. Il Fatto quotidiano, 9. Oktober 2018, https://www.ilfattoquotidiano.it/2018/10/09/centri-impiego-di-maio-a-berlino-si-accredita-col-governo-e-studia-il-modello-che-ha-dimezzato-la-disoccupazione/4680141/

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info: Der „Fall Italien“ – einige Bemerkungen

Paola Giaculli, Berlin 26. Oktober 2018

Anders als es oft auch von linksorientierten Ökonomen behauptet wird,[1] leidet Italien nicht unter mangelnder Exportrentabilität. Die Finanz- und Wirtschaftstageszeitung Il Sole24ore des italienischen Industrieverbandes Confindustria berichtet[2] über die letzten drei Jahre als „goldene“ Zeit, in der die „deutsche Lokomotive geschlagen“ wurde. Laut Statistik des statistischen Amtes ISTAT wächst die italienische Industrie (+3,8 Prozent) 2017 anders als erwartet mehr als die deutsche (+2,7), britische (+2,3) und französische (+1,7). Dazu hat insbesondere der Export beigetragen. Der italienische Handelsüberschuss in der Industrie, der fünfstärkste der Welt, hat sich in den letzten zehn Jahren in diesem Bereich fast verdoppelt (von 53 Mrd. 2007 auf 97 Mrd. 2017) und nach den Tiefs der Jahre 2008 bis 2013 als Motor der italienischen Wirtschaft erwiesen. Im Vergleich zu 2013 wachsen insbesondere die Sparten Transportmittel (+42 Prozent), Metallprodukte (+13,8), Pharmazeutik (+12,4), Chemie (+12,3) und Lebensmittel (+9,9). Italien scheint also alles andere als konkurrenzunfähig zu sein. Aber die Erfolge der Industrie können kaum zum Wachstum des BIP beitragen. Wo hakt es dann?

Das enorme Ungleichgewicht innerhalb des Landes stellt einen großen Bremsfaktor dar. Das Wirtschaftssystem und somit Italien ist tief gespalten: einerseits der erfolgreiche Industriesektor, andererseits kriselnde öffentliche Dienste, Infrastrukturen, Bauindustrie, Dienstleistungen, Energie, Wasser, Transporte. Norditalien, wo sich die Industrie konzentriert, ist längst Bestandteil der nordeuropäischen Wirtschaftsregion, während der deindustrialisierte Süden unter chronischem Mangel an Infrastrukturen und hohen Armutsraten leidet (im Vergleich: Erwerbslosigkeit im Norden ist ähnlich niedrig wie in Deutschland, im Süden ähnlich hoch wie in Griechenland[3]).

Die Situation ist sehr komplex, denn die Deindustrialisierung betrifft in den letzten Jahren auch traditionell gut entwickelte Gebiete im Norden und im Zentrum, z.B. im Textil- und Metallbereich. Durch den Abverkauf von „Erbstücken“ der italienischen Wirtschaft an internationale Konzerne bzw. Investitionsfonds (neulich von Magneti Marelli, Konkurrent von Bosch) herrscht allgemeine Ungewissheit über das Erhalten von Arbeitsplätzen und Know-how. In mehreren Fällen hat dies zu Schließungen und deshalb hoher Erwerbslosigkeit geführt. Die andauernde Verlagerung von nicht unbedingt von der Krise betroffenen bzw. soliden Betrieben nach u.a. Serbien, Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien hat die Beschäftigungskrise weiter verschärft. Bis zum Paradox, dass Facharbeiter ins Ausland geschickt werden, um Kollegen fortzubilden, die ihre Jobs jetzt „wegnehmen“, wie im Fall des Embraco (Whirpool) bei Turin, mit 500 Beschäftigten (1450 Euro Nettolohn), der aufgrund von Niedriglöhnen (Mindestlohn bei 500 Euro) und günstiger Unternehmenssteuer in die Slowakei verlagert wurde.

Außerdem grassieren Korruption und organisierte Kriminalität weiter, insbesondere dort, wo wie im Süden hohe Arbeitslosigkeit herrscht. Den in Italien höchsten und EU-drittschlechtesten Anteil an jugendlichen Erwerbslosen hat Kalabrien mit 55, 6 Prozent (Eurostat, April 2018). Hier besitzt die lokale Mafia, die mächtige N’drangheta, faktisch das globale Monopol auf den Kokainhandel (80 Prozent).

Die Steuerhinterziehung bzw. -vermeidung wird aktuell bei 100 bis 130 Mrd. Euro pro Jahr geschätzt[4]. Außerdem: In einem Land mit extrem maroden Infrastrukturen, das immer wieder von Erdbeben, Bodenerosion, Erdrutschen geplagt wird, sollte der Staat natürlich viel mehr in Infrastrukturen investieren. Im von der EU-Kommission gerade abgelehnten Haushaltentwurf liegt der Anteil dazu bei 3,5 Prozent.

(Auszüge aus einem Artikel, der bereits von Axel Troost in seinem Newsletter verschickt und von OXI online in verkürzter Fassung publiziert wurde).

[1] Neulich von H. Flassbeck, „Moscovici, der letzte Socialiste“, Makroskop, 22. Oktober: „Der Weg über steigende Exportüberschüsse, den Italien früher oft mit Erfolg gegangen ist, gibt es in der Währungsunion nicht mehr, weil Deutschland mit seiner durch jahrelanges Lohndumping erworbenen überragenden Wettbewerbsstellung jeden Versuch in diese Richtung blockiert“.

[2] Il Sole 24ore, 24. Oktober 2018 https://www.ilsole24ore.com/art/commenti-e-idee/2018-10-24/il-triennio-d-oro-manifattura-battuta-locomotiva-tedesca-082505.shtml?uuid=AEQXnDUG

[3] http://dati.istat.it/Index.aspx?DataSetCode=DCCV_TAXDISOCCU1

[4] In Deutschland sind es 165 Mrd. laut der NGO Tax Justice Network; https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/id_82649640/enthuellungen-durch-paradise-papers-steueroasen-kosten-deutschland-viele-milliarden.html