Aus Politische Berichte Nr. 12/2018, S.04 InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

Ein mögliches Abkommen

Eva Detscher, Karlsruhe

01 Zeittafel

02 Anti-Brexit-Zeichnungen

Ein Austrittsvertrag und eine politische Erklärung zur zukünftigen Partnerschaft zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich (UK) liegen seit dem 25. November auf dem Tisch. Beide Seiten betonen, dass die jeweiligen Haltelinien nicht überschritten worden seien, der Kompromiss der bestmögliche sei. Der Wunsch, einen regelbasierten Austritt eines Mitgliedsstaates aus der EU zu ermöglichen, ist auf beiden Seiten groß. Der Moment des Schocks, dass wegen Gibraltar alles scheitern könnte, und die rasche Einigung mit der spanischen Regierung haben das eindrucksvoll bestätigt.

Michel Barnier, Unterhändler der Europäischen Union, hat im August davon gesprochen, dass 80 Prozent des Vertrages ausgehandelt seien. „Das Vereinigte Königreich weiß um die Vorzüge des Binnenmarkts. Es hat in den vergangenen 45 Jahren dazu beigetragen, unsere Regeln zu gestalten“, schreibt Barnier in einem Beitrag in der FAZ. Die letzten 20 Prozent kamen sicherlich auch wegen einer solchen Haltung zustande: Großbritannien und die EU werden auch nach einem Austritt einander brauchen. Seit dem 25. November überschlagen sich die Meldungen über die Vorbereitungen für den und die Auswirkungen des Brexits. In allen Lebensbereichen, in Organisationen, bei Firmen, für ganze Wirtschaftszweige, im Finanzsystem, für das Wissenschaftssystem müssen Dinge geregelt werden, die sich in ihrer Komplexität und Vielfalt langsam erst erschließen. Wie verschlungen die Wertschöpfungsketten sind und wie reibungslos sie innerhalb der EU funktionieren, tritt mehr und mehr in den Vordergrund. Allerdings haben die britischen Gewerkschaften große Befürchtungen, dass Arbeitnehmerrechte und soziale Standards unter die Räder kommen.

Die politischen Akteure sind in heller Aufregung, und ob es eine Mehrheit im britischen Parlament für den jetzt ausgehandelten Deal geben wird, ist völlig offen: die Konservativen dividieren sich Tag für Tag mehr auseinander (das 9. Regierungsmitglied, der für Forschung und Universitäten zuständige Staatssekretär Sam Gyimah, hat gerade angekündigt, sowohl sofort zurückzutreten als auch gegen das Abkommen zu stimmen), die üblichen Verdächtigen wie Rees Mogg, David Davies oder Boris Johnson verlegen den Untergang des britischen Weltreiches vom Ende des 19. Jahrhunderts auf den Tag, an dem dieses Abkommen beschlossen werden wird. Wie viele der konservativen Parteikollegen May und dem ausgehandelten Abkommen ihre Stimme geben werden, ist nicht abzusehen. Die Labour-Partei will dem Abkommen nicht zustimmen, sie will regieren und dann alles besser machen, also Neuwahlen provozieren. Theresa May hat sich mit einem Brief ausdrücklich an die Bürger von UK gewandt: „Unsere besten Tage liegen vor uns.“ Sie besucht jedes der vier Landesteile Wales, Irland, Schottland und England, um so den Druck auf die Parlamentarier aus ihren Wahlbezirken zu erhöhen, dem jetzt möglichen geordneten Austritt zuzustimmen.

Ausgangslage für das jetzt gefundene Abkommen und Eckpunkte des Abkommens:

UK-Seite: Das Referendum im Juni 2016 stellte den Wendepunkt in einer politischen Auseinandersetzung im Vereinigten Königreich dar, die geprägt war von Stimmungsmache und – in diesem Falle stimmt der Begriff – populistischer Fokussierung alles Elends auf die Ursache „Brüssel“. Die einzige Frage des Referendums war: „Soll das Vereinigte Königreich Mitglied der Europäischen Union bleiben oder die Europäische Union verlassen?

In den gut drei Jahren seither werden die Entscheidungsgründe der Mehrheit des Referendums interpretiert – sie werden vielfältig sein, und der eine oder andere wird inzwischen bedauern, dass er seine Probleme meinte, durch einen EU-Austritt lösen zu können. Herausgeschält – allerdings nicht unumstritten – haben sich Haltelinien für die britische Verhandlungsseite, jenseits derer der innere Zusammenhalt des Vereinigten Königreichs – sowohl in der Bevölkerung als auch zwischen den Landesteilen England, Irland, Schottland und Wales – nicht mehr gewährleistet werden könnte: Nordirlandfrage, Gibraltar, britische Hoheit über Handelsabkommen und Freizügigkeit.

Vorgaben des EU-Parlaments zu Beginn der Verhandlungen: Rechte der EU-Bürger im Vereinigten Königreich; Rechte britischer Staatsbürger, die in anderen Mitgliedstaaten leben; finanzielle Verpflichtungen, die das Vereinigte Königreich als Mitgliedstaat eingegangen ist; Grenzfragen (vor allem bezüglich der Grenze zwischen dem Vereinigten Königreich und Irland); Sitz von EU-Agenturen; internationale Verpflichtungen, die das Vereinigte Königreich als EU-Mitgliedstaat eingegangen ist (zum Beispiel das Pariser Klimaabkommen)

Eckpunkte des Abkommens:

Übergangsphase bis 2020: UK bleibt in Binnenmarkt und Zollunion; UK bindet sich langfristig an die Mindeststandards in der EU im Arbeits-, Sozial und Umweltrecht und bei den EU-Beihilferegeln. Für Irland ist ein „Backstop“ vereinbart worden, eine Art Auffangregelung, um Grenzkontrollen an der inneririschen Grenze zu vermeiden. Dies beinhaltet eine Zollunion zwischen EU und dem Vereinigten Königreich. Bei Gibraltar darf Spanien direkt mit UK verhandeln. Die Fischfangrechte in britischen Gewässern bleiben erhalten.

Eckpunkte des Vertrags über das künftige Verhältnis:

Man will Handel miteinander treiben und wird dies regeln, um es möglichst reibungslos zu gestalten (Anlehnung an Verfahren der EU mit Norwegen z.B.); enge Zusammenarbeit bei Sicherheitspolitik, Datenschutz, Klimaschutz, Luftverkehr; Sicherung des Zugangs zu den Fischereirechten.

29. November 2018. Michel Barnier vor dem EU-Parlament:

… die Europäische Union wollte nicht, dass der Brexit stattfindet. Bislang konnte mir niemand den Mehrwert von Brexit nachweisen, aber wir respektieren das demokratische und souveräne Votum der britischen Bürger, und wir werden, wie von der Regierung gefordert, den Prozess für einen geordneten Rückzug einleiten.

Diese beiden am Sonntag vereinbarten Dokumente begrenzen einfach die negativen Folgen des Brexits für beide Seiten, insbesondere für die 27 Mitgliedstaaten der Union. Die Rücknahmevereinbarung bringt Rechtssicherheit für all jene Menschen, Unternehmen und Regionen, die über die Folgen der britischen Entscheidung, die Europäische Union zu verlassen, besorgt sind.

… ein persönliches Wort des Dankes an alle Mitglieder der Brexit-Lenkungsgruppe zu richten: Danuta Hübner, Elmar Brok, Roberto Gualtieri, Gabriele Zimmer, Philippe Lamberts, die diese Verhandlungen gemeinsam mit ihren Teams verfolgt haben, denen ich Tag für Tag in der Brexit-Lenkungsgruppe danke … da ich weiß, dass wir noch nicht am Ende des Weges sind, der schwierig bleiben wird.“

Gewerkschaftsverband TUC zum Brexit

„Die Zeit läuft ab und ein Ausscheiden aus der EU wäre eine absolute Katastrophe für die Menschen, die wir vertreten“, so die TUC-Vorsitzende Frances O’Grady.

„Wir sprechen von alltäglichen Schutzmaßnahmen, die für die Arbeitnehmer wirklich wichtig sind, wie bezahlten Urlaub, Rechte für Teilzeitbeschäftigte, Freistellung für berufstätige Mütter und Väter, gleiches Entgelt für Frauen und Begrenzung der Arbeitszeiten. Diese Rechte wurden von Gewerkschaftern über die EU gewonnen, und wir waren uns einig, dass der Austritt aus der EU sie nicht gefährden darf. Und darauf aufbauend brauchen die Arbeitnehmer eine langfristige, verbindliche Garantie, dass die Rechte im Vereinigten Königreich mit denen in ganz Europa Schritt halten. Aber der Deal der Regierung kommt nicht annähernd an diesen Test heran. Sowohl in den Vorschlägen für die Übergangszeit als auch in unseren künftigen Beziehungen zur EU – und ob wir nun mit dem Backstop oder einem Freihandelsabkommen enden – sind unsere Rechte wirklich gefährdet.

Der Trades Union Congress (TUC) ist ein gewerkschaftlicher Dachverband in Vereinigtes Königreich. Er vereint 65 Gewerkschaften mit ca. 6,5 Millionen Mitgliedern.

Labour und Jeremy Corbyn

Mit „leuchtend rotem Wahlprogramm“ hat Labour 2017 das beste Wahlergebnis seit 16 Jahren eingefahren. Derzeit hat Labour 540 000 Parteimitglieder, das sind dreimal so viele wie 2014. Labour will die privatisierten Unternehmen wie Eisenbahnverkehr, Post und Wasserversorgung wieder unter staatliche Kontrolle bringen. „Er will große Unternehmen dazu verpflichten, ein Drittel der Sitze in ihren Verwaltungsräten Arbeitnehmervertretern zu überlassen“, Studiengebühren sollen abgeschafft werden. In Labour gibt es zwei Strömungen, was die Einschätzung der EU anbelangt: für die einen (Corbyn gehört dazu) ist es ein „neoliberales Projekt zum Nachteil der europäischen Arbeiterklasse“; auf der anderen Seite viele proeuropäische junge Mitglieder, die Labour in den letzten Jahren gewonnen hatte, die den Brexit als historischen Fehler sehen. Labour selbst will gegen den Deal stimmen, der bedeuten würde, dass es einen geregelten britischen EU-Austrittmit Übergangsregelungen für die Wirtschaft im März 2019 geben wird … Sollte May vom Parlament das Misstrauen ausgesprochen werden, hat sie zwei Wochen Zeit, doch noch eine Vertrauensfrage zu gewinnen. Scheitert das, gibt es eine Neuwahl des Unterhauses.“ (Zitiert nach Handelsblatt vom 22.12.2018)

Reaktionen auf die Aussicht, dass es keinen geordneten Austritt gibt:

Große Firmen wie Airbus oder BMW werden Lieferengpässe haben – es wird schon über Luftbrücken mit Roh- und Zwischenprodukten für die Endproduktion z.B. der Austin Minis, die in der Nähe von Oxford produziert werden, nachgedacht; Handelsketten wie Sainsbury, die eher ein zweites Referendum wollen, befürchten, dass die Regale leergefegt wären; der Nachschub an Medikamenten wäre gefährdet; ein Sprecher des Polizistenbundes von England und Wales meinte: „Es gibt wirkliche Bedenken, dass es zu Ausschreitungen kommt, wenn die die Leute keine Nahrung kaufen können oder kein Insulin bekommen.“ Die Aktien der Royal Bank of Scotland (RBS), Barclays oder Lloyds fallen; Probleme bei der Zollabfertigung z.B. kilometerlange Lastwagenstaus in den großen Seehäfen wie Dover sind unüberschaubar.

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Zeittafel

23. Juni 2016 Referendum im Vereinigten Königreich (46,5 Mio. Wahlberechtigte,
51,9 % für den Brexit, 72,2 % Wahlbeteiligung)

29. März 2017 Großbritannien erklärt den EU-Austritt

19. Juni 2017 Beginn der Verhandlungen GB – EU

23. März 2018 Vereinbarung über Übergangsperiode

14. Oktober 2018 Verhandlungen ausgesetzt

17./18. Oktober 2018 EU-Gipfel in Salzburg

25. November 2018 Sondergipfel des Europäischen Rates

Szenario 1: Das britische Unterhaus stimmt im Dezember dem aktuellen Abkommen zu und das britische Parlament stimmt im Frühjahr 2019 dem Gesetz zum EU-Austritt zu.

11. Dezember 2018 Zustimmung im britischen Unterhaus

Januar/Februar 2019 1. Gesetz zum EU-Austritt wird ins britische Parlament eingebracht und erhält Zustimmung
2. Abstimmung im Europaparlament (einfache Mehrheit zählt)
3. Abstimmung im Ministerrat (20 der 27 Mitgliedsstaaten müssen zustimmen)

29. März 2019 Offizielles Austrittsdatum

23. bis 26. Mai 2019 Wahlen zum Europäischen Parlament

31. Dezember 2020 Ende der jetzt vereinbarten Übergangsphase (im Juli 2020 kann über eine Verlängerung entschieden werden)

Nach 2020/2022 „Backstop“ (siehe Erläuterungen)

Szenario 2: Das britische Unterhaus lehnt im Dezember das aktuelle Abkommen ab, legt einen neuen Vorschlag vor und das britische Parlament stimmt im Frühjahr 2019 dann Gesetz zum EU-Austritt zu.

11. Dezember 2018 Ablehnung im britischen Unterhaus

binnen drei Wochen Die britische Regierung muss einen neuen Vorschlag präsentieren

29. März 2019 Offizielles Austrittsdatum

Szenario 3: Das britische Parlament lehnt im Frühjahr 2019 das Gesetz zum EU-Austritt ab.

Januar/Februar 2019 Gesetz zum EU-Austritt wird ins britische Parlament eingebracht und wird abgelehnt.

… Optionen: Entweder Neuverhandlungen
oder ein zweites Brexit-Referendum
oder Neuwahlen
oder No-Deal-Brexit zum 29. März 2019

Abb. (PDF): Grafik zum Zeitverlauf

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Der 1957 in Hamburg geborene Zeichner und Buchillustrator Axel Scheffler lebt in London und ist erklärter Brexit-Gegner von Anfang an. Jetzt hat er 45 Kollegen in einem Projekt zusammengeführt, die mit Zeichnungen und kurzen Texten ihrer Sicht auf den Austritt des Landes aus der EU Ausdruck verleihen. Zu empfehlen ist es sowohl wegen der teils unerwarteten frischen Gedanken, vor allem aber auch wegen der kleinen Bilderkunstwerke. „Sind wir immer noch ‚In Vielfalt vereint‘? 45 Künstler aus ganz Europa erzählen von der gemeinsamen Vergangenheit der Europäischen Union und unserer unsicheren Zukunft. Von Brexit-Bienen bis hin zu Springbullen ist Drawing Europe Together eine einzigartige Sammlung, die die europäische Gemeinschaft darstellt … mit oder ohne Großbritannien.“ Text von der Verlagsseite.

Buchtitel: Drawing Europe Together – Forty-five Illustrators. One Europe

Abb. (PDF): Cover