Aus Politische Berichte Nr. 12/2018, S.06 InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

Gelbe Warnwesten: eine heftige politische Krise in Frankreich

Matthias Paykowski. Karlsruhe

Seit Mitte November halten in ganz Frankreich Blockadeaktionen und Demonstrationen der sogenannten „Gilets jaunes“ an. Name und Erkennungszeichen sind gelbe Warnwesten, die jeder Autofahrer verpflichtet ist, im Fahrzeug mitzuführen. Blockiert werden u.a. Mautstationen und Autobahnen, die Auslieferung von Kraftstoff aus Raffinerien, aber auch gewöhnliche Straßensperren gehören zum Baukasten. An einem ersten Aktionstag am 17. November beteiligten sich landesweit 290 000 Menschen an etwa 3000 verschiedenen Orten. Seitdem nimmt die Beteiligung wieder ab, die Härte der Auseinandersetzung aber umgekehrt zu. Die Organisatoren wenden sich gegen die Anhebung der Steuer auf Kraftstoffe, überhaupt die Erhöhung der Benzin- und insbesondere der Dieselpreise. [1] Eine Petition im Internet [2] zur Senkung der Kraftstoffpreise an den Tankstellen wurde bisher (Stand 2.12.18) 1, 1-millionenmal geteilt. In einer Petition fordern sie verschiedene finanzielle Maßnahmen und Erleichterungen. [3]

Internetmedien spielen bei Kommunikation und Mobilisierung eine gewichtige Rolle. Le Pen auf der Rechten (RN) und Wauquiez (LR) haben Unterstützung erklärt, Mélenchons La France Insoumise ebenfalls. An einer Beteiligung von z.B. Gewerkschaften scheint seitens der Organisatoren kein größeres Interesse zu bestehen. Die Gewerkschaften verhalten sich auch eher zurückhaltend und fordern von der Regierung, dass sie sich einem sozialen Dialog mit den verlässlichen und bekannten Sozialpartnern öffnet.

Die komfortable Mehrheit der Regierungspartei LREM lässt der Opposition in der Nationalversammlung kaum Möglichkeiten zum Handeln; die Gewerkschaften konnten in den Verhandlungen zur Arbeitsgesetzgebung und Bahnreform dem Regierungsprogramm wenig entgegensetzen und waren schlussendlich wenig erfolgreich. Diese wichtigen Teilnehmer in den gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen sind aktuell mehr oder weniger ausgeschaltet, zumindest ihre Bedeutung nicht nur in der Wahrnehmung der öffentlichen Meinung geschmälert. Sind Gilets jaunes der Versuch diese Lücke zu schließen und sich etwa zu einem neuen Zusammenschluss der oder in der Zivilgesellschaft zu entwickeln? Können sie die Regierung in den Diskurs zwingen, gar die Rücknahme der Maßnahmen erreichen? Nach den schweren Auseinandersetzungen am 1. Dezember in Paris hat Macron die Bereitschaft zum Dialog erklärt (Stand: 2.12.18). Man wird also miteinander sprechen.

Oder bestätigen sich Anhaltspunkte und Befürchtungen, dass sich eine rechte Bewegung formiert, ein Sammelbecken französischer Wutbürger: „Nous sommes le peuple“. (Wir sind das Volk) mit ausgeprägtem Instinkt gegen Die da Oben, Eliten, politisches System? Der Soziologe Benoît Coquard verortet die „gelben Westen in der unteren rechten Zone des Sozialraums, wenn wir ein Bourdieusches Leseraster nehmen, d. h. von der Arbeiterklasse bis zur Mittelschicht mit eher geringer Qualifikation und Ausübung von Handwerk. Es sind Menschen mit ähnlichem Geschmack, die täglich Seite an Seite leben, in ihren Weltbildern übereinstimmen. Soziale Annäherungen sind nicht auf Klassen ‚auf dem Papier‘ (um wie Bourdieu zu sprechen) reduzierbar, sondern darauf, Positionen im Raum der Lebensstile zu schließen.“ [4]

Deutliche Hinweise wachsender bzw. gewachsener Verwerfungen und Differenz bei Lebensverhältnissen und Lebensstilen zwischen Stadt–Land; Metropole–Peripherie gab es immer wieder. In dieser Differenz sucht sich auch Le Pens Rassemblement National RN einzunisten! Der französische Geograph Christophe Guilluy konstatierte: „Mit zunehmender Distanz zum nächsten Bahnhof steigt die Bereitschaft, Le Pen zu wählen“, und dieses Votum habe mehr mit dem fehlenden Bahnhof als mit Fremdenfeindlichkeit und Faschismus zu tun.

Die Bemühungen seit den 80er Jahren – beginnend mit Mitterand – um Regionalisierung und Dezentralisierung hat zur vorteilhaften Entwicklung vieler Großstädte und Räume wie Lyon, Marseille, Bordeaux, Strasbourg geführt und ihre Entwicklung hin zu Metropolregionen gefördert. Die Verbindung mit dem TGV durch das Hochgeschwindigkeitsnetz der Bahn SNCF hat Prosperität und Synergie in und zwischen diesen Regionen gefördert, aber gleichzeitig wurden Landstriche und Peripherien dazwischen abgehängt. In diesen Regionen ist das Auto lebenswichtiger Bestandteil und Voraussetzung der Reproduktion.

Anmerkungen und Quellen:

(1) Das Verhältnis zwischen Diesel und Benzin im Steuersystem wird anders gewichtet. Seit Anfang der 2000er Jahre haben die französischen Regierungen aus Umwelt-, Kosten- und Verbrauchsgründen massiv auf Dieselantrieb und -kraftstoff gesetzt, die PKW-Hersteller sich entsprechend aufgestellt. 2017 machte der Dieselkraftstoff fast 80% der in Frankreich verkauften Kraftstoffmengen aus, aber erstmals seit 2000 sank der Marktanteil von Diesel-Autos in Frankreich unter 50 Prozent. 2016 waren noch mehr als 52 Prozent der Neuwagen in Frankreich Diesel-Fahrzeuge, 2012 mehr als 70 Prozent.

(2) Petition auf https://www.change.org/p/pour-une-baisse-des-prix-à-la-pompe-essence-diesel; (3) einige Beispiele aus der Petition: „den Verkauf von Dieselfahrzeugen einstellen“, dann folgend den Verkauf von Benzin getriebenen Fahrzeugen, „um Raum für Elektro- und Hybridantriebe zu schaffen“; Rücknahmeangebote; „die überhöhten Preise für Elektrofahrzeuge regulieren, um den Erwerb durch unsere Bürger zu erleichtern“; den Unternehmen das Einführen von Home-Office erleichtern, „das den Mitarbeitern ermöglicht, von zu Hause aus zu arbeiten, um die Mobilität der Arbeitnehmer einzuschränken“; „Gewährung von Subventionen und anderen Hilfen für Unternehmen, damit sie sich in den Vororten und Provinzen niederlassen können, um die Verkehrsüberlastung in Großstädten zu verringern und lange Autofahrten zu begrenzen.“

(4) http://www.contretemps.eu/sociologie-gilets-jaunes/; (5) div. Französische Tagespresse: Le Monde, Figaro; FAZ.

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